Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten. Hunter S. Thompson
Plünderungen und Brandschatzungen, von Habgier, Vorurteilen, Bigotterie und so weiter … All dies mussten wir schon mitansehen, bis auf den Ausbruch der Sexualität, der der letzte Ausbruch sein wird – gleich einer Flut, die jeden Automaten fortspült. Amerika, diese gewaltige und komplizierte Maschine, wird zugrunde gehen. Ein Polarlicht wird diese einsame dunkle lange Nacht ankündigen. Und auch wenn es heißt, es werde sich eines Tages ein besserer Menschentypus entwickeln – schon möglich. Doch wenn das passiert, wird es von Grund auf sein. Mag der gegenwärtige Bestand einen wundervollen Dünger ergeben, der neue Mensch wird daraus nicht hervorgehen.«
Dies sind die Worte, die nachhallten, als er nach Big Sur zog, und sie verfolgten ihn regelrecht. Kaum hatte er sich hier angesiedelt, um aus einem »Alptraum mit Air-Condition« auszusteigen, wie er es nannte, waren unzählige Leute hinter ihm her und wollten ihm die Hand schütteln, ihn um Rat fragen und bedrängten ihn mit ihren eigenen Visionen und Mutmaßungen. Tag für Tag, Jahr für Jahr kämpften sie sich die steile staubige Straße zu seinem Haus in Partington Ridge hoch, wo Miller doch nur seine Ruhe haben wollte; denn wenn da oben ein freizügiger Karneval am Laufen war, wollten sie verdammt noch mal ein bisschen mitmischen. Beizeiten konnte man meinen, dass halb Greenwich Village auf seinem Rasen kampierte. Junge Ladies, mit nichts als einem Regenmantel bekleidet, zogen mitten in der Nacht vor seiner Haustür ihre Show ab, wilde Türken kamen per Anhalter aus New York und hatten alles, was sie besaßen, in ihren Reisetaschen dabei, Drifter aus allen Ecken des Landes schlugen hier auf, mit Säcken voller Essen und Whiskey, und sogar von Paris aus hatten es mittellose Franzosen bis hierher geschafft.
Miller ließ nichts unversucht, um sich dem Ansturm zu widersetzen, aber es half alles nichts. Mit seinem Ruhm wuchs auch die Zahl der Besucher beständig an, von denen viele nicht einmal seine Bücher kannten. Literatur interessierte sie nicht, sie wollten Orgien. Umso geschockter waren sie, als sie auf einen ruhigen, akkuraten, auf Moral bedachten Mann trafen – und nicht auf das Partysexmonster, von dem man sich die ganzen Geschichten erzählte. Die Orgien blieben aus, und die enttäuschten Groupies zogen weiter nach Los Angeles oder San Francisco. Oder aber sie blieben in Big Sur und versuchten, ihre eigenen Orgien aufzuziehen. Manche lebten in hohlen Bäumen, manche stießen auf verlassene Hütten, und einige streiften mit ihren Schlafsäcken einfach auf den Hügeln umher und lebten von Nüssen, Beeren und wild wachsenden Senfkörnern. Diejenigen, die nicht blieben, streuten auf ihren weiteren Wegen ihre Geschichten; sie wurden jedes Mal, wenn sie jemand weitererzählte, umso ausschweifender. Und so kamen immer noch mehr Leute, was Miller bis an den Rand der Verzweiflung brachte. Er stellte ein unübersehbares und unmissverständliches Warnschild oben an seiner Zufahrt auf, kultivierte ein bewusst unhöfliches Auftreten, um Besucher abzuschrecken, und versuchte mit allen möglichen Tricks, die Lage seines Wohnortes zu verschleiern. Vergebens. Am Ende überrannten sie ihn, und Big Sur war spätestens von da an auf der Karte der nationalen Sehenswürdigkeiten verzeichnet. Heute kommen sie noch immer, obwohl Miller längst seine Sachen gepackt hat und nach Europa geflohen ist; gut möglich, dass es für ihn Ferien auf Lebenszeit sind.
Eine besondere Ironie liegt darin, das Miller mehr über Big Sur geschrieben und es mehr gepriesen hat als jeder andere Schriftsteller. 1946 verfasste er einen Essay mit dem Titel Das ist meine Antwort, der schließlich in seinem 1958 publizierten Buch Big Sur und die Orangen des Hieronymus Bosch erschien – lange nach der ersten Invasion.
»Frieden und Einsamkeit. Ich habe einen Vorgeschmack davon bekommen, sogar hier in Amerika. Wenn ich morgens auf Partington Ridge aufstand, zur Tür der Hütte ging, um sie zu öffnen, schaute ich auf die samtigen, dahinrollenden Berge, und ich war so von Zufriedenheit und Dankbarkeit ergriffen, dass sich instinktiv meine segnende Hand hob … So möchte ich den Tag beginnen … Und das ist der Grund, warum ich mich in Big Sur niedergelassen habe. Jeder Tag sollte genau so beginnen … Hier herrschen Frieden und Gelassenheit, ein Leben mit ein paar guten Nachbarn, und sonst nur wilde Tiere, edle Bäume, Bussarde, Adler; das Meer, der Himmel, die Hügel, endlose Berge …«
Doch es kam der Tag, an dem Miller aus seiner Tür herausschaute und nicht mehr nur Bäume, wilde Tiere und eine Handvoll freundlicher Nachbarn vor sich sah. An manchem Morgen würde er auf die Lobgesänge auf den Ort verzichten und stattdessen der in seinem Garten versammelten Horde von Unverbesserlichen mit der Faust drohen. Sein Fall aber war speziell; er war ein Mann, den jeder kannte. Doch auch der Rest von Big Sur leistete erbitterten Widerstand, und obwohl die Schlacht von Anfang an verloren war, kam die Dampfwalze, die man Fortschritt nennt, nur langsam voran und steckte stellenweise komplett fest.
