Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten. Hunter S. Thompson

Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten - Hunter S. Thompson


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als die gewöhnlichen Urlauber. Hotels gibt es keine, die Motels sind klein und bieten keine Abwechslungen, und wenn es hier ein Nachtleben gibt, dann nur um das Nepenthe herum – das fünf Mal im Jahr geschlossen ist. Die meisten der Bewohner sind auf ihre Privatsphäre geradezu versessen, und es gibt nichts, was ihnen mehr auf die Nerven ginge als neugierige Eindringlinge. Jemand, der mit einer Dose Bier auf einem Felsen sitzt, sich den Sonnenuntergang ansieht oder Wale betrachtet, die gerade aufs Meer hinaus ziehen, ist normalerweise nicht sehr erfreut, wenn er sein Lebensgefühl einem Geschäftsmann erklären soll, der auf Reisen ist und mal eben angehalten hat, »um mit einem der Einheimischen zu reden«.

      Jerry Gorslin hat die ersten achtzehn Jahre seines Lebens in New York zugebracht. Jetzt lebt er in einer verlassenen Bergbaumutung, vierzig Kilometer südlich von Hot Springs, und er ist mehr als glücklich, keine Gäste zu haben. Ein, zweimal die Woche fährt er die Küste hoch, um sich Bücher auszuleihen, legt einen Arbeitstag ein, um einem Typen zu helfen, der sein Haus ausbaut, oder er verbringt ein paar bierselige Stunden im heißen Schwefelbad. Das meis­te, was er zum Leben benötigt, baut er selbst an, er stellt seinen eigenen Wein her, kocht auf einem Holzofen und hält Kontakt zu seinen Freunden in Europa, wo er zwei Jahre lang vor Big Sur lebte.

      Lionel Olay, ein Schriftsteller, lebt mit einer jungen Frau und zwei Hunden versteckt auf den Hügeln. Jeden Monat verbringt er ein paar Tage in Hollywood, um Aufträge zu ergattern, zum Schreiben aber zieht er sich nach Big Sur zurück. Wenn Geld eintrifft, setzt er sich blitzschnell in Bewegung – Mexiko, Kuba, Spa­nien, dann wieder Big Sur.

      Jemand wie King Hutchinson ist hier seit drei Jahren und hat nicht vor wegzugehen. Er gehört zu der Vielzahl derer, die nach der »Sieben-zu-fünf-Regel« leben: sieben Monate arbeiten im Nepenthe, fünf Monate Arbeitslosenversicherung.

      Don Bloom ist Künstler. Er kann von dem, was er verdient, gerade so leben und zahlt 25 Dollar im Monat für eines der schönsten Häuser an der Küste. Er kommt auch ohne Elektrizität gut zurecht, hat einen der wundervollsten Gärten in ganz Big Sur und verbringt einen Gutteil des Tages auf seiner Veranda – und schaut aufs Meer.

      Alltag in Big Sur funktioniert so: auf Post warten, die Seelöwen in der Brandung beobachten, in den Wannen von Hot Springs sitzen, dann und wann den ein oder anderen Drink – und die meiste Zeit an dem Projekt arbeiten, das der Grund war, überhaupt herzukommen: Malerei, Schreiben, Gartenarbeit oder einfach die Kunst, sein eigenes Leben zu leben.

      Was – und wen – man hier findet, hängt vor allem davon ab, wo man sich bewegt. Partington Ridge zum Beispiel ist die Antwort von Big Sur auf die Park Avenue. Nicholas Roosevelt wohnt dort; ebenso Sam Hopkins vom Top-O’-the-Mark-Clan (Hopkins Hotel). Die Berühmtheiten – Dylan Thomas bis Arthur Krock und Clare Boothe – quartieren sich standesgemäß in Partington ein, und wenn sie sich an den Tisch zum Essen setzen, serviert man ihnen vermutlich alles, nur keine wild wachsenden Senfkörner.

      Etwas weiter unten an der Küste befinden sich die Besitztümer von Murphy, dazu gehört auch Hot Springs; die Gesamtmiete für neun Wohnungen kostet hier 176 Dollar im Monat. Es ist die reinste Wanderausstellung, in der man alles finden kann, von purer Gewalt bis zu Touch Football. Die Scheune ist für fünfzehn Dollar im Monat zu haben, das Bauernhaus für vierzig, und eine Hütte im Canyon bekommt man für fünf Dollar. Hier wohnt Emil White, und wenn man ihn einen Verleger nennen möchte, dann würde die Liste der Mieter ungefähr so aussehen: ein Fotograf, ein Barmann, ein Schreiner, ein Verleger, ein Schriftsteller, ein Abtrünniger, ein Metallbildhauer, ein Zen-Buddhist, ein Anwalt und drei Leute, die sich weder sexuell noch sozial oder sonst wie zuordnen lassen. Es gibt auf dem Grundstück nur zwei reguläre Ehefrauen; bei allen anderen handelt es sich um Geliebte, »Gefährtinnen« oder hoffnungslose Verliererinnen. Bis zuletzt war Dennis Murphy, der Romancier, der Lichtblick der Community; es ist seine Großmutter, der der ganze Kram gehört. Als sein Buch The Sergeant ein Bestseller wurde, waren Tag und Nacht Leute hinter ihm her, die Hunderte von Kilometern unterwegs gewesen waren, um auf ihn einzureden und ihm seinen Schnaps wegzutrinken. Nachdem das ein paar Monate so gegangen war, zog er nach Monterey.

