Befreite Schöpfung. Leonardo Boff

Befreite Schöpfung - Leonardo Boff


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menschliche Grundbedürfnisse zum Ziel haben, müssen von Zeit zu Zeit hinterfragt werden. So kann zum Beispiel der Bau von Schulen schlechte Auswirkungen haben, wenn das Erziehungssystem die Menschen dazu verleitet, ihre traditionelle Lebensweise zugunsten von Konsumismus und Geldwirtschaft aufzugeben. Krankenhäuser und Kliniken können dazu benutzt werden, um eine Medizin nach westlichem Vorbild durchzusetzen und traditionelle Heiler und Heilverfahren zu verdrängen. Straßen können die Abhängigkeit vom Öl vergrößern und die Produktion von Lebensmitteln für den Export fördern.

      Entwicklung muss daher ebenso wie Wachstum eher in qualitativer denn in quantitativer Hinsicht neu bewertet werden (besonders wenn die zu messenden Einheiten, sofern Geld und das BIP als Maßstab gelten, in sich fragwürdig sind). Auf diese Weise muss Entwicklung dazu übergehen, nicht mehr kurzfristige Zwecksetzungen und Profit für wenige zu bewerten, sondern langfristige Verbesserungen der Lebensqualität aller und der Kreaturen der Erde. Möglicherweise finden wir sogar zu einer neuen Ausdrucksweise, welche nicht mehr mit dem negativ aufgeladen ist, was wir heute mit „Entwicklung“ verbinden. Manche sprechen jetzt von „nachhaltiger Entwicklung“. Theoretisch meint dies eine Entwicklung, welche das Wohl der kommenden Generationen nicht gefährdet. In der Praxis jedoch scheint der „Entwicklung“ immer der Vorrang vor der „Nachhaltigkeit“ eingeräumt zu werden. Eine weitere Alternative ist „nachhaltige Gemeinschaft“. Diese scheint insofern besser zu sein, als sie das anzustrebende Ziel beschreibt (besonders wenn wir Gemeinschaft in dem umfassenden Sinn verstehen, dass sie andere Kreaturen mit einschließt), doch sie ist möglicherweise zu statisch. Wir könnten es mit „Ökoentwicklung“, „nachhaltige Gemeinschaftsentwicklung“ oder sogar mit „partizipative Koevolution“ als geeignetere Bezeichnungen versuchen.

      Um wirklich nachhaltige Gemeinschaften aufzubauen, müssen wir von der Weisheit gesunder Ökosysteme lernen, in denen der Abfall von anderen Organismen dem Kreislauf wieder zugeführt wird, um von Neuem Leben hervorzubringen. Ein faszinierendes Beispiel dafür ist die Aigamo-Methode, um Reis anzubauen. Sie wurde von Takio Furuno aus Japan entwickelt: In den gefluteten Reisfeldern werden Enten gehalten, die für die Reispflanzen eine Quelle natürlichen Düngers darstellen. Zusätzlich fressen die Enten das meiste Unkraut (nicht die Reispflanzen, denn diese schmecken ihnen nicht) und machen damit eine Menge schwerer, den Rücken belastender Handarbeit überflüssig. Auch ein im Wasser wachsendes Farnkraut wird benutzt, um zusätzlichen Stickstoff und zusätzliches Futter für die Enten zu liefern. Mehr als 75.000 Reisbauern in Asien wenden diese Methode an. Durchschnittlich nahmen dadurch die Ernteerträge um 50 bis 100 % zu, ohne dass chemische Substanzen verwendet werden mussten. Und die Enten sind für die Bauern eine zusätzliche Eiweißquelle bzw. tragen zusätzlich zum Lebensunterhalt bei (Ho 1999).

      Überall auf der Welt findet man zahlreiche andere Beispiele für ein solches schöpferisches ökologisches Denken. Diese Art von „Ökoentwicklung“ zeigt, dass es möglich ist, das Leben der menschlichen Gemeinschaften zu verbessern und dabei die Erde gesund zu erhalten. Wenn wir irgendeine Form der Ökoentwicklung in Angriff nehmen, sollten wir in der Tat von der Weisheit vieler autochthoner Völker in Amerika lernen, die die Folgen ihrer Handlungen für die sieben folgenden Generationen in den Blick nehmen. Mike Nickerson sagt es pointiert: „Mehr als siebentausend Generationen haben sich darum gesorgt und sich abgeplagt, um uns das Leben zu ermöglichen. Sie haben uns die Sprache, Kleidung, Musik, Werkzeuge, Ackerbau, Sport, Wissenschaft und ein umfassendes Verständnis der Welt in und um uns herum gegeben. Wir sind gewiss dazu verpflichtet, Wege zu finden, um wenigstens weiteren sieben Generationen all dies zu ermöglichen.“ (1993, 12)

