Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt. Frank Westermann

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Und pass auf dich auf.«

      Steve nickte und mischte sich dann wieder unter die Demonstranten, die jetzt angefangen hatten, Parolen zu rufen und Transparente zu entrollen. Die Menge verhielt sich weiterhin abwartend. Der öffentliche Auftritt Boltagens war so ungewöhnlich, dass er inzwischen ca. 3000 Menschen angelockt hatte, obwohl nur mit dem üblichen Pathos, leeren Versprechungen und nichtssagendem Gerede zu rechnen war.

      In diesem Augenblick betrat der Bürgermeister die Bühne. Steve fiel sofort auf, wie alt und schlecht Boltagen aussah. Aller Schminke zum Trotz wirkte sein Gesicht hohlwangig und schlaff, seine Bewegungen waren unsicher. Auch sein enormes Körpergewicht konnte er nicht ganz verbergen. Nur in seinen Augen glomm das nie verlöschende Feuer eines Fanatikers, der seinen Weg bis zum Ende gehen würde.

      Der Mann ist nichts weiter als eine Gallionsfigur, dachte Steve. Die Mächtigen aus Wirtschaft und Politik hielten ihn sich nur, weil er ein guter Schauspieler war und bei ihm belanglose Worte wie großartige Enthüllungen klangen.

      Seine Ansicht wurde bestätigt, als er neben Boltagen den Bankier Telström erblickte, eine graue Eminenz und Herrscher über ein Imperium aus Geld und Macht, das sich nicht auf Goldentor beschränkte. Ihm wurden intime Verbindungen zu den Militärs in Woltan und hohen Politikern im Schweren Lager nachgesagt. Ein Drahtzieher hinter den Kulissen. Der Banker wirkte im Gegensatz zu Boltagen trotz seines Alters energisch und gelassen. Er hielt sich stocksteif und blieb immer einen Schritt hinter dem Bürgermeister, aber Steve war sicher, dass er als Kontrollinstanz und Rückendeckung fungierte.

      Die Rede nahm ihren Lauf, ein blubbernder Schwall von Seifenblasen mit immer wiederkehrenden Beteuerungen und Statements. Steve fing an, die Parolen der Demonstranten zu skandieren, jetzt innerlich ruhiger in der Annahme, dass diese Demonstration nach dem gleichen Schema wie etliche andere verlaufen würde. Es gelang den Demonstranten nicht, sich gegen die enorme Lautsprecheranlage durchzusetzen, und weitergehende Aktionen verGesandten sich bei derartig massierten Polizeikräften. Das hatten zum Glück auch die Militantesten unter ihnen eingesehen.

      Boltagen hastete von einem Schlagwort zum nächsten, ohne seinen Worten die nötige Überzeugungskraft verleihen zu können. Die Menge zeigte sich wenig beeindruckt. Steve sah in apathische und mürrische Gesichter, spürte, dass die Menschen unruhig wurden. Boltagens Stern war am Verlöschen, sein Charisma verschwunden.

      Vielleicht war er krank, dachte Steve. Aber Boltagen machte eher einen ausgelaugten, mitgenommenen Eindruck. Um Steve herum fingen die Menschen an, sich mit ihren Nachbarn zu unterhalten, ein Teil von ihnen wandte sich gelangweilt schon nach zehn Minuten zum Gehen.

      Steve schmunzelte. Das würde den Regierenden gar nicht schmecken. Denn sie registrierten die Vorgänge ebenso, obwohl im Tri-Di sicher nur die klatschenden Anhänger der Bürgermeisters zu sehen sein würden. Er beobachtete, wie sich Telströms Gesicht zu einer ärgerlichen Fratze verzog. Vielleicht konnte Per hier einige schöne Fotos schießen.

      Gerade als Steve sich überlegte, ob auch er nach Hause gehen sollte, - die Rede konnte sich noch lange hinziehen, Boltagen besaß einen unerschöpflichen Wortschatz - nahm er eine Veränderung wahr.

      Die Luft um ihn herum begann zu knistern, als wäre sie elektrisch aufgeladen. Das Geräusch wurde innerhalb von Sekunden so intensiv, dass es ihm die Ohren verstopfte und keine anderen Töne mehr zuließ. Er hörte weder Boltagens Lautsprecherstimme, noch die Unterhaltungen seiner Nebenleute. Er sah, dass sie ihre Lippen bewegten und wollte ihnen etwas zurufen, doch ein Übelkeit erregendes Gefühl stieg in seinem Magen hoch, und er musste schlucken, um den Ekel herunterzuwürgen. Zugleich ergriff ihn eine Welle von Panik, und er vermutete zunächst den Einsatz von Kotzgas von Seiten der Polizei. Doch die Szenerie hatte sich nicht verändert. Noch nicht. Er bekämpfte seine Übelkeit und die aufsteigende Angst und hob erneut zu sprechen an, als das Knistern sich verstärkte und sich in einem lautlösen, weißen Blitz entlud.

