Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt. Frank Westermann

Eine andere Realität oder Die Zerstörung der Welt - Frank Westermann


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hatte er das Erlebnis für einen seiner Alpträume gehalten und war wieder eingeschlafen. Als er zum zweiten Mal aufwachte, erging es ihm nicht besser: sein geräumiges Zimmer hatte sich in eine schäbige, kleine Behausung verwandelt. Er hatte geschrien und minutenlang die Kontrolle über sich verloren. Schließlich hatte er eine Tasse gegen die Wand geworfen, wobei sowohl die Tasse als auch der obere Rand seines Spiegels zerbrochen waren. Der Alptraum entpuppte sich als Wirklichkeit, und seine Freunde bestätigten ihm, dass er schon seit einem Jahr dort wohnte, die Regierung duldete kaum noch Wohngemeinschaften.

      Seit dieser Zeit hatte er die Kontakte zu Freunden auf das Notwendigste beschränkt. Die Gespräche mit Ihnen verliefen allzu frustrierend, und er hatte den Eindruck, dass einige ihn schon als Sonderling oder Spinner betrachteten. Schließlich erinnerte er sich an Erlebnisse, die sich - nach ihrem Wissen - niemals ereignet hatten, an Dinge, die niemals existiert hatten, an Situationen, die niemals eingetreten sein konnten.

      Fünf dieser plötzlichen Veränderungen waren über ihn hereingebrochen, und nach jeder hatten Umwälzungen stattgefunden, denen er hilf- und orientierungslos ausgesetzt war. Denn für alle anderen Menschen in Goldentor hatte es keine Veränderungen gegeben! Jeder - nach seiner Meinung - »neue« Zustand existierte in ihren Augen schon seit langem, und wie sollte er etwas erklären, das er unmöglich analysieren konnte?

      Nach gesundem Menschenverstand konnte es nicht wirklich sein, dass von einer Minute zur anderen niemand in der Wohngemeinschaft mehr über Geld verfügte, kaum etwas zu essen da war, alle Leute schlechter angezogen, die Lebensmittelpreise um das Doppelte gestiegen waren, Militär in den Straßen patrouillierte, das Parlament faktisch entmachtet und jede Oppositionspartei verGesandten war. Das konnte nicht geschehen, nicht innerhalb von zwei Wochen. Niemand glaubte so etwas. Es handelte sich hier immerhin um gesellschaftliche Veränderungsprozesse, geschichtliche Abläufe und keinen Hokuspokus.

      Und gerade er hatte sich immer eingebildet, etwas von historischen Veränderungsprozessen zu verstehen. Vielleicht war das seine Manie. Vielleicht litt er in diesem Punkt an krankhafter Selbstüberschätzung, und das wirkte sich jetzt auf so verheerende Weise aus.

      Ach, Unsinn! Diese Erklärung klang ebenso dürftig wie alle anderen, die er sich zurechtgelegt hatte, seit das Phänomen aufgetreten war.

      Er erinnerte sich an seine Gespräche mit Per, in denen er versucht hatte, seinem Freund nahezubringen, was mit ihm geschah. Die letzte Unterhaltung hatte einen besonders deprimierenden Verlauf genommen, nachdem Per darauf beharrt hatte, dass er sich in eine therapeutische Behandlung begeben sollte, und Steve ihn am Ende voller Ärger aus der Wohnung geworfen hatte. Natürlich hatte es wie jedes Mal damit begonnen, dass Per behauptete, Steve hätte mit ihm noch nie über dieses Thema gesprochen. Schon das hatte ihn zu einem Wutausbruch getrieben. Pers lässige, unschuldige Haltung, die Beine übereinandergeschlagen ... alles hatte ihn auf die Palme gebracht: seine unbewegliche Miene, die innere Ruhe, die er ausstrahlte, den bärtigen Kopf auf die Hand gestützt, die wasserblauen Augen, die fest auf ihn gerichtet waren. Steve war förmlich explodiert. Wieder einmal sollte er seine Geschichte erzählen, am Punkt Null anfangen, weil inzwischen eine »Veränderung« eingetreten war und Per sich an die vergangenen Gespräche nicht erinnern konnte, ja fest davon überzeugt war, sie hätten gar nicht stattgefunden.

      Das Gespräch konnte so zu keinem Ergebnis kommen, wie alle anderen auch, die er mit seinen Freunden geführt hatte. Das Phänomen war unschlagbar. Es gab kein Mittel zu beweisen, dass die Vergangenheit, so wie er sie kannte, Wirklichkeit gewesen war, denn niemand anders hatte eine Erinnerung daran. So war er letztlich vor die Alternative gestellt: entweder war er verrückt oder alle anderen. Und in diesem Fall sagte ihm die Vernunft, dass er der Kranke war.

      Wenn nur nicht diese Zweifel an ihm nagten, dieses Gefühl, als ob wirklich etwas geschah, das von einer Minute zur anderen die Welt veränderte.

