Still. Zoran Drvenkar

Still - Zoran Drvenkar


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jetzt betreibt er mit seiner Frau eine Fahrschule in Frohnau. Lemke & Lenkrad. Er fährt das ganze Jahr über Motorrad und trägt einen offenen Helm. Dementsprechend ist sein Gesicht windgegerbt, und die Männer nennen ihn spaßeshalber Leatherface. Edmont hat ein winziges Hörgerät, ohne das er auf dem rechten Ohr taub wäre. »Irgendeine Kinderkrankheit«, hat er mir erklärt, aber ich weiß es besser. Als er sieben war, schlug ihn sein Stiefvater krankenhausreif. Edmont spricht nie über seine Kindheit. Er spricht viel über seine Urlaube. Die letzten drei Wochen war er mit seiner Frau in Tunesien. Sie verreisen zweimal im Jahr. Es muß immer exotisch sein, denn exotisch ist anders und spannend. Jetzt ist er braungebrannt und froh, wieder in Deutschland zu sein. Er sorgt für die Balance in der Gruppe, er wäre gerne der Anführer, der Anführer ist noch nicht da.

      – Irgendwas von Franco gehört? fragt Hagen.

      Achim und Edmont schütteln den Kopf.

      – Ich ruf ihn mal an.

      Hagen fischt sein Handy heraus. Achim legt ihm die Hand auf den Arm.

      – Franco kommt schon.

      – Aber---

      – Alter, laß es sein, okay?

      Achim grinst, seine Zähne sind unglaublich weiß, Hagen steckt das Handy weg, sein Gesicht ist rot angelaufen, er nimmt die Wollmütze ab und fährt sich durch die Haare. Es ist an der Zeit, daß ich neugierig bin.

      – Wer ist Franco?

      Edmont lacht, und wenn Edmont lacht, ist am Tisch alles wieder gut. Hagen ist der schüchterne Witzbold, Achim der Brüter und Franco ihr Anführer. Edmont hat sich wieder gefangen, er wischt sich eine Träne aus dem Auge und legt dann die Hände zusammen, als würde er ein Gebet in den Himmel schicken. Mit tiefernster Stimme sagt er:

      – Du fragst, wer Franco ist? Ich sage dir, wer Franco ist. Franco ist Gott.

      Achim spuckt vor Lachen sein Bier über den Tisch. Hagen schmeißt Edmont ein paar Erdnüsse an den Kopf. Edmont grinst. Ich schaue überrascht.

      – Gott! spielt Hagen das Echo und weitet dabei seine blauen Engelsaugen, Jeder muß einen Gott haben, unser Gott ist Franco, verstehst du?

      Ich verstehe. Wir lachen zusammen.

      4

      Einen Abend später betritt Gott den Pub und sieht sich um. Sein voller Name ist Franco Abramo Pardi, und er arbeitet für das Radio. Als er acht war, verließen seine Eltern Italien und kamen nach Deutschland, wo sie im Zentrum von Stuttgart eine Pizzeria eröffneten. Franco hielt nie viel von dem Familienbetrieb, er hatte nur ein Ziel, und das war, so schnell wie möglich aus Stuttgart verschwinden. Wenn Achim eine Bulldogge ist, dann ist Franco ein Windhund. Elegant, schlank, edel. Er trägt nur italienische Markenklamotten, und seine Schuhe werden in Turin handgemacht. Ein Seidenschal verbirgt eine Narbe, die ein Strick vor dreißig Jahren hinterlassen hat. Im Polizeibericht steht, zwei Türken hätten Franco vor dem Restaurant seiner Eltern aufgelauert. In dem Polizeibericht steht nicht, was Franco den zwei Türken danach angetan hat. Damals war er siebzehn, es war auch das Jahr, in dem er Stuttgart verließ. Franco trinkt als einziger von uns Rotwein.

      – Du mußt Mika sein.

      Er reicht mir die Hand. Seine Finger sind eisig von der Kälte, aber sein Griff ist warm und sicher. Achim nickt mir zu, als hätte ich eine Prüfung bestanden. Franco setzt sich. Er sieht nicht aus wie achtundvierzig, ich hätte ihn gute zehn Jahre jünger geschätzt. Edmont kehrt von den Toiletten zurück und riecht nach Zigarettenrauch. Seit Jahren versucht er, mit dem Rauchen aufzuhören. Wir tun, als hätte er es geschafft. Edmont freut sich, Franco wiederzusehen.

      – Na, Meister, alles klar?

      – Alles klar, Edmont. Wo ist Hagen?

      – Er kommt gleich.

      Edmont wedelt mit der Hand, ich soll rüberrutschen. Ich rutsche rüber, er setzt sich neben mich auf die Bank, legt seinen Arm um meine Schulter und zeigt mit dem Kinn auf Franco.