      Wir können nicht hoffen, von einem unbegrenzten, unqualifizierten Wachstum und einer fehlgeleiteten Entwicklung wegzukommen, wenn wir uns nicht den entscheidenden Mächten auf Weltebene stellen, welche diese Erkrankungen weiter gedeihen lassen: die transnationalen Konzerne. Die fünfhundert größten Konzerne der Welt beschäftigen 0,05 % der Bevölkerung, aber sie kontrollieren 25 % der weltweiten Wirtschaftsleistung (gemessen am Maßstab des BIP) und wickeln 70 % des Welthandels ab. Die Hälfte der einhundert führenden Ökonomien der Welt sind keine Länder, sondern Konzerne. Die dreihundert führenden Konzerne (dabei sind die Finanzinstitute nicht mit berücksichtigt) besitzen etwa ein Viertel des weltweiten Produktivvermögens, und die fünfzig größten Finanzgesellschaften kontrollieren 60 % allen Produktivkapitals. (Korten 1995, 222) Tom Athanasiou schreibt:

      „Die transnationalen Konzerne sind sowohl die Architekten als auch die Gebäudeteile der Weltwirtschaft [… Sie] diktieren die allgemein geltenden Maßstäbe […]. Sie sind regionale und globale Akteure in einer Welt, die in Nationen und Stämme aufgesplittert ist. Sie spielen ein Land gegen das andere, ein Ökosystem gegen das andere aus, einfach deshalb, weil das ein gutes Geschäft ist. Niedrige Löhne und Sicherheitsstandards, Ausplünderung der Umwelt, endloses Wachsen der Bedürfnisse – all das sind Symptome wirtschaftlicher Kräfte, die in den transnationalen Konzernen Gestalt gewinnen und so mächtig sind, dass sie alle Beschränkungen einer Gesellschaft, der sie angeblich dienen, durchbrechen.“ (1996, 196)

      Transnationale Konzerne haben zielstrebig daran gearbeitet, die Regeln der globalen Ökonomie zu ihren Gunsten zu gestalten. In großen wie kleinen Ländern sind sie in der Lage, beträchtlichen Einfluss auszuüben:

       – durch die Pflege „freundschaftlicher Beziehungen“ mit politischen Parteien;

       – durch das Versprechen (bzw. die Drohung), Investitionen und damit Arbeitsplätze zu schaffen bzw. abzuziehen;

       – indem sie auf die globalen Finanzmärkte Druck ausüben, über die Politik einer Regierung faktisch durch Machenschaften wie Währungsspekulation „abzustimmen“.

      Gemessen an ihrer Kontrolle der Weltwirtschaft ist dieser politische Einfluss in den letzten fünfundzwanzig Jahren wirklich massiv geworden. So überrascht es nicht, dass die Politik der Strukturanpassungsmaßnahmen großen Konzernen gegenüber extrem wohlwollend ist. Darüber hinaus sind wirtschaftliche Regeln, wie sie in Verträgen und Institutionen verankert sind, die über Handel und Investitionen bestimmen – wie zum Beispiel die WTO (Welthandelsorganisation), die NAFTA (nordamerikanisches Freihandelsabkomen) oder das (wenigstens vorläufig gescheiterte) Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) (oder in jüngster Zeit TTIP, Ceta, etc.; d. Übers.) – weitgehend „Freibriefe“ für transnationale Konzerne. Martin Khor, der Leiter des Third World Network, stellt fest, dass die Welthandelsabkommen als „Weltwirtschaftspolizei fungieren, um neue Regeln durchzusetzen, die die außerhalb jeder politischen Einbindung vonstatten gehenden Operationen der transnationalen Konzerne in höchstem Maß steigern“ (Khor 1990, 6).

      Dieser neue globale Rahmen macht es für Bürger und Regierungen zunehmend schwerer, das Wohl der Menschen und der Natur zu schützen. So wurde zum Beispiel die kanadische Regierung dazu gezwungen, ihr Verbot des provinzübergreifenden Handels mit dem Treibstoffzusatz MMT, der sich als ein starkes Nervengift erwiesen hatte, aufzuheben, denn die Regeln der NAFTA untersagen solche Beschränkungen. Ironischerweise ist MMT in den USA, dem Land, in dem die Ethyl Corporation die Chemikalie produziert, nicht zugelassen. Ein anderes Beispiel findet sich in den der WTO vorgeschlagenen Veränderungen, die Zölle auf alle Waldprodukte aufzuheben und Investoren den ungehinderten Zugang zu den Wäldern anderer Länder zu gestatten. Sie hätten keinerlei Verpflichtungen, sich an im betreffenden Land geltende Arbeits- und Umweltgesetze zu halten.

      Konzerne und ökologische Zerstörung

      Zusätzlich zur Förderung von weltweiten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die einen effektiven Schutz von Natur und Arbeitern nahezu unmöglich macht, spielen transnationale Konzerne eine direkte Rolle bei vielen der ökologisch zerstörerischen Aktivitäten. Die transnationalen Konzerne produzieren mehr als die Hälfte aller fossilen Brennstoffe und sind direkt für mehr als die Hälfte der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Darüber hinaus produzieren die transnationalen Konzerne fast alle die Ozonschicht zerstörenden chemischen Substanzen. Sie kontrollieren auch 80 % des Landes, das der exportorientierten Landwirtschaft gewidmet ist. Bloß zwanzig transnationale Konzerne stehen für 90 % aller Pestizidverkäufe (Athanasiou 1996). Des Weiteren spielen transnationale Konzerne wie General Electric, Mitsubishi und Siemens eine größere Rolle bei Atomkraftwerken.


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