      Gerade deswegen hatte er bevorzugt Auseinandersetzungen mit Per gesucht. Sein Freund beschäftigte sich schon seit vielen Jahren mit Mystik, außersinnlichen Wahrnehmungen und Schriften aus den Magischen Ländern der östlichen Hemisphäre. Doch die Annahme, dass irgendeine geheimnisvolle Kraft seit einigen Monaten dabei war, die Welt - oder zumindest Goldentor - nach Belieben zu verändern, wobei sie ausgerechnet ihn, Steve Halloran, davon ausnahm, hatte selbst in Pers Gedankenwelt keinen Platz.

      Steve glaubte ja selbst nicht daran. Wie oft hatte er sich mit Per über dessen mystischen Unsinn gestritten, und nun kam er selbst auf solch einen abstrusen Gedanken.

      Schließlich war er es doch gewesen, der hartnäckig versucht hatte, Per davon zu überzeugen, dass all dieser Firlefanz nur dazu diente, den Menschen Flucht- und Scheinwelten zu eröffnen, um sie von der sozialen Realität abzulenken, damit die Herrschenden umso leichter ihre Macht festigen und ausbauen konnten. Pers differenzierte Betrachtungsweise war ihm ein steter Dorn im Auge, denn dieser leugnete den politischen Aspekt durchaus nicht, vertrat aber die Ansicht, dass dieser »politische Dogmatismus« eine einseitige Sicht der Welt erzeugte und eher schädlich als hilfreich sei - gerade auch im Kampf um eine bessere Gesellschaft. Die Tatsache, dass in anderen Ländern die soziale Realität gerade auf dem fußte, was Steve so vehement ablehnte, brachte Per einen weiteren Pluspunkt in ihren Debatten.

      Und in gewisser Weise war Steve seinem Freund sogar dankbar für diese Auseinandersetzungen, die dafür sorgten, dass er seine Position immer wieder kritisch überdachte, und auch Menschen gegenüber aufgeschlossener wurde, die ihren Alltag nicht so wie er politischen Theorien und Aktivitäten verschrieben hatten.

      Seinen düsteren Gedanken nachhängend nahm er, fast ohne es zu registrieren, sein karges Frühstück ein. Die letzten heißen Sommertage des Jahres begannen schon am Morgen seine Dachwohnung wie einen Grill aufzuheizen. Ab mittags war es hier kaum noch auszuhalten, und er nahm sich vor, die nahegelegene Badeanstalt aufzusuchen, ehe die Demonstration heute Nachmittag anfing. Er war froh, in dieser Hitze nicht arbeiten zu müssen, auch wenn das Geld von der Sozialfürsorge kaum zum Überleben ausreichte. Den letzten Job hatte er vor zwei Tagen gekündigt, nachdem sich herausgestellt hatte, dass in dem Betrieb mit giftigen Stoffen ohne jegliche Schutzvorkehrungen hantiert wurde.

      Er packte Handtuch, Badehose und zwei Bücher zusammen und machte sich auf den Weg. Solange ihm nichts besseres einfiel, würde er seine Tage wie bisher verbringen müssen, obwohl er nicht wusste, wie lange er es noch aushalten würde, wenn die »Zeitsprünge« - wie er das Phänomen vorerst getauft hatte - bei ihm weiter andauerten.

      Draußen überfiel ihn die drückende Hitze, lähmte seine Gedanken. Ein leichter Wind wehte Smog und Staub aus der Industrieregion heran, der dröhnende Autoverkehr verursachte ihm Kopfschmerzen. So verbrachte er den halben Tag lesend, dösend und schwimmend in der überfüllten Badeanstalt auf einer verdorrten Wiese zwischen schwitzenden Leibern.

      Seine Bemühungen nicht so viel zu denken, abzuschalten, gelangen ihm überraschend gut, denn als er irgendwann auf die Uhr sah, musste er sich bereits beeilen, um noch rechtzeitig zum letzten Vorbereitungstreffen für die geplante Demonstration zu kommen.

      Der Anlass für die Demonstration war die gerade erfolgte Verschärfung der Sicherheitsgesetze, die es in Zukunft der Polizei erlaubte, »politische Tatverdächtige« bis zu 14 Tagen festzuhalten und in dieser Zeit auch Gespräche mit Anwälten und Familienangehörigen zu überwachen. In Goldentor konnte inzwischen von einer demokratischen Regierung keine Rede mehr sein, und diese Entwicklung hatte sich - zumindest für Steve - allein in den letzten zwei Monaten vollzogen. Für alle anderen, mit denen er gesprochen hatte, existierten diese quasi-diktatorischen Zustände allerdings schon seit Jahren. Auch die geringe Zahl an Menschen, die gegen dieses Regime Widerstand leisteten, schien nicht ungewöhnlich. Steve dagegen erinnerte sich an Zeiten - noch vor einem halben Jahr -, als die außerparlamentarische Opposition zu Tausenden zählte. Er hatte konkrete Hoffnungen gehegt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Regime endgültig abgewirtschaftet hatte. Es war sogar zu Reformen gezwungen worden, die Bevölkerung Goldentors hatte sich nicht mehr mit leeren Versprechungen abspeisen lassen. Die radikalen politischen Gruppierungen hatten offen den Sturz der Regierung propagiert, und ein nicht geringer Teil der Bevölkerung sympathisierte mit ihnen. Die Hoffnung, das Ende einer sogenannten Demokratie mitzuerleben, dessen politische und wirtschaftliche Machthaber sich immer mehr bereicherten,


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