Kein Himmel über Berlin?. Thomas Brose
verbreitet: Alles versagt; es gibt nichts, das nicht fragwürdig wäre; nichts Eigentliches bewährt sich; es ist ein endloser Wirbel, der in gegenseitigem Betrügen durch Ideologien seinen Bestand hat. Das Bewusstsein des Zeitalters löst sich von jedem Sein und beschäftigt sich mit sich selbst. Wer so denkt, fühlt sich zugleich selbst als nichts. Sein Bewusstsein des Endes ist zugleich Nichtigkeitsbewusstsein seines eigenen Wesens.“11
Um diesem tief im Untergrund wirksamen Bewusstsein eigener Nichtigkeit etwas entgegenzusetzen, sollte auf dem Boden der deutschen Hauptstadt Germania die bombastische Kapitale eines „Tausendjährigen Reiches“, imposanter als Paris und Rom, entstehen. „Nicht ,Werke für die Ewigkeit‘ vermochte Hitler im Vorkriegs-Berlin zu erkennen, sondern lediglich Bauwerke ,für den augenblicklichen Bedarf‘. Hier ist der Urantrieb seiner Bausucht zu begreifen, die später in Albert Speer ihr williges und ehrgeiziges Werkzeug findet: die Fixierung in Stein als sinnfälliger Ausdruck eines ,Tausendjährigen Reiches‘ von eschatologischer Kraft.“12 Der verhinderte Architekt Hitler entwarf dazu mit Speer, seinem Rüstungsminister und Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, gigantomanische Zukunftspläne mit dem größten Versammlungsort auf dem Globus. „Die größte bis dahin erdachte Versammlungshalle der Welt“, beschreibt Speer Hitlers Pläne für die „Große Halle des Volkes“, „bestand aus einem Raum, der 150.000 bis 180.000 stehende Zuhörer fassen konnte. Im Grunde handelte es sich […] um einen Kultraum, der im Lauf der Jahrhunderte durch Tradition und Ehrwürdigkeit eine ähnliche Bedeutung gewinnen sollte wie St. Peter in Rom für die katholische Christenheit. Ohne einen solchen kultischen Hintergrund wäre der Aufwand für Hitlers Zentralbau sinnlos und unverständlich gewesen.“13 Die „Große Halle“ sowie ein sieben Kilometer langer und 120 Meter breiter Boulevard mit einem gewaltigen Triumphbogen von 170 Metern Breite und 117 Metern Höhe sollten – da, wo sich in mittelalterlichen Städten die Kathedralen befanden – zum neuen Zentrum von „Germania“ werden: das „image des civilisations totalitaires“. Im Mai 1945 wurde der zukünftige Bauplatz der „Welthauptstadt“ von der Roten Armee erobert und von den Alliierten, die zu vier Besatzungsmächten wurden, in Sektoren aufgeteilt.
Aber schon bald fand das Welttheater des Kalten Krieges in Berlin seine beste Bühne. Die deutsche Metropole wurde gleich auf doppelte Weise neu erfunden: als sozialistische Musterstadt und als Schaufenster der freien Welt. „Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!“, rief der Regierende Bürgermeister von Berlin am 9. September 1948 Hunderttausenden in der blockierten Halbstadt zu. „Es gibt nur eine Möglichkeit für uns alle: gemeinsam so lange zusammenzustehen, bis dieser Kampf gewonnen ist, bis dieser Kampf endlich durch den Sieg über die Feinde, durch den Sieg über die Macht der Finsternis besiegelt ist.“14 Ernst Reuters religiös konnotierte Botschaft an die Welt macht deutlich: Die geteilte Hauptstadt bleibt eine himmelschreiende Wunde, ein städtischer Raum, aufgeladen mit symbolischer Bedeutung. Nur hier konnte sich darum ein so elektrisierender Augenblick ereignen, wie ihn die weltberühmte Freiheitsrede markiert. Die unübersehbare Menschenmenge vor der Rednertribüne bei der Ruine des Reichstagsgebäudes ist daher zu einer Ikone kollektiver Erinnerung geworden. Ein unvergesslicher Erinnerungsort aus der Frühgeschichte des Kalten Krieges: Als Reuter auf dem Höhepunkt der sowjetischen Blockade der Westsektoren ans Mikrofon trat, schauten tatsächlich die Völker der Erde auf diese Stadt; der Funke sprang über; seine Worte erzeugten ein Echo, das weltweit Widerhall fand; die sowjetische Blockade wurde schließlich aufgehoben, und die Halbstadt West-Berlin begann zu florieren.
Dem Lebenskünstler, Lyriker und Maler Günter Bruno Fuchs (1928 – 1977) gelingt in seinem Gedicht Berlin15 aus dem Jahr 1957 eine beeindruckend-bedrohliche Momentaufnahme der Atmosphäre im Nachkriegsberlin. Die Viersektorenstadt gilt ihm als „Würfelbrett und Jagdrevier“ der Besatzungsmächte. „Der Bär ist noch das Wappentier“, aber die Zukunft erscheint ungewiss, wobei Leben und Sterben („Webers Trauermagazin“) weiter ihren Gang gehen – und die Spree beide Halbstädte heilsam-„bettelnd“ verbindet.
