Cyberland. Gundolf S. Freyermuth
und »Hebephrenekerin im Endstadium«, beschreibt Cyberpunk als die Szene, in der die Welten von Wissenschaft und Kunst sich mischen, als Treffpunkt von Zukunft und Gegenwart. Stewart Brand, emeritierter Chefredakteur des hippiesken »Whole Earth Catalog«, meint, die Cyberpunk-Bewegung verbinde »Technologie mit Haltung« - vor allem Technologie, die es noch nicht gibt, mit einer Haltung, die dem Massenbewusstsein und seiner Konsens-Politik entgegensteht. Und das Magazin »Time« klagte, als es 1993 stellvertretend für die Bevölkerungsmehrheit die neue Gegenkultur entdeckte, die bedauerliche Vorliebe für virtuellen Sex, Smart Drugs und synthetischen Rock’n’Roll lasse die Cyberpunks die dunklen Wellenkämme des Computer-Zeitalters surfen. Keiner aber hat cyberpunkiger formuliert, worum es geht, als Rudy Rucker:
»Das Beste am Cyberpunk ist, dass er mich gelehrt hat, Einkaufszentren, die ich immer gehasst habe, entspannt zu ertragen. Jetzt bilde ich mir einfach ein, das ganze Ding läge zwei Meilen unter der Mondoberfläche und jedem zweiten Passanten sei die rechte Gehirnhälfte von stählernen Robotratten weggefressen worden.«
Literatur, die Wirklichkeit werden wollte - in dem kuriosen Umstand, dass das Leben die Kunst nachahmte, gleichen die Cyberpunks den Beatniks. Beide Jugend-Bohemes wurden von literarischen Texten ein- und angeleitet, die auf technische Innovationen der Epoche reagierten. Wie Jack Kerouac das existentielle Unterwegssein propagiert, ein rastloses Verfahren auf dem Autobahnnetz, das damals in den vierziger und fünfziger Jahren den nordamerikanischen Kontinent erschloss, so schildert Gibsons »Neuromancer« den Eintritt der Informationsgesellschaft in ihr postsymbolisches Zeitalter, den direkten Daten-Kontakt auf der gerade entstehenden Infobahn und die dabei drohende existentielle Verflüchtigung.
»Die Autobahn-Metapher passt«, hat R. U. Sirius einmal über die Reise der binären Beatniks in den Cyberspace erklärt. »Wie bei Jack Kerouacs ‘On the Road’: aus einer engen kleinen Gemeinschaft hinaus auf die weite offene Straße.«
Der Computer-Underground folgte nicht nur dieser breiten, von der amerikanischen Regierung durchaus empfohlenen Infobahn-Route, sondern auch den von der Science-Fiction-Literatur vorgezeichneten Abwegen. Bald war Cyberpunk keine reine Zukunftsmusik mehr. Angezogen vom Zentralthema, der Verschmelzung von Mensch und Maschine, entdeckten die Hacker das Genre und verwandelten die Literatur ein Stück weit in soziale Realität.
Cyberpunk »gab uns eine Vision der Möglichkeiten, die der Technik innewohnten«, beschreibt der legendäre Hacker Synergy, natürlich ebenfalls ein »Mondo 2000«-Autor, diese Mimesis des Lebens an die Kunst: »Plötzlich setzte sich das Konzept des Cyberspace durch und inspirierte die Hacker.«
Cyberspace. Das Wort meint den Raum (engl. »space«), in dem die vernetzten elektronischen Informationen miteinander und dem Bewusstsein der Benutzer in Wechselwirkung treten. Im Umgang mit Mitmenschen - per Einweg-Email oder in interaktiven Kontexten, Chatrooms, MUDs usw. - bietet der Cyberspace absolute Gleichheit in der Kommunikation: Unabhängigkeit vom Ort des physischen Aufenthalts und Freiheit von sozialen Einschränkungen wie Status und Klassenzugehörigkeit oder biologischen Begrenzungen wie Geschlecht, Alter und Rasse. Ein berühmter Cyber-Cartoon zeigt einen Vierbeiner, der einen Artgenossen tröstet: »Im Cyberspace weiß niemand, dass du ein Hund bist.«
Als nicht-physischer, sondern metaphorischer Raum ist der Cyberspace eine von Maschinen erzeugte Welt aus abstrakten Zeichen und fernen Stimmen, die uns nur nahe scheinen. Utopische Konzepte beschwören folgerichtig die graphische Repräsentation des unablässigen Datenflusses zwischen den Millionen Computern, die weltweit miteinander vernetzt sind. Dieses künstliche Software-Reich visualisierter Energiebündel und Signalkonstellationen soll das menschliche Gehirn dann der taktilen Realität gleich als mentale Landschaft durchstreifen können - als eine »allgemeinverbindliche Halluzination«, wie sie William Gibson in »Neuromancer« beschreibt: »Linien aus Licht, aufgereiht im Nichtraum des Verstandes, Ballungen und Anordnungen von Daten. Wie die Lichter einer Stadt, die sich langsam entfernen ...«
Den gegenwärtig bereits erfahrbaren virtuellen Alltag in den digitalen Parallel-Realitäten all denen zu schildern, die noch im analogen Exil leben, fällt ebenso schwer, wie Erlebnisse am Meeresboden oder in der Schwerelosigkeit des Alls nachvollziehbar zu machen. Bruce Sterling hat es versucht, indem er den Cyberspace als das Nirgendwo beschrieben hat, auf dessen Terrain auch jedes Telefongespräch stattfindet - also den ortlosen, allein in Photonen und Elektronen existierenden Zwischenraum zwischen den Telefonen der Gesprächspartner.