      Die gute alte Mrs Murphy lebt hinter den Bergen in Salinas und kommt glücklicherweise nur zwei, drei Mal im Jahr nach Big Sur. Ihr Mann, Dr. Murphy senior, hatte das Gelände einst als einen groß angelegten Kurort geplant, als Trutzburg der Wohlanständigkeit und des gesunden Lebens. Aber irgendwas ist schief gelaufen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde es zur Anlaufstelle von Wehrdienstverweigerern und hat sich über die Jahre zu einem abgeschotteten Campingplatz für moralisch Deformierte entwickelt, einer Büchse der Pandora und einem Schauplatz menschlicher Absonderlichkeiten, einem beliebten Zufluchtsort für Trägheit und Dekadenz.

      In nicht allzu ferner Zukunft wird das Big-Sur-Fieber womöglich zu Ende sein. Miller sagte – an einem seiner freundlicheren Tage –, dass die Küste eines Tages die Riviera Amerikas werden würde. Wer weiß, es dürfte jedenfalls noch dauern. In der Zwischenzeit ist es eine so gute Kopie von Walhall, wie es das Land eben hergibt – und eines der besten Plätze der Welt, um nackt in der Sonne zu sitzen und die New York Times zu lesen.

      AN MRS V. A. MURPHY:

      Nach Erscheinen von Thompsons Artikel über Big Sur in Rogue war seine Vermieterin entschlossen, ihm zu kündigen – nicht nur, weil er ein Waffennarr und ständig betrunken sei, sondern auch, weil er in einem schmierigen Blatt Klatschgeschichten verbreiten würde.

      13. August 1961

      Big Sur

      Kalifornien

      Sehr geehrte Mrs Murphy,

      Ihr gestriger Besuch hat mich einigermaßen schockiert, und ich schreibe Ihnen nun diesen Brief, um Ihnen zu versichern, dass ich über eine mögliche Kündigung nicht gerade glücklich bin und deshalb alles Erdenkliche tun werde, um dies zu vermeiden.

      Zuallererst werde ich meine Schießübungen einstellen und den alten Dämon Rum eine Armlänge von mir fernhalten – sicher ist sicher.

      Ich bin der festen Überzeugung, dass Berichte über mein ungestümes Verhalten maßlos übertrieben sind. Ich habe zum Beispiel niemals jemanden mit einer Peitsche bedroht, und tatsächlich hat sich der einzige Akt von Gewaltanwendung, den ich erinnere, in dem Moment ereignet, da ich von einer Horde Homosexueller angegriffen wurde. Mag sein, dass Mrs Webb auch Visionen außerhalb ihrer religiösen Praktiken hat – das würde mich nicht überraschen.

      Klar ist, dass ich die Fenster von Kay wieder in Ordnung bringe10 und, wie Sie vorgeschlagen haben, mich in Zukunft zu den Felsen oder in den Canyon zurückziehe, wenn ich ein Bedürfnis nach Schießen verspüre. Wegen der Waffe klangen Sie recht besorgt, es handelt sich aber nur um eine Pistole vom Kaliber 22, die kleinste, die man kaufen kann. Sie ist ordnungsgemäß in Sacramento registriert, und da ich sie nie verdeckt mit mir herumtrage, benötige ich keine weitere Erlaubnis dafür. Ich versichere Ihnen, dass das alles absolut legal ist.

      Da sich jetzt der Sommer dem Ende neigt, dürfte es hier bald ein bisschen friedlicher zugehen. Probleme kamen überhaupt nur auf, als die Gegend von Besuchern förmlich überrannt wurde. Ich denke auch, wenn erst einmal Mike und Dick die Hütte übernehmen, wird sich die Situation spürbar verbessern.

      Danke für Ihre Geduld. Und übrigens, falls es Sie interessiert, ich habe heute eine Short Story verkauft und bin mit mehr als der Hälfte meines Romans fertig. Ich muss mich in den nächsten Monaten voll und ausschließlich darauf konzentrieren und werde deshalb Trinkexzessen und jeder Art von Gewalt entsagen. Sollte ich dann einmal wieder etwas wirklich Aufregendes erleben wollen, werde ich Urlaub auf den West Indies machen, Rum trinken und mit Haien kämpfen. Bis dahin verbleibe ich,

      absolut friedlich,

      Hunter S. Thompson

      AN EUGENE W. McGARR:

      19. Oktober 1961

      Big Sur

      Na gut, McGarr, ich weiß es genau, Du willst mehr über das High Life in Big Sur erfahren. Setz Dich also mal schön hin, egal, wie viele Fleischstücke oder was für eine Pampe auch immer Du gerade in Händen hältst, und hör


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