Cyberland. Gundolf S. Freyermuth
sammelt sich der Dreck, ausgedeuteten Tagesresten gleich: zerrissene Kartons, gebrochene Spritzen, alpträumende Maskengesichter, deren stiere Blicke einen Punkt jenseits jedes Bewusstseins fixieren. Zurück und willkommen in der Realität.
Aktuelle Position nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Straßen in der Bay Area. Zeit: 26:30 h nach dem ersten Kontakt.
»Wer über den Rand der Welt hinaussegelt«, sagt R. U. Sirius, »stürzt in einen Abgrund. Dachten die Leute zu Columbus’ Zeiten jedenfalls, und in gewisser Hinsicht haben sie Recht behalten. Er fiel aus der Alten Welt raus und in die Neue rein.«
Wir stolpern stocknüchtern. Nach Stunden in vollklimatisierten Innenräumen beißt die Wintersamstagnacht. Gegrilltes, Gebratenes, Frittiertes - eine Suada verbrauchter Genüsse, im San-Francisco-Sauerstoff gespeichert wie auf dem ROM-Chip eines Riechzellen-Implantats.
»Ich kann die Bahn nehmen.«
R. U. Sirius lächelt. Der Cyber-Experte ist zu Fuß unterwegs. Im automobilen Kalifornien des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts erscheint das exzentrischer als per Anhalter durch die Galaxis zu reisen. Sirius bleibt stehen und sieht mir in die Augen.
»Wie kommst du nach Hause?«
Ich ziehe die Schultern hoch und schaue gleichgültig in die westliche Richtung, in der ich Downtown vermute.
»Laufen wir noch ein bisschen«, meint mein Fremdenführer und saugt die Luft so tief wie den Rauch eines Joints ein.
Allmählich gewöhnen sich unsere Rezeptoren an die irritierende Datensuppe aus Brems- und Abblendlichtern, gegarten Organen und Abgasen, und die Gedanken kehren zurück zur Matrix, dem dichten elektronischen Netz, das den verpuzzelten Planeten umspannt und um das unser Gespräch seit Stunden kreist.
»Das Konzept einer monolithischen Wirklichkeit, auf die sich verschiedene Leute einigen können, hält nicht mehr«, sagt R. U. Sirius. »Alle Erfahrungen werden digitalisiert. Das erlaubt uns, die Wirklichkeit nach unseren eigenen Bedürfnissen zu verstärken, zu ändern oder umzumodeln. Wir nehmen Abschied von der Vergangenheit mit ihrer Mono-Realität.«
Der utopische Welten-Raum, in dem das geschieht, liegt in der Matrix und heißt Cyberspace.
»Er ist die neue frontier, die Grenze, an die das Bewusstsein heute stößt«, sagt R. U. Sirius. Er trägt eine Wildlederjacke. Über den hochgestellten Fellkragen hängen einen halben Meter tief die dunkelblonden Haare wie Rapunzels Rettungsstrick. »Was auf uns wartet, wissen wir nicht genau. Aber wir wissen, dass wir von nun an nicht mehr nur in unseren Körpern und unter unseren Mitmenschen leben werden.«
Die Matrix ist allgegenwärtig und Cyberspace überall. Das Alltagsleben wird längst vom kristallinen Datendickicht auf Billiarden von Kabelkilometern und unzähligen Frequenzen umfangen, vom digitalen 0-1-Dauergetrommel, von tuckernden Analogimpulsen und fiebernden Lichtlinien, kybernetisch gesteuert von intelligenten Routern, Modulatoren und Servern.
Natur- und Geisteswissenschaftler präsentieren ihre neuesten Erkenntnisse online, die Geheimnisse der Militärs kursieren im Cyberspace, ebenso die Memoranden und Bilanzen der mächtigsten Konzerne und vor allem das Geld, die Börsenkurse von New York und Tokio und Frankfurt, Milliarden-Transaktionen zwischen Hongkong und Helsinki, Daueraufträge von Berlin nach Pinneberg.
Rund um die Uhr wird in den globalen Salons jede Sorte von technischem Fortschritt und philosophischer Spekulation diskutiert. Politische Gruppen, von Anarchisten diverser Spielarten bis zu den Rechtsradikalen aller Nationen, bearbeiten ihre Anhänger, Kirchen und Sekten senden ihre Heilsbotschaften, ein paar hunderttausend Studenten vergnügen sich elektronisch bei naiven, phantastischen und perversen Rollenspielen, und eine erkleckliche Zahl von Cybernauten besorgt sich in den Netzen regelmäßig ihre Orgasmen.
Nur fern unserer Computer, als entstöpselte Köpfe, Interface-loses Fleisch und Blut, leben wir noch im elektronischen Exil - taub und blind für das berauschende globale Chaos aus Bits und Bytes, das allzeit schwirrend um uns ist, vergraben im Boden unter unseren Füßen, weit über unseren Köpfen, wo die Satelliten stehen, und, ein Stück tiefer, in den schwarzweißen Waben der vollverkabelten Wolkenkratzer von Downtown San Francisco.