      Schlagartig wusste Steve, was vorging; obwohl er es bisher nie im Wachzustand miterlebt hatte: ein Realitätswechsel kündigte sich an.

      War das der Moment, in dem sich seine Verrücktheit manifestierte? Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus, und dann war der Augenblick auch schon vorüber.

      Als wenn eine Kulisse durch eine andere ersetzt wurde, veränderte sich von einer Sekunde zur anderen seine Umgebung radikal. Um ihn herum schrien Menschen, rannten in wilder Flucht an ihm vorbei, stießen ihn zur Seite und drängten vom Marktplatz herunter. Das charakteristische Geräusch beim Abfeuern von Tränengasgranaten vermischte sich mit unverständlichen Lautsprecherdurchsagen und dem näherkommenden Trampeln schwerer Stiefel.

      Entsetzt und gelähmt starrte Steve auf das erschreckende Bild, das sich seinen Augen bot: aus den Polizisten vor der Bühne war eine Abteilung Soldaten geworden, die im Gleichschritt mit mehreren gepanzerten Fahrzeugen langsam gegen die Menge vorrückte. Eine weitere Abteilung Soldaten rannte hinter dem Parlamentsgebäude hervor und riegelte den Platz zu dieser Seite völlig ab. Über der fliehenden Menge kreiste ein Armeehubschrauber, aus dem ebenfalls mit Tränengas geschossen wurde.

      Immer noch bewegungsunfähig, seinen Augen nicht trauend, schwenkte Steve den Blick zur Bühne und erlebte einen Vorgang, der sich tief in sein Gedächtnis eingrub: Boltagen stand wie zuvor vor dem Mikrophon, die Arme triumphierend emporgerissen, ein irres Lachen verzerrte sein Gesicht. Auf seiner Schulter lag die Hand Telströms, der ebenfalls eine Siegerpose eingenommen hatte und nun seinem Freund die Hand schüttelte, als ob sie sich gegenseitig gratulierten.

      In diesem Moment war sich Steve völlig sicher, erkannt zu haben, was wirklich geschah. Ein eiskalter Schauer ließ ihn frösteln.

      Doch es war unmöglich, einen weiteren Gedanken zu fassen, er wurde von den panikerfüllten Menschen fast umgerannt, seine Augen begannen von dem Tränengas zu brennen, er musste husten und spucken.

      Bloß weg hier, dachte er, hatte aber für einen Moment jede Orientierung verloren. Eine Hand fasste seinen Arm.

      »Willst du hier Wurzeln schlagen?« keuchte es neben ihm.

      »Vicki« , stieß er hervor und ließ sich von seiner ehemaligen Mitbewohnerin und Freundin mitziehen.

      Ein Stich durchfuhr seine Brust, und trotz der brenzligen Situation schweiften seine Gedanken für einen Augenblick ab. Er hatte sie geliebt, liebte sie immer noch ... die kurze gemeinsame Zeit in der Wohngemeinschaft ... dann der Realitätswechsel vor zwei Wochen, der ihn in seiner jetzigen Behausung aufwachen ließ und Vickis Gefühle für ihn weggewischt hatte. Er war ihr seitdem aus dem Weg gegangen, und nun begegneten sie sich ausgerechnet hier wieder.

      »Hier entlang!« rief die blonde Frau ärgerlich. »Was ist los mit dir? Träumst du oder hast du etwas abbekommen?«

      »Nein, es geht schon wieder. Ich bin nur etwas durcheinander.«

      »Das sind ja ganz neue Züge an dir.«

      Allmählich fanden seine Füße den Rhythmus und er erkannte die Richtung, in die Vicki ihn führte. Er beglückwünschte sich im Nachhinein, dass seine Intuition ihm geraten hatte, sich nicht mitten in die Menge zu stellen. Wahrscheinlich wäre er von dort nicht mehr weggekommen. Das Schreien und Stöhnen der Fliehenden und Verletzten hinter ihnen, das dröhnende Geräusch des Helikopters und der Panzerfahrzeuge marterten seine Ohren. Doch nun, da der Fluchtinstinkt die Kontrolle über seinen Körper übernommen hatte, klärte sich auch der Nebel in seinen Gedanken.

      »Dorthin!« rief Vicki und zeigte auf eine der kleinen Seitenstraßen. »Von dort sind sie schon abgerückt.«

      Plötzlich blieb Steve stehen, Vickis Finger krallten sich in seinen Arm. Die Geräuschkulisse hatte sich verändert, es klang wie ...

      »Schüsse!« schrie er ungläubig. »Sie schießen auf die Leute!«

      »Komm weiter, drängte Vicki. »Tu nicht so, als wäre das etwas völlig Neues für dich. Es hat ja Tote genug in den letzten Monaten gegeben, und du warst oft dabei. Du wusstest doch, worauf du dich hier einlässt.«

      Automatisch rannte er weiter, seine Beine bewegten sich von selbst. Nun schossen sie also auf Menschen, konnte es noch schlimmer


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