Kein Himmel über Berlin?. Thomas Brose

Kein Himmel über Berlin? - Thomas Brose


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die gegenwärtige Lage andauert. Wenn du in irgendeiner Weise nach Westen abgeschoben würdest, hätte dies für den Ostteil des Bistums und die Kirche in der DDR unausdenkbar ernste Auswirkungen.“25

      Die DDR gestattete Bengsch jedoch, seine im Westteil liegenden Gemeinden zunächst an drei Tagen im Monat zu besuchen. Im Lauf zäher Verhandlungen wurde diese Erlaubnis später auf dreißig Tage im Quartal ausgedehnt. „Auch wenn die DDR die monatlichen Westberlin-Tage erwiesenermaßen erpresserisch handhabte, muss die Ost-West-Zugehörigkeit des Bischofs zum kirchlichen Kapital der Katholiken zu beiden Seiten der Mauer gerechnet werden. Der Ausbau Westberlins zum ,Schaufenster des Westens‘ etwa kam finanziell auch der Kirche Berlins zugute. Ein reges kirchliches Leben, vermittelt durch kirchliche Medien, sollte Ostberliner und ostdeutsche Katholiken ermutigen und die Atheisierungskampagnen der DDR entschärfen. In der Kirche war sogar von der ,Mission Westberlins‘ die Rede.“26

      In den Zeiten des Kalten Krieges war es tatsächlich oft einfacher, „von Ost-Berlin nach Pjöngjang zu reisen als nach West-Berlin, obwohl es sich um ein und dieselbe Stadt handelte. Die alten Nachbarschaften von Wien und Budapest, von Sankt Petersburg und Helsinki, von Prag und Nürnberg galten nicht mehr, seit die einen im Bereich des Warschauer Paktes lagen und die anderen im Bereich der Nato.“27 Das alles hat sich vor 25 Jahren grundsätzlich geändert. Berliner reagierten in allen Lebensbereichen besonders sensibel auf politische Vorzeichen am Himmel über der Hauptstadt. Aber wie weiter nach dem Wunder des 9. November 1989? Millionenstädte gab es viele auf dem Globus, aber nur ein geteiltes Berlin. Mit dem Mauerfall ging der Stadt mit einem Mal die Ausnahmestellung verloren. Wurde damit aus dem schwierigsten Bistum der Welt wieder eine ganz normale Diözese?

      Dass die einstige „Hauptstadt der DDR“ und die privilegierte Insel „West-Berlin“ keine Sonderrolle mehr spielen sollten, beobachteten manche in Ost und West mit großer Genugtuung. Aber schon bald machten sich Gegenkräfte bemerkbar: Nach der deutsch-deutschen Teilung redete alles vom Zusammenwachsen – und die Hauptstadt wurde plötzlich zur Zukunftswerkstatt und zum Prüfstein für das Deutsche Neuland.

      Dass so etwas „bei uns“ überhaupt möglich war – noch dazu mitten im Herzen der DDR –, erschien mir ganz außergewöhnlich. Denn die Sozialistische Schule, die mich zu einem Leben ohne Gott erziehen sollte, hatte mir bereits einige Lektionen erteilt. Darum nahm ich jene Ansammlung frommer Gegenstände, die sich in einem öffentlich zugänglichen Geschäft in der Nähe des S-Bahnhofs Marx-Engels-Platz darbot, nicht mehr mit kindlicher Selbstverständlichkeit hin: Kerzen, Kreuze, Rosenkränze und vor allen Dingen christliche Bücher waren in dem Laden direkt am Hackeschen Markt zu haben. War so etwas überhaupt erlaubt? Durfte man das hier außerhalb von Kirchen wirklich verkaufen?

      Meine Sorgen sind beim Blättern in einem Erstkommunionbuch zur Ruhe gekommen, aber selbst heute erscheinen sie mir nicht völlig unbegründet. Einen vergleichbaren öffentlichen Laden, der sich als katholische Buchhandlung entpuppte, hatte ich noch nie gesehen. An jenem Tag habe ich in der Schule des Lebens etwas Wichtiges dazugelernt: Die Welt war doch nicht so eindeutig in Schwarz und Weiß geteilt: in Religiös und Atheistisch, in einen privaten Bereich, in dem der Glaube einfach dazugehörte, und in einen schulischen, in dem ein sonntäglicher Kirchgang vom Lehrer mit Lachen und Spott bedacht wurde: „Religion ist was für alte und ungebildete Menschen, die es nicht schaffen, sich auf unsere neue Gesellschaft einzustellen.“

      Dagegen wusste ich plötzlich: Mitten in Berlin existiert ein kleines Reich, in dem ein anderer Geist regiert. Hier bildeten die Welt der Bücher und die Welt des Glaubens eine harmonische Einheit. Auf dem Heimweg in der S-Bahn, der mir sehr lang vorkam, habe ich mir über dieses erstaunliche Lese-Land Gedanken gemacht. Ich hatte genug Muße, mir den Namen des Buchladens einzuprägen. Ich fand, er passte gut: „Sonnenhaus Ziegler“.