Hinter ihnen versteckt sich der Stille Ozean. Seine Wellen markieren die vorletzte Grenze. Fünf Jahrhunderte wanderte die europäische Freiheits-Sehnsucht westwärts. An den pazifischen Klippen kam der Halt. Ozean der Tränen, der verlorenen Hoffnungen haben ihn deshalb verzweifelte Kalifornier wie Raymond Chandler getauft. Überwunden war die gute alte frontier, der Wilde Westen, ein transatlantischer Freiraum aus unendlich weiten Prärien, den die Flüchtlinge vor Armut und Enge per Planwagen eroberten. Das Ziel dieser Wanderung, die eine ganze Kultur bewegt hatte, war am Pazifik erreicht. An seiner Küste wartete die fürchterliche Erkenntnis, dass die Erde zu Ende war. Vermessen, eingezäunt, dicht.
»Wir erobern uns jetzt neue Territorien der Freiheit«, sagt R. U. Sirius. »Wir dringen in Bilder- und Datenwelten vor, die quer über den Planeten und im Orbit über uns rasen. Wie Prometheus erfahren wir Geheimnisse, die nicht für Menschen geschaffen wurden. Wie Faust schließen wir Pakte, die unseren Horizont überschreiten. Wie Frankenstein spielen wir mit der Biologie, mit unseren Körpern, mit dem Leben selbst.«
Gefangen am Pazifik, in der Wendeschleife der Westwanderung, blieb der undomestizierten Sehnsucht, die sich der Gewalt des Realen nicht beugen wollte, nur die Suche nach anderen Auswegen: die psychedelische Flucht in verborgene Partien unseres Gehirns; die Science-/Science-Fiction-Suche nach einem Weg ins All. Ernstzunehmende Expeditionen in beiderlei Richtungen begannen hier denn auch bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Sie eskalierten in den sechziger und siebziger Jahren, und dabei eröffnete sich - vorerst und solange der Weg zu den Sternen zu steinig ist - eine neue frontier: die grenzenlose Weite und unkontrollierte Freiheit des Cyberspace.
»Anfang der achtziger Jahre saß ich an der Ostküste, studierte Literatur und schrieb an einem Roman mit dem Titel ‘Dr. Fick oder Die humorvollen Permutationen menschlichen Fleisches im DNA-Zeitalter’«, sagt R. U. Sirius. »Aber ich spürte, dass der wahre Wettlauf hier in Kalifornien startete. In Berkeley und Silicon Valley. Timothy Leary hat damals gesagt, wer östlich der Rocky Mountains wohnt, lebt in der Vergangenheit. Denn wo die technische Führung liegt, entwickeln sich auch die fortgeschrittensten menschlichen Verhältnisse. Das war in der Renaissance so, das ist jetzt wieder so. Cyberspace entsteht, wo das Geld und wo die Macht sind. Also packte ich meine Siebensachen und zog ins Zentrum aller Bewegung.«
R. U. Sirius tritt mit schnellen tänzelnden Schritten durch die dünne Kette von Abblend- und Schlusslichtern hindurch. Seine farblosen Cordjeans hängen tief, so tief, wie die Helden der alten frontier ihren Revolvergurt trugen. 1992 hat er - zusammen mit »Mondo 2000«-Mitbegründerin Queen Mu und Hegels Ur-ur-ur-Enkel, dem Mathematiker und SF-Autor Rudy Rucker - den hochglänzenden »User’s Guide to the New Edge« publiziert, ein Verbraucherhandbuch, das im Untertitel eine Gebrauchsanweisung für »Cyberpunk, virtuelle Realität, Wetware, Designer-Aphrodisiaka, künstliches Leben, techno-erotischen Paganismus und anderes mehr« verspricht. Seitdem ist er der prominenteste aller Cyberpropagandisten, einer der wenigen »authentisch-gefälschten Medien-Cyberpunks unserer Zeit«, wie »Wired« schrieb. Oder in den Worten, die Bruce Sterling im Vorwort zum »Cyberpunk Handbook« wählte: »R.U. Sirius ähnelt Gomez Adams mit einer purpurnen Fedora, an die er ein Andy-Warhol-Abzeichen gesteckt hat.«
Das künstliche Lichtgewitter der Stadt verbirgt das Universum über uns, doch Sirius steht dort als der hellste Fixstern am Abendfirmament. Sein heliakischer Aufgang bestimmte die Zeitrechnung im Reich der Pharaonen. R. U. spricht sich im Englischen »Are you« aus: »Are you serious?« Meinst Du das ernst?
Das habe ich meinen Fremdenführer in den vergangenen Stunden oft gefragt. Und R. U. Sirius, der den Großteil seines erwachsenen Lebens Ken Goffman hieß, hat stets genickt und sanft und leicht zahnlückig zurückgelächelt.
»Ich nehme nie etwas zu ernst«, sagt er jetzt, auf der weißen Mittellinie wandernd, als gäbe es keinen Verkehr, und die Wagen heulen hupend vorbei: »Ich neige zu einer kritischen Verteidigung der Cyberkultur. Aber sie ist im Augenblick so in, dass Spott nicht schadet. Eins meiner neuen Bücher endet damit, dass