Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
auch ihre Fähigkeit, über die Größe der Familie selbst zu entscheiden. Eine solche Stärkung der Frauen ist aber sicher in einer Gesellschaft einfacher, die eine weniger hohe Arbeitslosenrate und weniger soziale Gewalt aufweist. Doch auch diese Bedingungen sind normalerweise nur dort gegeben, wo ein Mindestmaß an gerechterer Einkommensverteilung und ein Rückgang der Armut erreicht wurden. Das heißt, letztlich ist eine größere Einkommenssicherheit der wesentliche Faktor dafür, dass die Kurve des Bevölkerungswachstums schnell nach unten geht.
Ein fehlerhafter Indikator, eine falsche Perspektive
Eine unserer Hauptschwierigkeiten mit der Wachstumswirtschaft ist die Art und Weise, wie Wachstum gemessen wird. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), die hauptsächliche Messgröße von Wirtschaftswachstum, ist ein ernstlich fehlerbehafteter Indikator.13 Das BIP ist im Grunde die Summe der produzierten Güter und Dienstleistungen, wozu alle wirtschaftlichen Aktivitäten zählen, bei denen Geld im Spiel ist. Das heißt also: Die Kosten für die teure Beseitigung von Verschmutzung, die Produktion einer Atombombe oder die Arbeitskosten für die Abholzung von altem Waldbestand werden ins BIP mit eingerechnet und gelten als wirtschaftlicher Vorteil. Andere wirtschaftliche Aktivitäten, bei denen kein Geld fließt, wie zum Beispiel landwirtschaftliche Subsistenzbetriebe (Nahrungsmittelproduktion für die eigene Familie oder Gemeinde), freiwilliger Arbeitseinsatz oder Kindererziehung werden absurderweise überhaupt nicht berücksichtigt. Einen Kilometer mit dem Auto zurückzulegen trägt viel mehr zum BIP bei als dieselbe Strecke zu Fuß zu gehen oder mit dem Rad zu fahren, obwohl die letztgenannten Möglichkeiten keine ökologischen Kosten verursachen.
Grundsätzlich bewertet das BIP viele Leben zerstörende Aktivitäten positiv, während es viele Leben fördernde nicht darstellt. Während man die Kapitalabschreibung für Gebäude, Fabriken und Maschinen berechnet, gibt es keine ähnlichen Kalkulationen für die Entwertung des „natürlichen Kapitals“: der Abnahme der Tragfähigkeit der Erde. Oftmals wird Wohlstand künstlich dadurch „produziert“, dass man die Kosten der Zerstörung des wahren Wohlstands der Erde, Wälder, Wasser, Luft oder Böden, verschleiert. So erzeugt zum Beispiel die Abholzung von Regenwald Wachstum, doch niemand berechnet die Kosten der Wohlstandseinbußen für die Lebewesen, Luft, Boden und Wasser, die allesamt vorher von diesem Ökosystem aufrechterhalten wurden. Korten geht sogar so weit zu behaupten, das BIP sei nicht viel mehr als die Berechnung des „Ausmaßes, in welchem wir Ressourcen in Abfall verwandelt haben“ (1995, 38).
Im Film Who’s Counting liefert die feministische Wirtschaftswissenschaftlerin Marilyn Waring ein interessantes Beispiel für die Art von verzerrtem Bild, welches das BIP liefert. Sie macht deutlich, dass die Wirtschaftsaktivität infolge der von Exxon Valdez verursachten Ölkatastrophe an der Küste von Alaska diese Fahrt zu der am meisten wachstumsstimulierenden aller Zeiten gemacht habe. Das BIP rechnete die Kosten für die Reinigungsarbeiten, die Auszahlungen von Versicherungen und sogar die Zuwendungen an „grüne“ Organisationen als Wachstum. Dieser Haben-Spalte stand jedoch keine Soll-Spalte gegenüber. Die Kosten für tote Vögel, Fische und Meeressäugetiere sowie die Zerstörung von herrlicher Schönheit zählten einfach nicht.
Sowohl aus ethischer wie auch aus praktischer Sicht ist das BIP als Maßstab für wirtschaftlichen Fortschritt sehr fragwürdig. Die Art von nicht qualifiziertem wirtschaftlichem Wachstum, welches das BIP berechnet, ist nicht unbedingt gut und kann oftmals schädlich sein. Herman Daly drückt es so aus: „Es ist ein grundlegender Fehler, die Erde zu behandeln, als ob sie zum Ausverkauf stünde.“ (zitiert bei Al Gore 1992, 191)
Doch genau das tun wir, wenn wir das wahre Kapital des Planeten, nämliche seine Fähigkeit, leben zu beherbergen, zerstören, um künstliches, abstraktes und totes Kapital in Form von Geld (etwas, das tatsächlich keinen Wert in sich hat) anzuhäufen. Wir verschulden uns tatsächlich am Wohlstand allen Lebens in Zukunft, um einen kurzfristigen Gewinn für eine Minderheit der Menschheit zu erzielen. Dies stellt eine sehr gefährliche Art der Finanzierung über Schulden dar.
