Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
oder Unvermeidliches an, ob es nun um die Herrschaft der Reichen über die Armen, der Männer über die Frauen, eines Landes über ein anderes oder der Menschen über die Natur geht.
Vielleicht ist es deshalb nicht überraschend, dass die Menschen nun versuchen, mittels Genmanipulation den Prozess des Lebens selbst zu beherrschen. Andere Techniken könnten die Herrschaftsgewalt noch vergrößern, insbesondere Roboter und die Nanotechnologie. Letztere könnte sich selbst reproduzierende Maschinen hervorbringen, die nur wenig größer als ein Molekül sind und lebende Organismen nachahmen. Bill Joy warnt davor, dass all diese Technologien das Potenzial in sich tragen, Schaden in einem unvorhergesehenen Ausmaß anzurichten. Im Gegensatz zu nuklearen Sprengköpfen benötigt man für diese Technologien keine Ausgangsmaterialien, die schwer zu beschaffen wären. Und sie können sich alle selbst reproduzieren. Schließlich werden sie alle von großen Konzernen entwickelt, und die Regierungen der Länder üben dabei kaum Kontrolle aus. Deshalb sind sie weit von einer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit entfernt.
Die Gefahr, die von diesen neuen Technologien ausgeht, ist sehr real. Gene aus gentechnisch veränderten Feldfrüchten haben sich bereits auf andere Pflanzen, ja sogar andere Arten übertragen. Mikroskopische „Nano-Einheiten“ könnten sich selbst reproduzieren und damit zum Beispiel die Möglichkeit eröffnen, dass Mikromaschinen geschaffen werden könnten, die die Erde bedecken, aufzehren und sie so in Staub verwandeln oder die systematisch für das Leben auf dem Planeten wesentliche Bakterien vernichten. Wenn die künstliche Intelligenz weitere Fortschritte macht, dann könnten sich auch Roboter selbst reproduzieren und in Zukunft die Menschen ersetzen.
Auf den ersten Blick kommen einem solche Zukunftsszenarien wie reine Science-Fiction vor. Doch es gibt gute Gründe für die Annahme, dass diese Technologien noch zu Lebzeiten von vielen von uns Wirklichkeit werden. Und der Geist der Gentechnik ist bereits aus der Flasche entwichen. Joy stellt fest:
„Die neuen Büchsen der Pandora der Gentechnik, der Nanotechnologie und der Roboter sind fast geöffnet, doch wir scheinen es kaum bemerkt zu haben […]. Wir werden in dieses neue Jahrhundert ohne Plan, ohne Kontrolle und ohne Bremsen hineingeschleudert. Sind wir bereits zu weit gegangen, um die Richtung noch zu ändern? Ich glaube nicht, aber wir haben es noch nicht versucht, und die letzte Chance, die Kontrolle zu erlangen, die letzte Sicherheitsschleuse, kommt rasch näher. Wir haben bereits unsere ersten Roboter als Haustiere, es gibt im Handel zu erwerbende Techniken der Genmanipulation und die Nanotechnologien entwickeln sich rasch. Während die Entwicklung dieser Technologien durch eine Reihe von kleinen Schritten voranschreitet, […] kann der Durchbruch zur Selbstreproduktion der Roboter, der Genmanipulation oder der Nanotechnologie plötzlich kommen und dasselbe Gefühl der Überraschung auslösen, das wir hatten, als wir vom ersten geklonten Säugetier erfuhren.“ (Joy 2000; http://www.wired.com/wired/archive/8.04/joy.html)
Die Kräfte der Menschen scheinen viel schneller zuzunehmen als ihre Weisheit. Joy glaubt daran, dass es immer noch Gründe zur Hoffnung gibt. Er macht darauf aufmerksam, dass die Menschheit in der Lage war, auf chemische und biologische Waffen zu verzichten, weil sie dessen gewahr wurde, dass sie einfach zu schrecklich und zu zerstörerisch sind, um jemals zum Einsatz zu kommen. Können wir auch auf das Wissen und die Macht verzichten, die mit diesen neuen Technologien verbunden sind, oder können wir zumindest im Sinne des Vorsorgeprinzips strenge Sicherheitsauflagen für sie verhängen? Letztlich wird dies vielleicht davon abhängen, ob die Menschheit – und insbesondere diejenigen, die innerhalb des über unseren Planeten herrschenden krankhaften Systems den meisten Einfluss haben ‒, bereit ist, sich vom Streben nach immer mehr Macht, Kontrolle und Herrschaft abzuwenden.
Von der Krankheit zur Gesundheit
Ist es wirklich möglich, den pathologischen Kurs zu ändern und stattdessen einen Weg einzuschlagen, der zu Genesung und Leben führt? Auf den ersten Blick erscheinen allein das Ausmaß und die offensichtliche Macht der globalen (Un-)Ordnung als schier unüberwindlich. Darüber hinaus bringen uns der Wahnsinn und die grundlegende Irrationalität dieser „Ordnung“ dazu, eine solche Möglichkeit zu leugnen (Wie könnte dies denn tatsächlich geschehen?) oder zu verzweifeln (Wie kann dies je aufgehalten werden?).
