Still. Zoran Drvenkar

Still - Zoran Drvenkar


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lebst deine erste Rebellion, es ist ein wunderbares Gefühl der Macht, bewußt Nein zu sagen.

      – Lucia?

      – Was denn?

      – Mach mal was.

      Du wünschst dir, deine Eltern wären noch da. Bestimmt würden sie dann mit Kerzen zu euch hochkommen, wie letztes Jahr, als ein heftiger Sturm über Berlin hereinbrach und der Strom für Stunden ausfiel. Dein Bruder hatte alles verschlafen, du aber weißt noch ganz genau, wie es sich angefühlt hat, zwischen den Eltern zu liegen und dem Wind zu lauschen, der zornig an den Fensterläden rüttelte, während dein Vater im Kerzenschein aus einem Buch vorlas und deine Mutter dir über das Haar strich, als wäre der Sturm aus deinem Kopf entflohen und sie müßte nur deine Gedanken besänftigen, dann würde auch das Unwetter sich beruhigen. Das war im Sommer, jetzt ist Winter, und du wünschst dir, deine Eltern wären noch im Haus.

      Kaum hast du das gedacht, hörst du Schritte auf der Treppe. Es knarrt, und dein Bruder sagt was, aber du achtest nicht auf ihn, denn du konzentrierst dich auf dieses Knarren.

      Einmal, zweimal. Pause.

      Ein drittes Mal.

      Du weißt, woher das Knarren kommt. Es ist die achte Stufe von unten. Sie ist lose, seitdem eurer Mutter beim Putzen der Staubsauger runtergefallen ist. Euer Vater will die Stufe seit Monaten reparieren, und niemand tritt mehr drauf, weil das Knarren so fies ist, daß selbst dein kleiner Bruder sich das gemerkt hat.

      Es knarrt ein viertes Mal.

      Wer ist das? denkst du, als die Tür zu deinem Zimmer aufschwingt.

      Sechs Jahre später sitzt du auf einem Stuhl und dein Bruder und deine Eltern sind nicht mehr. Ihre Namen, ihre Worte, ihre Gedanken. Die Erinnerung an sie befindet sich in einem verschlossenen Zimmer, von dem niemand weiß, daß es existiert. Deine Erinnerung ruht dort und auch du ruhst. Ohne Bewußtsein, ohne Gedanken. Du kannst dieses Zimmer nicht betreten, denn du bist in dir selbst gefangen. Dein Bewußtsein ist ein zerbombtes Dorf, aus dem alle Bewohner geflohen sind. Alle außer dir. Du sitzt in den Ruinen und bist geduldig. Deine rechte Hand liegt auf deinem rechten Knie, die Handfläche zeigt nach oben und wartet, daß jemand kommt und den Schlüssel hineinlegt, der das Zimmer deiner Erinnerung öffnet.

      Und wann immer jemand deine Hand schließt, kommen dir die Tränen.

      Und wann immer Schnee fällt, stirbst du ein bißchen mehr. Du bist eine Tote, die atmet. Du bist eine Tote, die wartet. Genau das hast du gesagt, als sie dich fanden.

      – Ich bin tot.

      – Nein, widersprachen sie dir, Du bist gerettet.

      Als du das hörtest, hast du dir gedacht: Nur ein Lebender kann sowas sagen, die Toten wissen es besser. Seitdem sitzt du geduldig am Fenster, Tag für Tag, mit der offenen Hand auf dem Knie und hoffst und wartest, daß jemand den Schlüssel findet und zu dir bringt. Jemand wie ich.

      ICH

      1

      Ich will nichts Falsches sagen. Ich habe mein drittes Bier vor mir stehen und will auf keinen Fall was Falsches sagen. Die Jukebox wiederholt Eye of the Tiger zum achten Mal an diesem Abend, der Dartautomat dudelt seine Melodie, das Licht ist gedimmt. Ich starre auf die Theke. Die Worte in meinem Kopf sind poliert wie Flußkiesel, die vom Wasser glattgerieben wurden. Keine Kanten, keine Ecken. Ich sortiere sie immer wieder neu und suche nach der richtigen Ordnung. Die Worte müssen mir ins Blut übergehen. Ich muß ein Teil des Flusses sein.

      Der Mann links von mir murmelt, daß nichts mehr so ist, wie es einmal war, seitdem keiner mehr rauchen darf, wann er will, wo er will, und sind wir denn hier in der DDR oder was? Er wiederholt sich wie einer von diesen mechanischen Papageien, die auf dem Volksfest die Besucher anlocken sollen. Die Leute ignorieren ihn, der Barkeeper wischt über die Theke, ich sehe auf.

      Sie sind zu zweit an einem der Tische. Sie sitzen im Halbdunkel und reden, wie Männer gerne reden – mit beiden Händen ums Glas, ohne sich anzusehen, versunken im Bierschaum oder in der Maserung des Tisches und manchmal auch im Raum, als wäre da ein unsichtbarer Zuhörer. Einer der Männer fängt meinen Blick auf, ich nicke ihm zu und hebe mein Glas. Er nickt zurück, läßt sein Glas aber stehen.

