Games | Game Design | Game Studies. Gundolf S. Freyermuth
When information is put at play, game-like experiences replace linear media.«5 Games würden daher zum wichtigsten Medium des 21., des ludischen Jahrhunderts: »Increasingly, the ways that people spend their leisure time and consume art, design, and entertainment will be games – or experiences very much like games.«6
Verstehen lässt sich Zimmermans »ludisches Manifest« als konzise Darstellung von Perspektiven und Ansichten, die in der Gegenwartskultur kursieren. Denn in der Tat vollzieht sich vor unseren Augen ein nachhaltiger medialer Umbruch, der insbesondere die audiovisuellen Ausdrucks- und Darstellungsformen betrifft. Deren Wandel resultiert – und wie schon zweimal zuvor in der Neuzeit – aus technologischem Fortschritt:
Die Mechanisierung brachte zwischen Renaissance und Aufklärung das Illusionstheater und am Ende die moderne Guckkastenbühne hervor, auf- und ausgerüstet mit den jeweils modernsten technischen Mitteln. Beispielsweise kamen Apparaturen und Verfahren, die im Schiffsbau entwickelt wurden, um schwerere Gegenstände schnell zu bewegen, binnen kurzem im Theater zum Transport von Kulissen wie Schauspielern zum Einsatz. Dank seiner mechanischen Mittel, Raum und Zeit zu manipulieren, wurden das Illusionstheater – die Bretter, die die Welt bedeuteten7 – und seine vorrangige Form, das Drama, zur genuinen audiovisuellen Erzählform der vorindustriellen Epoche.
Mit dem nächsten technologischen Schub, dem industriellen, entstanden zwischen Aufklärung und Postmoderne erst die Fotografie, dann das auf ihr technisch basierende Kino und schließlich das Fernsehen. Mittels gespeicherter, montierter und zum Laufen gebrachter Bilder und Töne ließen sich Raum und Zeit wie nie zuvor manipulieren und damit audiovisuell gänzlich andere Geschichten erzählen. Diese kategoriale Leistungssteigerung gegenüber dem Theater – das Potential zu einer sukzessiven Episierung audiovisueller Darstellung – verdankten Kino und Fernsehen fortgeschrittenen industriellen Aufzeichnungs-, Speicherungs-, Bearbeitungs-, Distributions- und Übertragungstechniken. Im Medium linearer Audiovisualität formten sich denn auch mit dem Spielfilm und der Fernsehserie die genuinen und dominierenden Erzählformen industrieller Kultur. Seit dem frühen 20. Jahrhunderts prägten so erst der stumme, dann der tönende Film und schließlich das Fernsehen die audiovisuelle Konstruktion von Realität und deren Wahrnehmung.
Vor diesem medienhistorischen Hintergrund kann es nicht überraschen, dass sich auch mit dem aktuellen technologischen Schub, der Digitalisierung, unmittelbare mediale und ästhetische Konsequenzen verbinden. Digitale Software erlaubt, Texte wie Töne, stehende wie laufende Bilder zu generieren und aufzuzeichnen, zu speichern und zu bearbeiten, zu distribuieren und interaktiv zu nutzen. Dabei unterscheidet sich Software als Produktionsmittel und Speichermedium durch zwei einzigartige Eigenschaften von allen analogen Medien. Zum einen ist Software transmedial. In ihr unifiziert sich die analoge Vielfalt spezifischer Medien und Werkzeuge – Papier und Schreibmaschine, Zelluloid, Kamera und Schneideraum, Vinyl, Magnetband, Mikrofon und Mischpult etc. – im Universalmedium gespeicherter Bits und der Softwareprogramme, mit denen sie sich bearbeiten lassen. Zum zweiten verfügt das digitale Transmedium über eine ›Flüssigkeit‹, die in Verbindung mit Feedback-Systemen weitgehend den Zeitpfeil aufhebt, der analoge Medialität charakterisiert.8 In dieser Qualität liegt die prinzipielle Interaktivität des Transmediums Software beschlossen.