Viele plädieren nun für die Ersetzung des BIP durch einen „echten Fortschrittsindikator“ (Genuine Progresse Indicator, GPI) als Alternative. Der GPI unterscheidet zwischen Leben fördernden und Leben zerstörenden Aktivitäten. Die ersteren werden als produktiv, die letzteren als Kosten bewertet. Dies ermöglicht eine genauere Bestimmung von echtem wirtschaftlichem Fortschritt ‒ einem Fortschritt, dessen Grundlage eine qualitative Entwicklung und nicht so sehr quantitatives Wachstum ist. Die Anwendung dieses Indikators macht deutlich, dass der GPI in den USA während der fünfundzwanzig Jahre vor 1992 tatsächlich gesunken ist, obwohl das BIP gewachsen ist (Nozick 1992). Spätere Daten scheinen zu bestätigen, dass sich dieser Trend fortsetzt. Der GPI liegt im Jahr 2002 immer noch geringfügig unter dem Niveau von 1976.
Wenn wir über die traditionelle, am BIP gemessene Wachstumswirtschaft hinausgelangen wollen, dann müssen wir einen qualitativen Zugang wählen. Die herkömmlichen Vorstellungen von Profit, Effizienz und Produktivität müssen infrage gestellt und neu definiert werden. Brauchen wir Wachstum? Gewiss. Wir brauchen ein Wachstum an Kenntnissen und Weisheit, ein Wachstum am Zugang zu einer Grundversorgung für alle, ein Wachstum an menschlicher Würde. Wir müssen auch das Schöne fördern, die Vielfalt des Lebens erhalten und die Gesundheit der Ökosysteme kräftigen. Doch wir brauchen kein Wachstum an überflüssigem Konsum. Wir brauchen noch weniger ein krebsartiges Wachstum, das Leben zerstört, nur um totes Kapital für einen kleinen Teil der Menschheit anzuhäufen.
Verzerrte Entwicklung
Als die Anthropologin Helena Norberg-Hodge im Jahr 1975 zum ersten Mal in die Ladakh-Region Kaschmirs in Indien kam, fand sie dort ein Volk vor, das bis dahin völlig isoliert von der Weltwirtschaft gelebt hatte. Dennoch erfreuten sich die Bewohner von Ladakh einer hohen Lebensqualität. Die lokalen Ökosysteme waren im Kern gesund, Verschmutzung war praktisch unbekannt. Es stimmt zwar, dass man an einige Ressourcen schwer herankam, doch die meisten Menschen arbeiteten nur vier Monate im Jahr hart, sodass viel Zeit für die Familie, für Freunde und für kreative Tätigkeiten blieb. So brachten die Bewohner von Ladakh eine beeindruckende Vielfalt an Kunst hervor. Die Leute lebten in geräumigen, der Gegend angepassten Häusern. Fast alle Güter des Grundbedarfs wie Kleidung, Häuser und Nahrung wurden produziert und verteilt, ohne dass man dafür Geld benutzte. Als Norberg-Hodge einen Einheimischen fragte, wo denn die Armen lebten, machte der Angesprochene zunächst einen verwirrten Eindruck, um dann zu antworten: „Wir haben hier überhaupt keine armen Leute.“ (1999, 196)
Im Lauf der Jahre jedoch begann sich die lokale Wirtschaft zu „entwickeln“. Die ersten Touristen kamen in die Gegend und brachten Erzeugnisse und Erfindungen der Weltwirtschaft mit. Bald merkten die Leute, dass sie Geld brauchten, um sich Luxusgüter kaufen zu können. Nach und nach orientierten sich die Leute an der Geldwirtschaft. Als man Feldfrüchte für den Verkauf einführte, wurde die Wirtschaft vom Erdöl abhängig, da ein modernes Transportwesen für die Verschiffung der Ware erforderlich war. Auch der Zustand der lokalen Ökosysteme verschlechterte sich mit der Verbreitung des Chemieeinsatzes in der Landwirtschaft. Als sich die lokale Wirtschaft auflöste, erodierte auch die Kultur der Ladakh-Region, und die Menschen verloren das Gespür für ihre Identität.
Wenn wir diese Geschichte hören, dann ist unsere erste Reaktion darauf vielleicht ein nostalgischer Blick zurück auf eine einfache Zeit und Kultur. Die meisten von uns mögen das, was den Bewohnern von Ladakh widerfahren ist, als traurig, aber in gewisser Weise unvermeidlich betrachten. Andere mögen sich fragen, ob es nicht eine andere Möglichkeit der Öffnung auf die Welt hin gegeben hätte, einen Weg, der nicht zwangsläufig zum Niedergang der lokalen Kultur und Ökosysteme geführt hätte.
Jedenfalls scheint die Frage angebracht zu sein, ob der Wachstumsprozess, wie ihn die Bewohner von Ladakh erlebt hatten, einen „Fortschritt“ oder eine Entwicklung darstellte. Wie wir weiter oben bereits gesehen haben, sollte Entwicklung qualitative Verbesserungen des Lebens der Menschen beinhalten. Wogen die „Wohltaten“ der Weltwirtschaft (Fernsehen, Zugang derer, die es sich leisten können, zu bestimmten Konsumgütern, ein modernes Transportwesen) die Kosten in Gestalt von Armut, ökologischer Zerstörung und kulturellem Verfall auf? Das ist unwahrscheinlich. Jedenfalls scheint es eine grobe Verzeichnung der Tatsachen zu sein, einen solchen Prozess als „Entwicklung“