Paradoxerweise aber könnte gerade diese Irrationalität ein Zeichen der Hoffnung sein. Die weltweit herrschenden wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Systeme versuchen uns ständig davon zu überzeugen, dass diese Art von „Globalisierung“ auf der Basis „freier Märkte“, von Finanzspekulation, Deregulierung, Konzernherrschaft und grenzenlosem Wachstum in gewissem Sinne unvermeidlich ist. Es gibt keinen anderen Weg. Wir mögen kleinere Kurskorrekturen vornehmen können, doch ein grundsätzlicher Richtungswechsel ist unmöglich. Doch ein System, das so krankhaft und irrational ist wie die gegenwärtige (Un-)Ordnung, ist eindeutig nicht alternativlos. Es ist ein künstliches und der Logik widerstrebendes Konstrukt, das sich im Widerspruch zu Milliarden von Jahren der Entwicklung des Kosmos und der Erde befindet.
Zugrunde liegende Annahmen und Überzeugungen
„Wenn sich die Menschen als Einzelwesen der Forderung ihrer elementaren Triebe unterwerfen, also den Schmerz vermeiden und nur nach eigener Befriedigung trachten, dann wird sich für die Allgemeinheit ein Zustand der Unsicherheit, der Furcht und des gemeinsamen Elends ergeben.“ (Einstein 1952, 21)
Um dies deutlicher zu sehen, wollen wir uns einen Moment Zeit nehmen, um die zugrunde liegenden Annahmen und Überzeugungen näher anzuschauen, die die gegenwärtige Krankheit der Welt zuinnerst prägen. Dann wollen wir sie mit dem konfrontieren, was wir „ökologischen Hausverstand“ oder auch eine Denkweise nennen könnten, die die Weisheit des Tao zum Ausdruck bringt.
Zunächst ist das herrschende System besessen von der Idee des quantitativen, undifferenzierten und grenzenlosen „Wachstums“, wie es im Zerrspiegel des BIP erscheint. Ein wachsender „Durchsatz“ (die Rate des Ressourcenverbrauchs) wird als ein Zeichen von Gesundheit betrachtet, selbst dann, wenn dabei die Natur ausgeplündert wird und die Armut sich im Prozess der Fehlentwicklung verschärft. Gleichzeitig versucht eine von Monokultur geprägte Mentalität eine einzige Kultur und ein einziges Wirtschaftsmodell auf dem ganzen Planeten durchzusetzen. Das Ergebnis sind unreife „Unkraut“-Gesellschaften mit einem hohen Energieverbrauch und einer geringen Artenvielfalt.
Im Gegensatz dazu weisen gesunde Ökosysteme viel stabilere Eigenschaften auf. Sie sind das, was Herman Daly „Ökonomien des stabilen Gleichgewichts“ („steady state economies“) nennt. Das heißt nicht, dass keine Veränderung möglich oder nicht wünschenswert wäre; alle Ökosysteme entwickeln sich im Laufe der Zeit. Doch die Veränderung ist in erster Linie qualitativer Natur, sie besteht in einem Wachstum an Vielfalt, die tatsächlich zu einer noch größeren Stabilität des Systems durch die Zeit hindurch führt. Des Weiteren gibt es eine Fülle verschiedener Ökosysteme, von denen jedes in einzigartiger Weise an ein bestimmtes Klima und eine bestimmte geografische Region angepasst ist. Das Tao ist in der Vielfalt, der Ausdifferenzierung und der Stabilität zu finden, nicht in einer krebsartigen Wucherung einer Monokultur.
Zweitens räumt die herrschende globale (Un-)Ordnung dem Begriff „Gewinn“ oder Profit um jeden Preis den Vorrang ein. Das System ist auf einen kurzfristigen Gewinn fixiert und stellt diesen über langfristige Nachhaltigkeit. Seine Priorität ist der Profit für wenige zulasten der vielen. Oftmals sind die Aktivitäten, die den größten „Profit“ hervorbringen, gleichzeitig auch diejenigen, die die Lebensqualität untergraben. Und umgekehrt werden Tätigkeiten, die das Leben tatsächlich dauerhaft erhalten und fördern, als „unwirtschaftlich“ betrachtet. „Gewinn“ wird nur ausgehend von finanziellen Kategorien definiert. Das Geld wird als „der einzige Maßstab für Wert und Reichtum“ aufgefasst, selbst wenn die Qualität und Vielfalt des Lebens im Zuge der Akkumulation leblosen Kapitals untergraben wird.
Vom Standpunkt der Ökosysteme aus gesehen ist Geld schlicht und einfach eine Abstraktion, die geschaffen wurde, um den Tausch zu erleichtern. Es hat keinen Wert an sich. (Was wäre denn der Wert des Geldes, wenn keine gesunde Nahrung, keine saubere Luft und kein sauberes Wasser mehr übrig wären, die man kaufen könnte?) Lediglich die Gesundheit und Vielfalt des Netzes des Lebens selbst haben einen realen Wert. Tätigkeiten, die