Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
Rücklage bildet, um die atemberaubend hohen Schulden zu garantieren. Diese sind entstanden, weil die Banken in der Lage waren, Geld zu schöpfen, Kredite auf der Grundlage von fragwürdigen Vermögenswerten zu gewähren, und aufgrund des Staatsdefizits der USA, das angehäuft wurde, um den Krieg und die jüngsten Steuererleichterungen zu finanzieren […] Um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass Wachstum uns reicher macht, verschoben wir die Kosten auf später, indem wir fast grenzenlos Finanztitel ausgaben und dabei der Bequemlichkeit halber vergaßen, dass diese sogenannten Vermögenswerte für die Gesellschaft insgesamt Schulden darstellen, die aus künftigem Wachstum des realen Wohlstands bezahlt werden müssen. Das künftige Wachstum ist jedoch sehr zu bezweifeln, wenn man von den nach hinten verschobenen realen Kosten ausgeht, während die Verschuldung sich weiterhin auf ein absurdes Niveau verschlimmert.“ (2008)
Wieder einmal wurden die Regierungen dazu gezwungen, das Finanzsystem durch massive Kredite und sogar Aufkäufe von Geldinstituten zu retten. Dabei bürdeten sie dem Steuerzahler ein Risiko von Billionen Dollar auf. Inzwischen zeitigt das Platzen der Blase sehr reale Kosten: die Arbeitslosigkeit steigt an, Menschen verlieren ihr Zuhause und der weltweite Handel schrumpft rasch.
Finanzspekulation ist einerseits von der Realität abgekoppelt, doch sie erzeugt dennoch reale Kosten für die Menschen und die umfassendere planetarische Gemeinschaft. Spekulanten stellen eine ungeheure wirtschaftliche Macht dar. Wie anlässlich der Krisen in Mexiko und in Asien deutlich wurde, können sie ihre Fonds sehr schnell irgendwohin verschieben und als Folge ihrer Entscheidungen Wirtschaften zusammenbrechen lassen. Selbst die Politik der reichsten Länder ist solchem Druck ausgesetzt. In den frühen 1990er-Jahren zum Beispiel führte die kanadische Regierung die Drohung mit finanziellen Repressalien als Grund für die Kürzung von Regierungsausgaben an. Internationale Anleger stellen tatsächlich so etwas wie eine Veto-Macht für die Politik aller Länder dar. Sie drängen sie dazu, Gesetze und Regelungen zu erlassen, die durch eine offene Investmentpolitik (welche die Instabilität noch vergrößert), „freien Handel“, niedrige Steuern und einen schwachen Schutz für Arbeiter und für die Umwelt die Profite der Konzerne vermehren.
Investoren üben auch Macht gegenüber einzelnen Konzernen aus. Um die Kosten zu senken, die Profite zu erhöhen und die Aktienkurse ansteigen zu lassen, vernichten Gesellschafen Arbeitsplätze oder verlagern sie dorthin, wo die Löhne niedriger sind. In ähnlicher Weise erhöht es kurzfristig die Profite und Aktienkurse, wenn „natürliche Vermögenswerte“ durch die Ausbeutung der Reichtümer der Erde in einem nicht nachhaltigen Ausmaß liquidiert werden. Konzerne, die versuchen, verantwortlich zu handeln, die nach langfristiger Nachhaltigkeit anstelle von kurzfristigen Profiten streben, sind intensivem finanziellen Druck ausgesetzt, damit sie sich anders verhalten. Diejenigen, die dies nicht tun, können auch für Finanzinvestoren anfällig werden, die man gemeinhin als „Heuschrecken“ bezeichnet (weil sie Unternehmen ausschlachten; d. Übers.).
Ned Daly zitiert das Beispiel der Pacific Lumber Company, die Holz in den alten Wäldern an der kalifornischen Küste gewinnt. Während der 1980er-Jahre galt die Gesellschaft als ein Modell im Hinblick auf ihr Verhalten gegenüber Arbeitern und der Umwelt, unter anderem wegen großzügiger Zuwendungen an die Arbeiter und innovative Methoden eines nachhaltigen Umgangs mit dem Waldbestand. Genau dieses Verhalten führte dazu, dass die Gesellschaft nur bescheidene Profitraten erzielte, was einen niedrigen Aktienkurs bedingte. Dies wiederum machte sie zu einem erstklassigen Ziel für eine feindliche Übernahme durch den Investor Charles Hurwitz. Als er die Kontrolle übernahm, verdoppelte er sofort den Holzeinschlag und zog vom Rentenfond der Gesellschaft mehr als die Hälfte des Vermögens ab. Das ermöglichte es ihm, die Risiko-Wertpapiere auszubezahlen, mit denen er die Übernahme finanziert hatte, und einen beachtlichen Profit zu erzielen. Sein Gewinn jedoch hatte den Preis einer beschleunigten Zerstörung eines weltweit einzigartigen, majestätischen Waldbestandes (N. Daly 1994).