      Dieser Besuch blieb nicht ohne Folgen. Wenn sich unsere Familie in größeren Abständen entschloss, aus dem Umland ins Berliner Zentrum zu fahren, um dort knappe, begehrte Güter und Gerätschaften zu kaufen, bat und bettelte ich, bis ein kurzer Abstecher zum „Sonnenhaus“ genehmigt wurde. Bei solchen Streifzügen wechselten dann nicht nur elektronische Geräte und seltene Südfrüchte den Besitzer, sondern auch Kerzen und christliche Bücher. Wenn ich heute mit dem Finger über meine Bücherregale fahre, finde ich noch einige Bände, die von solchen Tagestouren stammen. Dabei entdecke ich auch Titel aus dem St.-Benno-Verlag, die mir später meine ältere Schwester geschenkt hat und die dem damals Zwölf- oder Dreizehnjährigem ziemlich komisch vorkamen: Glaube – Gnosis – Griechischer Geist oder Theologisches Jahrbuch 1975, in dem mir, wie einige Anmerkungen mit Bleistift zeigen, ein Artikel über Die Unbrauchbarkeit Gottes in einer säkularisierten Welt zumindest kurzfristig Kopfzerbrechen bereitet hat.

      Bücher in totalitären Systemen – eine brisante Sache! Darum wurde die Verteilung dieser gefährlichen Güter vom staatlich organisierten Buchhandel genau reglementiert. Guter Lesestoff war knapp. Er gelangte zuerst in die Buchläden der NVA, der „Nationalen Volksarmee“, in die Regale sogenannter gesellschaftlicher Einrichtungen und Betriebe und schließlich in den Volksbuchhandel. Das katholische „Sonnenhaus“ musste sich ganz am Schluss der Leseschlange anstellen und darauf warten, was übrig blieb. Bestellungen beim „VD“, dem zentralisierten Vorankündigungsdienst, wurden oft ignoriert. Einen Vorteil aber hatte der Laden: Er durfte auch die Produktion kirchlicher Verlagshäuser, des Benno-Verlags in Leipzig und der Evangelischen Verlagsanstalt in Berlin, im Sortiment führen.

      Weil die „Sonnenhäusler“ aber ständig im gesamten Ostteil des Bistums – von der Insel Rügen bis hinauf nach Brandenburg – mit ihren Büchertischen unterwegs waren, wurden sie nicht wie eine private, sondern fast wie eine kirchliche Institution betrachtet. Sie konnten sich auf ihre treue Stammkundschaft in den Gemeinden verlassen. Natürlich fühlten sich auch Touristen vom unkonventionellen Charme des Ladens angezogen. So mischte sich in den engen Gängen zwischen Bücherstapeln meist ein buntes Publikum.

      Genau weiß ich nicht mehr, ob ich Zeuge dieses Dialogs war oder ob mir davon erzählt wurde. Jedenfalls ist er für das besondere Klima im „Sonnenhaus“ geradezu typisch: Ein Kunde fragt, wo ein soeben erschienener Band von Böll oder Frisch zu haben sei. Darauf Rudolf Ziegler: „Da müssen sie bloß zwei Stationen mit der S-Bahn fahren.“ „Also von hier aus bis zur Jannowitzbrücke?“ „Nee, andere Richtung.“ Jeder wusste natürlich, dass die nächste Station Friedrichstraße hieß und dass dort die Grenze zum Westen verlief. Es gab nicht gerade viele, die die Chuzpe aufbrachten, so zu reden. Überhaupt muss Rudolf Ziegler, der die Unabhängigkeit seines Bücherreichs lebenslang verteidigte, ein ungewöhnlicher Mann gewesen sein. Kaum 24 Jahr alt, eröffnete er 1925 mit großer Begeisterung für den Quickborn den katholischen „Buch- und Werkladen Sonnenhaus“.

      Ich würde einiges darum geben, um zu erfahren, was sich der Bücher-Patriarch dabei dachte, als er meiner fürsorglichen Schwester den Tipp gab, mir, dem fußballspielenden Tagedieb, einen Band mit Aufsätzen von Romano Guardini28 zu schenken. Später erfuhr ich, es soll öfter vorgekommen sein, dass der „Herr der Bücher“ seine Kundinnen und Kunden so beriet, dass sie den Laden mit Ausgaben von Autoren verließen, deren Namen sie vorher kaum kannten.

      Das schwesterliche Geschenk verschwand auf Jahre in einem Bücherregal. Lange blieb es dort ungelesen liegen. Es dauerte seine Zeit, ehe ich diese geheime Einladung endlich annahm: Schließlich begegnete mir Romano Guardini beim Lesen, versehen mit einem Gruß vom „Sonnenhaus Ziegler“. Ich entdeckte den Religionsphilosophen zu Beginn der Achtzigerjahre, als ich bereits selbst begonnen hatte, Theologie zu studieren. Das hat mein Leben verändert. Es wurde für mich zum Anruf, im Herbst 1989 mit katholischen jungen Leuten an die Humboldt-Universität zu ziehen und dort eine Forderung zu erheben, die zur Friedlichen Revolution passte: Wir wollen, dass es für Romano Guardini hier einen Neuanfang gibt.

      Eines Tages in den 1970er-Jahren – kurz nach der Entdeckung des katholischen Sonnenhauses – fand auch ich mich plötzlich in luftiger Höhe wieder: Dabei spürte ich ein mulmiges


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