      – Siehst du den? Ich nicke.

      – Das ist Gott.

      Franco lächelt zufrieden. Edmont spricht weiter.

      – Wenn du nachts im Bett liegst und nicht mehr weiterweißt, dann machst du das Radio an und suchst ein wenig nach dem richtigen Sender, und wenn du Glück hast, hörst du, wie Gott zu dir spricht.

      – Aber nur, wenn du Glück hast, sagt Gott.

      – Ich werde es versuchen, verspreche ich.

      Gegen Mitternacht kommt Hagen dazu, und wir sind das erste Mal komplett. Die Zeit des Wartens ist vorbei. Sie sind alle in der Stadt und werden die nächsten Wochen in der Stadt bleiben. Wir sind fünf Männer um einem Tisch, die ihre Gläser heben.

      – Auf unseren Neuen!

      Sie mögen mich. Ich bin schüchtern und dennoch neugierig, ich zeige Respekt und kann zuhören. Achim und Edmont reden von ihrer Studienzeit, Franco hat nie studiert, und Hagen wünscht sich manchmal, er würde es noch immer tun. Achim reibt sich über den geschorenen Kopf und stellt fest, daß ihm die langen Haare manchmal fehlen würden. Edmont will in diesem Winter unbedingt in eine Schwitzhütte und »mal so richtig die Sau rauslassen«. Achim sagt, für sowas wäre er zu alt. Franco fragt mich, was ich von Neapel halte. Er besitzt dort zwei Hotels, klein aber chic. Er liebt sein Heimatland und weiß überhaupt nicht, was er im arschkalten Deutschland verloren hat. Hagen spricht von seinem Ruderverein, von der vietnamesischen Küche und den vielen Serien, die er aus dem Fernsehen aufnimmt, um dann die Werbung rauszuschneiden. Hagen kauft keine DVDs.

      – Ich bin ja kein Idiot, erklärt er mir.

      Sie reden gerne durcheinander, aber sie hören, was der andere sagt. Es ist ein guter Rhythmus, es gibt keinen unangenehmen Moment des Schweigens. Der Schlagabtausch ist entspannt, denn sie sind zufrieden mit sich, und es gibt viel zu erzählen.

      Achim hält sich als einziger zurück. Wenn Ratschläge gefragt sind, hat er immer ein paar parat, ansonsten ist er wie ein Reserverad, das gepflegt wird, weil man ja nie weiß, ob man es braucht. Er beobachtet. Ich habe das Gefühl, daß ihm nichts entgeht. Vor Achim muß ich mich in Acht nehmen, jede Bewegung und jedes Wort muß stimmen. Achim und Franco haben als einzige Familie und bereuen es nicht. Edmont wird nächstes Jahr fünfzig und denkt nicht daran, sich ein Kind ans Bein zu binden. Hagen ist single und will es auch bleiben.

      Der Abend endet vor dem Pub. Wir schließen Jacken und Mäntel und ziehen die Schultern hoch. Die eisige Luft sticht in den Lungen. Franco drückt mir zum Abschied die Hand und sagt, es hätte ihn sehr gefreut mich kennenzulernen. Edmont steigt auf sein Motorrad und setzt den Helm auf. Er will nicht, daß wir Motorrad sagen. Es ist eine Yamaha XVS 1100 Drag Star. Cruiser ist das richtige Wort. Edmont tätschelt den Tank, als wäre er der Maschine dankbar, daß sie auf ihn gewartet hat. Dann streift er sich die Handschuhe über und fährt vom Bordstein. Der Zopf ragt wie ein Stück Tau unter dem Helm hervor und hängt gerade auf seinen Rücken. Achim schaut auf seine Uhr und überquert die Straße, ohne sich von uns zu verabschieden. Hagen winkt ein Taxi heran. Ich sage, ich habe nicht weit zu laufen. Hagen und Franco steigen ein. Als das Taxi außer Sichtweite ist, hocke ich mich zwischen zwei geparkte Autos und erbreche den Abend. Ich bin zu nervös, meine eigenen Worte machen mir Angst, ich darf verdammt nochmal nichts Falsches sagen.

      Ich fürchte mich vor mir selbst.

      5

      – Mensch, wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht gesehen!

      Er ist mein Urologe. Ich brauche keinen Termin, ich kann zu ihm kommen, wann ich will, er zieht mich immer den anderen Patienten vor. Wir plaudern eine Viertelstunde, dann fragt er, was mich zu ihm führen würde. Er kennt mein Leben nicht mehr. Wir haben zusammen studiert, ehe er zu den Medizinern wechselte. Vor drei Jahren haben wir uns das letzte Mal gesehen. Kein Mann geht aus Spaß zum Urologen.

      –


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