In gewisser Hinsicht kann man das weltweite Finanzsystem als einen Parasiten betrachten, der Leben aus der Realwirtschaft saugt. Ohne Zweifel ist Finanzinvestment nötig, nämlich produktives Investment, das Arbeitsplätze mit ordentlichen Löhnen schafft, während tatsächliche Nachhaltigkeit innerhalb der Grenzen der Ökosysteme die Zeichen für echte Innovation und Fortschritt sind. Die meisten Investoren der Welt scheinen sich einem „extraktiven Investment“ zu widmen, das keinen Wohlstand schafft, sondern einfach „den existierenden Wohlstand herausholt und konzentriert […]. Im schlimmeren Fall führt das zu einer Abnahme des Wohlstands [und der Gesundheit] der Gesellschaft insgesamt, auch wenn es für den Einzelnen [oder eine Gruppe von Investoren] eine hübsche Rendite einbringen mag.“ (Korten 1995, 195) Die Machenschaften des Charles Hurwitz scheinen ein Paradebeispiel für diese Art von parasitärem Investment zu sein.
Ein illusorischer Wohlstand
Im Zentrum des extraktiven Investments und eines parasitären Finanzsystems steht eine falsche Auffassung vom Geld. Selbst Adam Smith widersprach der Vorstellung, man könne Geld aus Geld machen. Geld war als ein Instrument gedacht, nicht als ein Zweck an sich. John Ralston Saul schreibt: „Die Explosion der Geldmärkte ohne Bezug zur Finanzierung tatsächlicher Aktivitäten ist nichts als Inflation. Und deshalb sind diese Geldmärkte sehr esoterisch, Ideologie in Reinkultur.“ (1995, 153–154)
Der Wirtschaftswissenschaftler Herman Daly (1996) nennt dies einen „Trugschluss unangebrachter Konkretheit“. Wir verwechseln Geld (oder die Nullen und Einsen im Cyberspace, die die reale Währung weitgehend ersetzt haben) mit dem echten Reichtum, den es darstellen soll. Was immer für das abstrakte Symbol des Reichtums als wahr gilt, das – so nimmt man an – trifft auch auf den realen Reichtum zu.
Realer Reichtum aber ist dem Prozess des Verderbens unterworfen. Getreide kann nicht dauerhaft in Scheunen und Silos aufbewahrt werden. Kleidung wird mit der Zeit abgetragen oder von den Motten gefressen. Und Gebäude verfallen mit der Zeit. Im besten Fall kann natürlicher Reichtum (wie Wälder oder Feldfrüchte) in einem Maß, das die Sonneneinstrahlung, die Verfügbarkeit von sauberem Wasser und eines gesunden Bodens vorgibt, gedeihen. Doch realer Reichtum wächst niemals eine bedeutende Zeitstrecke hindurch exponenziell und kann tatsächlich mit der Zeit sogar abnehmen.
Doch Geld verdirbt nicht. Wenn man das Symbol (Geld) mit der Wirklichkeit (Reichtum) gleichsetzt, dann wird Reichtum eine abstrakte Größe unabhängig von den Gesetzen der Physik und Biologie. Er kann immer angehäuft werden, ohne zu verderben. Durch den Zaubertrick der Verschuldung und andere ausgetüftelte Finanzmanipulationen kann Geld sogar mehr werden – und das sogar im Sinne eines exponenziellen Wachstums. Aufgrund des Trugschlusses der unangebrachten Konkretheit nehmen die meisten Wirtschaftswissenschaftler (und viele Politiker, Investoren und die einfachen Leute, die von der Geldillusion vernebelt sind) deshalb an, dass auch der reale Reichtum exponenziell zunimmt.
Tatsächlich ist das akkumulierte Geld überhaupt kein realer Reichtum. Es ist lediglich eine Art Pfandrecht auf künftige Produktion, das aufgrund einer gesellschaftlichen Übereinkunft zu einem späteren Zeitpunkt gegen realen Reichtum eingelöst werden kann.15 Um die wachsenden Pfandrechte auf die Zukunft, die durch diese Art von Kapitalakkumulation hervorgebracht werden, decken zu können, muss die Wirtschaft ständig wachsen, oder der Wert des Geldes muss mittels Inflation reduziert werden, um einen Abgleich zum tatsächlich existierenden Reichtum herzustellen. (Alternativ dazu kann, wie es bei der Subprime-Hypothekenkrise der Fall war, die Blase einfach platzen und eine Kettenreaktion auslösen, die unter anderem den Zusammenbruch von Firmen und den Wertverlust virtueller Vermögen bewirken kann).
An dieser Stelle beginnen wir klarer zu begreifen, wie das Profitstreben der Finanzwirtschaft Reichtum in den Händen von wenigen konzentriert, während es die Armen und die umfassendere planetarische Gemeinschaft noch mehr verarmen lässt. Einerseits ist die Welt dazu gezwungen, ein unbegrenztes Wachstum in einer Art Besessenheit zu verfolgen, um die stets wachsenden Anrechte auf eine zukünftige Produktion erfüllen zu können. Dabei plündert sie den natürlichen Reichtum des Planeten aus. Gleichzeitig führt der Inflationsdruck zur Verarmung besonders der bereits Armen, die kein Einkommen aus Investitionen erzielen, das exponenziell wächst.
Ein anschauliches Beispiel mag hilfreich sein: Zwischen 1980 und 1997 transferierten die ärmeren Länder 2,9 Billionen US-Dollar als Schuldendienst