Es gibt hier Leute, die nicht die leiseste Ahnung haben, was sonst in der Welt vor sich geht. Sie haben seit Jahren keine Zeitung mehr gelesen, hören kein Radio und bekommen vielleicht einmal im Monat, wenn sie in die Stadt fahren, ein Fernsehgerät zu Gesicht.
Es kann ein traumatisches Erlebnis sein, in Big Sur die New York Times zu lesen. Wenn man hier schon ein paar Monate verbracht hat, kommt es einem zunehmend schwierig vor, die Masse an einschüchternden und komplexen Informationen noch irgendwie ernst zu nehmen. Es genügt, auf einer Klippe zu sitzen, hoch über dem felsigen Strand, am Rande des leeren weiten Ozeans, und hinter sich die geschichteten Hügel zu spüren, an denen wie an einer großen Wand das Durcheinander von Krieg und Politik abprallt, und schon erscheint einem die Welt der New York Times so unwirklich und fremd, so vollständig gegen die Stille und die Schönheit dieser Küste gerichtet, dass man sich manchmal nur noch wundert, wie die Menschen, die diese andere Welt bewohnen, bei Verstand bleiben. Was natürlich auch nicht allen gelingt. Täglich sieht man Menschen, die den Halt verlieren. Tausende sind überdreht, weil sie zu viel Zeitung lesen, und mit unzähligen anderen ist es bergab gegangen, ohne dass es einen erkennbaren Grund gegeben hätte.
Anders in Big Sur. Bis 1947 gab es nicht einmal Elektrizität, das Telefon wurde erst 1958 eingeführt. In New York, wo man ständig Geschichten über die »Bevölkerungsexplosion« an der Westküste hört, kann man es kaum glauben, dass es einen Ort wie diesen überhaupt gibt. Verglichen mit den anderen Teilen Kaliforniens scheint Big Sur extrem primitiv zu sein. Schroffe Hügel, die im Nirgendwo verlaufen, keine Supermärkte, keine Reklametafeln, kein ins Meer ragender Kai, der bevölkert ist und auf dem Handel getrieben wird. Entlang des gesamten Küstenstreifens, der sich über hundertdreißig Kilometer erstreckt, finden sich nur fünf Tankstellen und zwei Lebensmittelläden. Auf einem Abschnitt von achtzig Kilometern gibt es keine Elektrizität. Die Menschen, die hier leben – und manche von ihnen besitzen ganze Berge und jungfräuliche Ländereien –, benutzen immer noch Gaslaternen und Coleman-Öfen.
Trotz eines aggressiven Fortschritts ist es immer noch möglich, tagelang auf diesen Hügeln umherzuwandern und nur Rehe, Wölfe, Berglöwen und Wildschweine zu sehen, sonst nichts. Teile von Big Sur sind so ursprünglich und verlassen wie damals in jenen Tagen, als Jack London auf einem Pferd von San Francisco angeritten kam. Das Haus, in dem er wohnte, existiert noch; es befindet sich oben auf einem Kamm, einige Kilometer südlich vom Postamt.
Mit ein bisschen Glück kann man immer noch ganz für sich sein; die meisten aber, die es hierher verschlägt, haben anderes im Sinn. Es sind Durchreisende – »Verwaiste« und »Wochenendausflügler«. Die Verwaisten, das sind die spirituell Heimatlosen, verlorene Seelen einer genauso komplexen wie nervenaufreibenden Gesellschaft. Ob es sich um Rechtsanwälte, Arbeiter, Beatniks oder wohlhabende Dilettanten handelt – sie alle sind auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich niederlassen und »zuhause fühlen« können. Einige bleiben tatsächlich in Big Sur und finden die Art von Freiheit und Entspannung, die sie bislang vergeblich gesucht haben. Die meisten aber gehen wieder – es ist für ihren Geschmack »zu langweilig« oder »zu einsam«.
Der Wochenendausflügler dagegen ist ein anderes Geschöpf. Es mag ein Kundenberater oder eine Tunte aus Hollywood sein oder ein Major der Luftwaffe in Stanford – jedenfalls hat er Geschichten von Big Sur gehört und ist hier, um Spaß zu haben. Sein weibliches Gegenstück ist ein Teilzeitmodel aus L.A. oder ein kleines gelangweiltes Rich Girl aus San Francisco. Sie kommen alleine oder in Gruppen, freitags und samstags, sind ganz außer sich vor Neugierde und zu allem bereit. Es sind genau diejenigen, die mit den Orgien anfangen – die vom Gin besoffenen Heteros und die verkappten Perversen, die der Stadt entfliehen, um Dampf abzulassen. Sie starten gewöhnlich in Nepenthe, dem sommerlichen Hauptquartier