Ästhetisch realisiert wird dieses Potential zu Transmedialität und Fluidität vor allem in digitalen Spielen. Einst gestaltete der Film die Erfahrungen industrieller Kultur und übte zugleich in sie ein – nicht zuletzt in die industrielle Arbeitswelt hierarchischer und linearer Prozesse. Kaum anders drücken sich heute in Games die Erfahrungen digitaler Kultur aus und kaum anders üben sie nun in eine postindustrielle Arbeitswelt ein, die von Wissensarbeit, d.h. vernetzter Manipulation digitaler Symbole geprägt wird. An die Stelle der Maschine als dominierender Metapher industrieller Kultur tritt das Spiel als Metapher digitaler Kultur.9 Die Gesellschaft, meinte Niklas Luhmann, schaffe sich Medien zur Selbstbeobachtung.10 Games sind das jüngste Mittel – Medium – solcher Realitätskonstruktion und damit Weltwahrnehmung und Selbsterkenntnis. Besser als lineare Audiovisionen erlauben sie, wie Noah Wardrop-Fruin schreibt, »to understand our evolving society, in which (often hidden) software models structure much of how we live now.«11
Im interaktiven Spiegel digitaler Spiele erfahren wir uns und suchen zu verstehen, was lebensweltlich im Begriff ist zu entstehen – eine digitale Gesellschaft und Kultur, die von den Gesellschaften und der industriellen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts so verschieden sein dürfte, wie es diese einst von denen der vorindustriellen Epoche waren.
Der erste Teil dieser Einführung (I Games) beschreibt, wie digitale Spiele aus ihren audiovisuell wie narrativ beschränkten Anfängen um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu dem gleichermaßen narrativen wie hyperrealistischen Medium wurden, das heute mit Film und Fernsehen zu konkurrieren vermag. Den Ausgangspunkt bildet eine Analyse der vielfältigen Versuche, analoge wie digitale Spiele zu definieren (I-1 Was ist ein Spiel? Systematische vs. historische Ansätze). Der Überblick mündet in die Einsicht, dass sich wie alle Medien und Künste auch digitale Spiele nur in ihrer historischen Entwicklung treffend begreifen lassen. Das zweite Kapitel skizziert daher die Geschichte des Spiels im Kontext der neuzeitlichen Entwicklung der Medien und Künste (I-2 Spiele in der Neuzeit: Eine kurze Mediengeschichte). Der weitere Fokus liegt dann auf den drei künstlerisch-technischen Schüben, in denen sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts digitale Spiele entwickelten (I-3 Prozedurale Wende, seit den 1950er Jahren; I-4 Hyperepische Wende, seit den 1970er Jahren; I-5 Hyperrealistische Wende, seit den 1990er Jahren). Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung charakterisiert digitale Spiele ihre Andersheit sowohl im Verhältnis zu analogen Spielen wie zu linearen Audiovisionen. Sie suche ich im sechsten Kapitel zu bestimmen (I-6 Die doppelte Alterität digitaler Spiele). Eine weitere Wende, die sich seit einigen Jahren abzeichnet, führt zur Durchsetzung von Natural User Interfaces (NUIs) und ›natürlichen‹ Interaktionsweisen mit virtuellen Welten und Non-Player-Charakteren (NPCs). Dieser Wandel dürfte die kategoriale Andersheit digitaler Spiele noch verstärken (I-7 Ausblick: Hyperimmersive Wende?).
In ihrer Entwicklung fiel dem Verhältnis zum Spielfilm seit den 1980er Jahren eine besondere Bedeutung zu. Seitdem stehen beide audiovisuellen Medien in einem engen technischen, ökonomischen und ästhetischen Austausch und zugleich auch in Konkurrenz um Käufer wie Talente. Nicht wenige Künstler und Theoretiker haben gar ein Verschmelzen beider audiovisuellen Medien ins Auge gefasst. Das Intermezzo: Spiel // Film zieht zunächst eine Bilanz (Intermezzo-1 Das Verhältnis von Spiel und Film), um dann im Rückblick auf die früheren audiovisuellen Rivalitäten zwischen Theater und Film sowie Film und Fernsehen zu einer Einschätzung zu kommen, nach welchem der beiden historischen Modelle sich das Verhältnis von Spiel und Film zueinander stabilisieren könnte (Intermezzo-2 Audiovisuelle Rivalitäten). Grundlegend für die ästhetische Beziehung zwischen den audiovisuellen Medien generell und zwischen Spielen und Filmen im besonderen erweist sich dabei ihre höchst unterschiedliche Befähigung, in der Darstellung narrativer Verläufe Raum und Zeit zu manipulieren (Intermezzo-3 Modi audiovisuellen Erzählens).
SPIELE MACHEN – GAME DESIGN
Wer heute digitale Spiele entwickelt, ist historisch privilegiert: Ihr und ihm bieten sich wie nur wenigen Generationen zuvor die Gelegenheit, in der Frühzeit dieses radikal neuen Mediums entscheidende Weichen zu stellen und wichtige Anfänge aktiv mitzugestalten. Zu diesen Chancen trägt wesentlich bei, dass kein anderes Medium seit der Wende zum 21. Jahrhundert eine vergleichbar rasante Entwicklung durchmachte – sowohl in ökonomischer wie in technisch-ästhetischer Hinsicht.
2013 betrugen die weltweiten Umsatzzahlen digitaler Spiele rund 75 Milliarden Dollar.12