Cyberland. Gundolf S. Freyermuth
Schülern und Studenten elektronische Kommunikation offerierte. Zwischen 1981 und 1992 explodierte die Zahl der ständig im Internet vernetzten Computer von 281 Stück auf 1,1 Millionen. Auch die nationale Beschränkung der US-Netze, die lange Auslandsverbindungen nur zu Militärbasen und Botschaften erlaubte, brach damals auf.
Das Internet, zu dem ARPAnet, NSFnet und bis heute rund achtundvierzigtausend andere Subnetze verschmolzen und von dem aus sich ebenfalls zahlreiche kommerzielle BBS erreichen lassen, ist eine internationale, demokratisch und dezentral verfasste Gemeinschaft. Keine einzelne Institution kontrolliert diesen größten zusammenhängenden Landstrich des Cyberspace. Das Internet samt seiner modernsten Region, dem graphischen World Wide Web (WWW), gehört niemandem und allen. Der Zugang ist unbeschränkt und wird lediglich in einigen Gebieten Osteuropas und der dritten Welt vom technischen Zustand des jeweiligen nationalen Telefonnetzes limitiert.
Jeder, der über einen Computer und ein Modem verfügt, kann Bürger dieser virtuellen Ansiedlungen werden und selbst zu der ungeheuren Anhäufung von professionellem Fachwissen und kommerziellen Angeboten, bizarren Meinungsäußerungen und künstlerischer Kreativität beitragen - zur, in John Barlows Worten, »größten funktionierenden Anarchie, die je auf dem Planeten Erde erfunden wurde«.
Die gegenwärtige Situation im Cyberspace vergleicht der Mitbegründer der Electronic Frontier Foundation denn auch »mit dem Wilden Westen des 19. Jahrhunderts. Er ist weit, unerschlossen, kulturell wie legal offen ... ein perfekter Nährboden sowohl für Outlaws wie für neue Vorstellungen von dem, was Freiheit ist.« Und Donald Gooding von Accel Partners, einer Risikokapital-Investmentfirma, die sich an einem halben Dutzend Cyber-Unternehmen beteiligt hat, sagt: »Das Internet ist der Wilde Westen der Technologie. Bislang hat noch niemand gültige Regeln aufstellen können.«
Alles, was sich menschliche Gehirne zwischen hedonistischer Lifestyle-Erweiterung und utopischer Zukunftsbastelei, zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Traum und Alptraum auszudenken vermögen, lässt sich so im Cyberspace erfahren. Wie keine andere Gegend am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zieht er Spinner und Träumer, Abenteurer und Visionäre an. Und in manch ordentlichen Menschen, Militärs und Wissenschaftlern, Studenten und Bankern, weckt er gleichfalls eine wilde Ader.
»Der Cyberspace ist genauso eine frontier, wie die Neue Welt es für das Europa des siebzehnten Jahrhunderts war«, schreibt James Gleick im »New Yorker«: »Es gibt keinen Grund, das zu romantisieren. Die Welt der frontiers ist unangenehm, hässlich und gesetzlos. Zu oft herrscht dort eine entartete Stimmung wie im ