Kein Himmel über Berlin?. Thomas Brose
eine ,Raumrevolution‘, die keinen Aspekt des Lebens unberührt gelassen hatte. 1989 war das Datum, das das Ende der Nachkriegszeit bezeichnete, die Berliner Mauer war der Ort, an dem sie zu Ende gegangen war. Unter den Augen der bald hoffnungsfrohen, bald verängstigten Zeitgenossen lief ein Lehrstück ab, um das andere Generationen sie beneidet haben würden. Sie wurden Augenzeugen, wie die Welt aus dem einen in einen anderen Zustand, aus dem Davor in ein Danach überging.“20 Tatsächlich ist Berlin seit 1991 wieder Regierungssitz. Angesichts der dramatischen Raum-Revolution wird aber zugleich klar: Die Metropole an der Spree ist mehr als eine große Stadt. Sie ist gesellschaftspolitischer Brennpunkt für ein ganzes Land und mehr: kulturelles Zentrum mitten in Europa. „Was die Stadt Berlin interessant macht“, erklärt der Religionsphilosoph Hans-Joachim Höhn, sei „ihre selbstauferlegte Nötigung, mit dem Sitz von Regierung und Parlament, nicht nur die ,Kapitale‘ des vereinten Deutschland zu sein, sondern ebenso als kulturelle Metropole möglichst rasch wieder jenen Weltruf zu erlangen, den sie einst in den Zwischenkriegsjahren des 20. Jahrhunderts besaß.“21
Was Räume und Orte angeht, die für den „christlichen Glauben“ besondere Relevanz besitzen, haben die beiden Kirchenhistoriker Christoph Markschies und Hubert Wolf eine Pionierleistung vollbracht. Das von ihnen herausgegebene Lese- und Studienwerk trägt den Titel Erinnerungsorte des Christentums22. Damit nehmen die bekannten Wissenschaftler den ganzen Orbis christianus in den Blick. Einleitend zu ihrem Sammelband bemerken die Forscher: Die Identitätsstiftung des Glaubens beruht ganz wesentlich auf „memoria“. Sie greifen damit das Konzept der „Erinnerungsorte“ und geistigen Kristallisationspunkte des französischen Historikers Pierre Nora auf, geben dem Ganzen aber eine spezifische Begründung. „Erinnerung ist nicht irgendeine periphere theologische Kategorie des Christentums. Im Gegenteil. Gedächtnis ist ein theologischer Zentralbegriff, denn als Offenbarungsreligion ist das Christentum eine Erinnerungsreligion.“23
Die beiden Theologen bieten eine beeindruckende Topografie des Glaubens. Dazu schicken sie vierzig Autoren ins Treffen, um das Terrain des Christentums sorgfältig zu vermessen. Bei dieser Kartierung entsteht das Panorama einer Erinnerungsreligion mit buchstäblichen und metaphorischen „Orten“. Keine Frage: Vor allem die sieben „Zentralorte“ mit Rom (Walter Kasper), Konstantinopel (Martin Tamcke), dem calvinistischen Genf (Jan Rohls) und lutherischen Wittenberg (Wolfgang Huber) vermitteln eine lebhafte Vorstellung davon, was es überhaupt heißt, Christ zu sein und eine konfessionelle Identität zu besitzen.
Aber anders, als die ambitionierte Einleitung in Aussicht stellt: nämlich – um es mit Friedrich Schleiermacher zu sagen – gerade den „Gebildeten unter den Verächtern der Religion“ eine Vorstellung davon zu vermitteln, was Glauben in der Gegenwart heißt, steht dieser „nachbarschaftliche“ Aspekt nicht im Vordergrund. Es scheint vielmehr, als würde zum Verstehen des Bandes bereits eine allgemeine „Christlichkeit“ als etwas „Normales“ vorausgesetzt. Davon ist aber immer weniger auszugehen. Ostdeutschland bietet dafür Anschauungsunterricht – fast 75 Prozent der dort lebenden Menschen gehören keiner Religion an. Wo jedoch – wie auch in Berlin – bald drei Viertel der Bevölkerung nicht mehr getauft sind, ist Christsein etwas Erklärungsbedürftiges und Besonderes. Ein genaueres Hinsehen, das die Existenz von Nichtglaubenden und anderen Religionen ins christliche Sprechen und Argumentieren einbezieht, erscheint daher unbedingt notwendig.
Wenn selbst Erinnerungsorte in Dresden und Leipzig in dem Sammelband als Chiffren für Kunst bzw. Kirchenmusik behandelt werden – warum ist dann die geistige, politische und theologisch-kirchliche Topografie von Berlin für Christsein in Deutschland ein Totalausfall? Dieser Band unternimmt den Versuch, diese Leerstelle zu füllen.