      Der Anfang ist gemacht.

      Ich zahle und gehe.

      Zu Hause stelle ich mich unter die Dusche und warte, daß die Kälte weicht. Das Bad ist eine Nebellandschaft, meine Haut steht in Flammen, die Fingerspitzen sind aufgequollen. Nach zehn Minuten gebe ich auf. Die Kälte sitzt so tief in meinen Knochen, daß ich frierend aus der Dusche steige. Nichts hilft.

      Die nächsten Stunden verbringe ich im Internet, bis meine Beine unruhig sind und ich saure Übelkeit auf der Zunge schmecken kann. Ich will die Augen nicht verschließen. Ich will sehen, was es zu sehen gibt. Nach sechzehn Downloads kann ich nicht mehr. Es ist keine gute Zeit für mich. Ich balanciere auf einem schmalen Grat entlang, dabei weiß ich es besser. Es gibt Regeln. Wir sollten immer jemanden an unserer Seite haben, der uns vor dem Absturz bewahrt. Immer. Meine Frau fehlt mir. Sie ist bitter, sie ist wütend. Ich kann mich nicht gut erklären. Sie nennt mich krank, sie nennt mich pervers und hat mir mit der Polizei gedroht. Ich konnte sie nur ansehen. Ich bin nicht der, der ich sein wollte. Ich wurde zu dem, der ich bin, weil der Wind sich gedreht hat, weil ein Stern verlöscht ist oder irgendwo in Afrika ein Blatt vom Baum fiel. Ich weiß, es wird nicht ewig so weitergehen. Ich arbeite daran.

      Meine größte Sorge ist im Moment, daß man mich so kurz vor meinem Ziel ausfindig machen könnte. Auch wenn alle sagen, daß das Usenet sicher ist, gibt es keine Garantien. Nichts im Internet ist sicher. Vielleicht bin ich paranoid, vielleicht reichen die neu installierten Programme völlig aus. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, es ist das Risiko wert. Jeden Tag aufs Neue.

      Das Notebook fährt mit einem Seufzer herunter, ich klappe es zu und gehe schlafen.

      2

      Der Pub befindet sich in Friedenau und wirkt sehr stilvoll. Er ist keine von diesen Kneipen mit Spitzengardinen und Stammtisch. Sie haben Guinness und Murphy ’s vom Faß, und zu jedem Bier gibt es eine kleine Schale mit Chips oder Erdnüssen. Zu Weihnachten befanden sich Lebkuchenherzen in den Schalen, und den ersten Glühwein gab es umsonst. Obwohl der Pub schon ab zwei geöffnet hat, kommen die Gäste erst zum späten Nachmittag. Anfangs habe ich jeden dritten Tag vorbeigeschaut, jetzt lasse ich kaum einen Abend aus. Ich trinke, werfe Geld in die Jukebox, trinke mehr. Ich werde gesehen, denn ich lasse mich sehen, und spricht mich jemand an, antworte ich, ansonsten bin ich für mich allein.

      Die Barkeeper wechseln sich die Woche über ab. Gunter. Ivan. Ferris. Jeder von ihnen hat seine Art, seinen Humor, sein eigenes Publikum. Ich beobachte, an welchen Tagen welche Gäste in den Pub kommen. Studenten, Vereinsleute, Junggesellen, Pärchen, Dartspieler, Säufer. Die, die sich langweilen, die sich einsam fühlen, und dann die, die so sehr mit der Umgebung verschmelzen, daß man mehrmals hinschauen muß, um sie zu bemerken. Leute wie ich. Leute, die an dem Tisch in der Ecke sitzen. Ich weiß, wer sie sind. Ich bin bereit für sie. Und was auch passiert, ich darf nichts Falsches sagen. Keine Ecken, keine Kanten.

      Am nächsten Abend hebt einer der Männer sein Glas und prostet mir zu. Auch der andere sieht mich an. Geduldig. Ich nicke nicht. Ich lächle nicht. Ich halte seinem Blick stand. Das habe ich vor dem Spiegel geübt, bis mir schwindelig wurde und ich Tränen in den Augen hatte. Der Blickkontakt bricht ab, weil der eine Mann was zum anderen Mann sagt. Als ich erneut aufsehe, winken sie mich zu sich.

      Heute sind sie zu zweit, manchmal sind sie zu dritt, aber ich weiß, daß sie erst zu viert komplett sind. Ich kenne ihre Namen. Seit einem Jahr studiere ich diese Männer wie einen Splitter, der sich mir unter die Haut gebohrt hat – ich spüre ihn, sehe ihn aber nicht. Seit zwei Monaten besuche ich diesen Pub regelmäßig. Ich darf es nicht vermasseln. Sie müssen mich verstehen. Das ist die ganze Wahrheit: ich lechze nach ihrem Verständnis.

      Hagen ist groß und schlank. Er hat das


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