Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt. Frank Westermann

Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt - Frank Westermann


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»Zeitsprünge« hatten diese »Illusionen« zerschmettert. Steves Lebenssinn war tief erschüttert worden, und wochenlang hatte er geglaubt, in einem Alptraum zu leben, aus dem er irgendwann erwachen müsste. Alles, woran er geglaubt und wofür er gearbeitet hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Manchmal hatte er an Selbstmord gedacht, um diesem Schrecken zu entkommen. Diese Phase lag nun hinter ihm, er war wieder an die Oberfläche gekommen, obwohl immer noch ein Gewicht an ihm zerrte, das drohte, ihn wieder hinab zu ziehen zum Grund des Vergessens. Er schwamm nur mühsam, zerschlagen und ausgelaugt, doch der Wille weiterzumachen und eventuell die Ursache für seine Zeitsprünge zu ergründen, hatte die Oberhand behalten.

      Das wenige, was die Medien über Städte wie Woltan oder das Schwere Lager verbreiteten, die über ähnliche gesellschaftliche Strukturen wie Goldentor verfügten, war auch nicht dazu angetan, bessere Stimmung zu erzeugen. Zumindest in Woltan zerbröckelte die demokratische Fassade ebenso, dort drängte das Militär in entscheidenden Machtpositionen.

      Auch diese Einschränkung in der Berichterstattung der Medien über Ereignisse in anderen Lebensgemeinschaften, war für Steve ein Ergebnis der Realitätswechsel. Früher hatte es sowohl in der Presse als auch im Tri-Di wenigstens ab und zu Reportagen über andere Kulturen gegeben. Sie waren fast völlig aus der Presselandschaft verschwunden, und niemand erinnerte sich an sie. Ja, das Wissen um andere Lebensgemeinschaften überhaupt hatte bei allen rapide abgenommen. Von alternativen Gesellschaftsmodellen, wie sie in anderen Gegenden des Kontinents vorgelebt wurden, hatte kaum jemand gehört.

      Wieso erinnerte nur er sich an die nächtelangen Diskussionen über die Art des Zusammenlebens in diesen Gemeinschaften? Hatten diese Gespräche wirklich nicht stattgefunden? Besaß er falsche Erinnerungen? Und wenn ja, woher kamen diese?

      Steve war nicht überrascht, dass sich im Hinterzimmer des Cafes, in dem das Vorbereitungstreffen stattfand, nur ungefähr 40 Leute eingefunden hatten. Die Zeiten, in denen Versammlungen in der Stadthalle abgehalten wurden, waren vorbei bzw. hatte es nie gegeben. Er beteiligte sich auch nicht an der Auseinandersetzung um Strategie und Taktik, Militanz und Gewaltlosigkeit. Diese Diskussionen gehörten für ihn der Vergangenheit an, er glaubte sie längst überwunden. Es war ihm nicht möglich, längst bekannte Argumente immer aufs Neue auszutauschen.

      Eine düstere Wolke von Resignation und Frustration umhüllte ihn. Er fühlte sich wie in einem schlecht inszenierten Schauspiel, dessen Thematik ihn nicht interessierte. Im Grunde war er nur aus einem diffusen Pflichtbewusstsein hierhergekommen.

      Als alle schließlich, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein, aufbrachen, war nur eines klar: Es sollte versucht werden, die Rede von Bürgermeister Boltagen an die Bevölkerung von Goldentor, die zu einem großen Medienspektakel aufgebauscht worden war, zu verhindern oder nachhaltig zu stören. Diesen Plan allerdings hatte es auch schon vorher gegeben, und Steve war sich auch bewusst, dass es nicht möglich sein würde, die Rede zu verhindern. Niemand konnte ernsthaft anderes behaupten angesichts ihrer lächerlichen Anzahl. Selbst eine Störung erschien wenig glaubhaft.

      Der Marktplatz vor dem Parlamentsgebäude war vollgestopft mit Menschen, von denen die Demonstrierenden nur einen kleinen Teil ausmachten. Trotzdem war ihre Wut fast körperlich zu spüren, als Steve sich unter sie mischte. Aus den sternförmig auf den Marktplatz zulaufenden Seitenstraßen drängten weitere Schaulustige in einem nicht enden wollenden Strom nach. Ein Spektakel würde es allemal, dachte Steve. Er fühlte Ärger in sich hochsteigen. Ärger über die Unverschämtheit des Bürgermeisters, der es nach der Verabschiedung der Sicherheitsgesetze auch noch wagte, diese Maßnahme öffentlich zu rechtfertigen und in einen »Sieg für die Demokratie« umzuwandeln. Nur dieser Ärger hatte ihn hierher getrieben, auch wenn er keine Chance für die ca. 300 Demonstranten sah, Boltagens Rede effektiv zu gefährden.

      Vor einem Vierteljahr wären wir dreimal so viele gewesen, schoss es ihm durch den Kopf. Aber in dieser Erinnerung hätte Boltagen einen solchen Versuch gar nicht erst zu unternehmen gewagt. Der Bürgermeister war nicht gerade ein handlungsfreudiger Mann, eher ein alternder Bürokrat.