Berlin
Drei Strophen Sonntagssouvenir:
Der Himmel färbt die Dächer leise.
Die Stadt, ein Würfelbrett und Jagdrevier,
summt ihre viergeteilte Weise.
Der Bär ist noch das Wappentier.
Der Hund des Kohlenhändlers bellt.
Nachmittagsstunde. Straßenstille.
Im Rinnstein singt der Zeichner Werner Heldt
den Nekrolog von Peter Hille
auf eine unerlöste Welt.
Vom höchsten Charité-Kamin
fällt eine Zeile Rauch herab
auf die Fassade: Webers Trauermagazin –
(Tritt im Zylinder an des Liebsten Grab!)
Die Spree geht bettelnd durch Berlin.
„Solange eine S-Bahn-Fahrkarte genügte, um ins westliche Deutschland zu gelangen, schien für viele Deutsche im Osten die deutsche Frage noch offen zu sein; es schien nicht alles entschieden und noch Hilfe aus dem Westen möglich. Der Mauerbau zerstörte die Einheitshoffnungen in der DDR, nicht mit einem Mal, aber allmählich. […] Das ,Schaufenster des Westens‘ war vernagelt, die ,Speerspitze der Freiheit‘ stumpf, die ,Brücke‘ zwischen den Deutschen abgebrochen, das ,Symbol der Einheit‘ zum Monument der Trennung geworden.“16 Spätestens mit dem Mauerbau 1961 wurde das Brandenburger Tor zum symbolisch nicht zu überbietenden Gedächtnisort globaler Teilung: Berlin, die einzig geteilte Stadt der Erde mit einer später bis zu 4,10 m hohen und 16 cm starken, L-förmigen Betonplattenwand. Die mehrmals erneuerte Berliner Mauer hatte schließlich eine Gesamtlänge von 166 km, wobei 45,9 km auf den innerstädtischen Bereich entfielen, 120 km auf die Grenze zwischen dem Westteil der Stadt und der DDR. Die einstige Weltmetropole vereinigte damit in sich die beiden Halbstädte (West) mit 2,2 Mio. und (Ost) mit 1,2 Mio. Menschen.
„Berlin hat bis heute keinen Frieden gefunden. Es ist nie zur Normalität zurückgekehrt. Es führt seit fast fünfzig Jahren ein Inseldasein zwischen den Fronten des alten Krieges, ein Niemands-Land, das noch dazu seit bald 30 Jahren durch eine Mauer geteilt ist: ein geteiltes Bruchstück. Welche Stadt kann das aushalten? […] Aus der extrovertierten Weltmetropole wurde die introvertierte Insel, in der die Spannungselemente wie unter Laborbedingungen aufeinanderprallen. Linke und Rechte, Alternative und Konservative, Ausländerproblem und Studentenprotest – alles tritt in Berlin unverhüllter und schärfer zutage. Die deutschen Verhältnisse finden in Berlin ihren deutlichsten Ausdruck, einschließlich des Besatzungsregimes, unter dem die Stadt fast ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende immer noch lebt“, schreibt Heinrich Jaenecke im Sommer 1989 vor allem mit Blick auf den Westteil der Stadt.17 Dass Berlin tatsächlich neuralgischer Punkt globaler Konflikte und intellektuelles Zentrum der Ost-West-Konfrontation war, bringt Boris Groys zum Ausdruck: Viele Intellektuelle, so der Philosoph, „waren stark elektrisiert, waren enerviert, involviert, alle hatten das Empfinden, Medium der Weltpolitik zu sein, an einem Ort zu leben, der mit der ganzen Welt nicht nur äußerlich, sondern innerlich verbunden ist. Durch ihre Körper und ihr Nervensystem waren sie in Netze eingebunden; sie empfanden körperlich nach, wie die Welt sich fühlte – das hat mir gefallen.“18
An keinem anderen Ort auf dem Globus waren daher Glücksmomente und Freudentränen beim Fall des Eisernen Vorhangs heftiger als hier. „Die Bilder von den jubelnden, Sekt versprühenden, ohnmächtigen Wasserwerfern standhaltenden Menschen auf der Mauer sind zum Zeichen für das Ende einer leidvollen Epoche, ja einer ganzen Jahrhundertgeschichte geworden. Diese ökumenische Bedeutung wird das Brandenburger Tor behalten; in der Nacht vom 9./10. November 1989 wurde es umgetauft.“19
Dass sich Geschichte nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum ereignet, darauf hat Karl Schlögel aufmerksam gemacht. Immer wieder kommt der Historiker auf die Friedliche Revolution