Doch natürlich macht das normale Telefonnetz nur den kleineren und vertrauteren Teil der Datenverbindungen aus, die die materielle Grundlage dieses neuen immateriellen Kommunikationsraumes bilden. Zum Cyberspace tragen wesentlicher Millionen von Hochgeschwindigkeitsverbindungen innerhalb von LANs (local area networks) und zwischen den Internet-Knotenpunkten bei, ebenso die unzähligen erdgebundenen Dauerfunkstrecken und die Verbindungen zwischen den Bodenstationen und den Hunderten von Nachrichtensatelliten, die von ihren geostationären Positionen aus den großräumigen Datentransfer bewerkstelligen.
Grateful-Dead-Songtexter und Cyber-Aktivist John Perry Barlow meint daher, wer wissen wolle, wo der Cyberspace zu finden sei, solle sich am besten die Frage stellen, wo sich sein erspartes Geld gerade herumtreibt: Im Zweifelsfall liegt es in keinem Banksafe - schon allein deshalb nicht, weil nur der geringste Teil der zirkulierenden Geldmengen durch ein Äquivalent in Münzen oder Scheinen abgedeckt ist -, sondern es jagt, den diversen Investitionsentscheidungen der Banken folgend, als digital kodierte Kolonne durch jenen Teil des Cyberspace, der die internationalen Finanzmärkte beherbergt.
Wie alle Pioniergebiete hat auch der virtuelle Cyberspace eine Besiedlungsgeschichte. Erschlossen wurde er zuerst vor einem Vierteljahrhundert, als das amerikanische Verteidigungsministerium die Nachrichtenverbindungen für den Fall eines Atomkriegs sichern wollte. Die Generäle befürchteten zurecht, die zentralistisch organisierten nationalen Kommunikationsstränge - die telefonischen Schaltstationen, die Sendezentralen der Radio- und Fernsehsender - könnten im Kriegsfall durch gezielte Bomben- oder Raketenangriffe lahmgelegt werden.
Paul Baran, ein Forscher der Rand Corporation, fand 1964 eine ungewöhnliche Lösung für dieses Problem: ein Netz von Computerverbindungen, dem im Gegensatz zu allen bekannten Kommunikationswegen die zentrale Schaltstelle fehlte. Strukturelle Redundanz und hierarchische Gleichberechtigung aller beteiligten Computer sollten stetes Umgehen von Blockierungen oder Beschädigungen in den Nachrichtenverbindungen ermöglichen. Egal, welcher Computer im Netz ausfiel oder vom Gegner ausgeschaltet wurde, alle anderen sollten weiterhin untereinander kommunizieren können.
Es war eine verrückte Idee. Die innovative nicht-hierarchische Netzstruktur widersprach dem Ordnungsdenken und den Kontrollwünschen der Militärs diametral. Doch innerhalb der atomaren Strategie des Kalten Krieges fand sich keine andere Lösung. Die Advanced Research Projects Agency (ARPA) des Pentagon baute das experimentelle Computernetz.
Seine »nomadische Architektur«, die sich von Anfang an so schnell wandelte, wie sich elektronische Zelte aufschlagen und wieder abbauen lassen, schuf in ihrer Freiheit von Kontrollinstanzen die Voraussetzungen für das zukünftige wilde Wuchern des Cyberspace. Und sie ist es auch, die bis heute der Einführung einer Zensur, wie sie viele konservative Gruppen und autoritäre Staaten befürworten, größte Hindernisse entgegenstellt.
»Das Netz«, sagt Internet-Pionier John Gilmore, »interpretiert jeden Zensurversuch als technischen Schaden und lenkt die Daten auf Umwegen zum Ziel.«
In seinen Anfängen war das Leben in ARPAnet so antiseptisch wie die Büros und Labors der Militärs und Wissenschaftler, die das Netz erschlossen hatten und sich mit seiner Hilfe nun gegenseitig Zugang zu den auf ihren Computern gespeicherten Daten einräumten. Sehr bald allerdings entdeckten einige Benutzer, dass sich die elektronischen Kommunikationswege für weniger professionelle Zwecke umfunktionieren ließen - Klatsch und Tratsch via E-Mail, Diskussionsgruppen und Newsgroups zu allen erdenklichen Themen von Science-Fiction-Literatur bis zu sadomasochistischen Praktiken, elektronische Magazine und Tauschbörsen, interaktive Gruppenspiele ...
Da ARPAnet einzig Regierungs- und Forschungsinstitutionen Zugang gewährte, entstanden parallel Hunderte von BBS sowie lokale und nationale Netze für andere Bevölkerungsgruppen. Das bedeutendste hieß NSFnet nach der National Science Foundation (NSF). Für die Erschließung des