      Bei der Masseninszenierung heute handelte es sich um eine reine Machtdemonstration des Staates. Eine Schmierenkomödie, die das Volk beruhigen und einlullen sollte.

      Die Rednertribüne auf der Balustrade vor dem Parlamentsgebäude war von einem massiven Polizeiaufgebot abgeschirmt. Weitere Einheiten der mit Schlagstöcken und Tränengas ausgerüsteten Beamten hielten sich hinter der Tribüne in Bereitschaft, um im Notfall eingreifen zu können. Ein anderes Spezialkommando, das sich kaum sichtbar noch hinter den Reihen der Polizei verbarg, war, wie Steves geschultes Auge erkennen konnte, mit Kotzgas und Gummigeschossen bewaffnet. Zivile Greiftrupps lungerten überall herum und suchten sich schon jetzt verdächtig aussehende Individuen heraus, um sie später abgreifen zu können. Alles bekannte Polizeitaktik, denen die Demonstranten in ihrer geringen Anzahl nichts entgegensetzen konnten. Das Presseaufgebot war enorm. Türme und Plattformen mit Kameras waren aufgestellt worden, um Boltagen aus jeder Perspektive in Szene setzen zu können. In den drei Tageszeitungen und den lokalen Tri-Di-Programmen würde es keine kritischen Stimmen geben. Alle Medien unterstanden seit kurzem einem Konzern und waren praktisch gleichgeschaltet.

      Der gigantische Aufwand der offiziellen Medien sowie das unverhältnismäßig große Polizeiaufgebot bereiteten Steve ein mulmiges Gefühl, noch bevor der Auftritt des Bürgermeisters überhaupt begonnen hatte. Es schien ihm, als sei die Situation dafür vorgesehen, dass die Polizei bewusst Vorfälle provozierte, um dann alles eskalieren zu lassen. Dieses Vorgehen hatten sie in der Vergangenheit des Öfteren praktiziert, doch diesmal waren die Demonstranten darauf absolut nicht vorbereitet.

      Er gab diese Vermutung an seine Nebenleute weiter, doch es herrschte die einhellige Meinung, dass die Polizei gerade angesichts der Medienpräsenz und der Menschenmassen dies nicht riskieren würde. Trotzdem hielt Steve sich zurück und sah sich nach Fluchtwegen um, die er gegebenenfalls nutzen konnte.

      Dabei entdeckte er seinen Freund Per Vantryk auf der Außentreppe eines der kleinen Cafés, die um den Marktplatz gruppiert waren. Der Fotograf hantierte mit zwei Kameras, und seiner düsteren Miene zufolge fühlte er sich auch nicht besonders wohl.

      Steve ging auf ihn zu und begrüßte ihn.

      »Steve, wie geht es dir? Ich freue mich, dich zu sehen.«

      Steve war erstaunt und gleichzeitig erleichtert über diese Reaktion. Der Streit mit Per hatte ihm wie ein Stein im Magen gelegen. Anscheinend trug er ihm nichts mehr nach.

      Nicht besonders,« antwortete er wahrheitsgemäß. »Glaubst du, dass du die Bilder verkaufen kannst?«

      »Das wird schwierig, es sind ja Dutzende von Pressefotografen hier. Vielleicht gelingt mir ein Schnappschuss, den ich an eine der kleinen Wochenzeitungen verkaufen kann. Die zahlen natürlich kaum etwas, und ich bin dringend auf das Geld angewiesen. Die Chancen stehen nicht gut. Aber falls hier wirklich etwas passiert, sollen die Bilder auch eher dazu dienen, das Geschehen aus einer anderen als der offiziellen Perspektive festzuhalten.«

      »Dann hast du also auch kein gutes Gefühl.«

      »Nein. Die ganze Show stinkt zum Himmel. Wozu der Rummel? Das ist doch sonst nicht Boltagens Art. Er kann zwar Theater spielen, hält sich aber eher zurück. Etwas anderes möchte ich dir noch sagen, bevor es hier losgeht: ich habe wiederholt über unser Streitgespräch nachgedacht ...«

      »Ich weiß, ich habe mich wie ein Trottel benommen,« entschuldigte sich Steve.

      »Darum geht es mir nicht. Dein blödes Verhalten hat mich im Nachhinein dazu gebracht, dass ich denke, es ist vielleicht doch mehr an deiner Geschichte, als ich zunächst wahrhaben wollte. Sonst wärest du ja nicht so in Wut geraten. Außerdem passt diese Sache einfach nicht zu dir. Du bist doch mit deinem rationalen Kopf immer ganz gut zurechtgekommen. Und dann plötzlich diese Psychose oder was immer es auch ist ... Wir müssen uns noch einmal darüber unterhalten.«

      Steve sah ihn mit großen Augen an. Das war wieder einmal typisch für Per. Er sagte das so leichthin, dabei war es bestimmt nicht einfach für ihn, seine vehemente Ablehnung zu korrigieren.

      »Nichts lieber als das! Ich brauche wirklich jemanden


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