Kirche in Berlin: Spiegel der Zeitgeschichte
„Dieses Kreuz passte wirklich nur für Berlin“, erklärt mir Wolfgang Weider, als ich ihn auf sein erstes Brustkreuz anspreche. Er trug es ab 1982 als Berliner Weihbischof und wurde damit im gesamten Bistum bekannt. Weider: „Mir kam der Gedanke, etwas von der zerrissenen Situation unserer Stadt auf meinem Bischofskreuz darzustellen.“ Wer heute die Unterkirche von St. Hedwig besucht, findet dieses sprechende Erinnerungsstück, das von dem Künstler Hubert Kleemann aus Neu-Zittau gestaltet wurde, in der kleinen Domschatzkammer. Wie eine Dornenkorne sind da die Konturen der Stadt im Schnittpunkt des Kreuzes abgebildet – für mich ist das die kürzeste Predigt über eine ganze Epoche. „Dieses Kreuz mit dem Hinweis auf die Mauer und West-Berlin war in der damaligen politischen Situation für die ,roten Machthaber‘ natürlich eine Provokation. Ich wurde zwar nie darauf angesprochen, weiß aber heute, dass die Staatssicherheit dieses Symbol sehr wohl verstanden hat“, meint der Weihbischof emeritus nachdenklich.
Tatsächlich spiegelt das Schicksal der katholischen Kirche in der Hauptstadt gemeinsam-geteilte deutsche Vergangenheit in besonderer Weise. Das 1930 gegründete Bistum wurde nach dem Mauerbau – anders als sämtliche Gesamtberliner Institutionen, darunter auch die Evangelische Kirchenprovinz – nicht zerstückelt, sondern konnte seine kirchenpolitische Einheit entlang der systempolitischen Demarkationslinie des Kalten Krieges verteidigen. Nicht zuletzt wurde dies durch die Politik von Kardinal Preysing (1880 – 1950) vorbereitet, der 1947 alle Priester des Bistums dazu verpflichtete, „Erklärungen zu Zeitfragen“ nicht abzugeben. Für solche Statements im Namen der katholischen Kirche sei vielmehr „die Gesamtheit der Bischöfe Deutschlands“ zuständig. Es blieb Wilhelm Weskamm, Preysings Nachfolger, mit seiner ostdeutschen Diasporaerfahrung vorbehalten, auf dem 75. Deutschen Katholikentag 1952 in Berlin zum Bau einer Gedenkkirche zu Ehren der Blutzeugen für Glaubens- und Gewissensfreiheit aufzurufen. Dieser Plan, der schließlich in Maria Regina Martyrum seine Ausführung fand, wurde von den Machthabern im Ostteil Berlins als Zeichen kirchlich-katholischer Selbstvergewisserung durchaus wahrgenommen.
Das war und ist für katholische Berliner ein Grund, das Pontifikat von Alfred Bengsch (1961 – 1979) als „Bewahrer der Einheit“ besonders in Ehren zu halten. „Der Rat der EKD, deren Vorsitzender Präses Scharf ist“, hieß es dagegen im Neuen Deutschland wenige Wochen nach dem Mauerbau, „hat durch seine offizielle Zustimmung zum Militärseelsorgevertrag der westdeutschen Kirche mit Adenauer und Strauß die schwere Verantwortung und volle Schuld für diese verhängnisvolle Unterwerfung der westdeutschen und Westberliner Kirchenleitungen unter das Kommando der NATO auf sich geladen.“ Wer solche „aggressiven Zielsetzungen“ wie Präses Dr. Scharf und der Rat der EKD vertrete, der könne „selbstverständlich nicht auf dem Territorium der DDR und ihrer Hauptstadt wirksam sein“24.
Dem gebürtigen Berliner Bengsch dagegen gelang es, die Einheit des Bistums nicht zuletzt durch einen Amtssitzwechsel in Richtung Osten abzusichern. Als die DDR das „Fluchtloch“ zumauerte, entging der sechste Oberhirte des 1930 gegründeten Bistums jenem Schicksal, das am 13. August 1961 Präses Scharf als Repräsentanten der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg ereilte: die Aussperrung. Drei Tage nach dem Mauerbau dagegen konnte der im Osten lebende Weihbischof – als Nachfolger von Julius Kardinal Döpfner (1957 – 1961) – zum neuen Gesamtberliner Oberhirten ernannt werden.
Dass der kirchenpolitische Weg der Berliner Katholiken jedoch alles andere als klar und deutlich vorgezeichnet war, geht aus einem Brief von Döpfner, der bald darauf Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz wurde, an Bengsch hervor: „Lieber Alfred! Mit tiefer Sorge schreibe ich dir diese Zeilen, die dir wohl qualvolle Überlegungen bereiten, da ich glaube, dir neue Entschlüsse empfehlen zu müssen.“ Der Münchener Erzbischof, der sich als Kämpfer gegen den Kommunismus profiliert hatte, legte seinem pastoral-diplomatisch orientierten Nachfolger nämlich nahe: „Mittlerweile haben sich Tatsachen ergeben, die gebieterisch ein neues Durchdenken fordern. Aus maßgebenden Äußerungen wird deutlich, dass der Bruch zwischen Ost- und West-Berlin als endgültig gedacht ist, dass Ost- und West-Berlin als total entgegengesetzte, unvereinbare Lebensräume gesehen werden. Ein Wirken der Kirche, das der jeweiligen Situation gerecht wird, steht also für diese ideologische Sicht in einem unvereinbaren Gegensatz und kann darum nicht auf die Dauer von ein und demselben Bischof verantwortlich geführt werden. Die Folgerung aus dieser grundsätzlichen Sicht wurde für Präses Scharf gezogen. […] Aber falls du deine Aufgabe jeweils richtig erfüllen willst, und dazu bist du doch fest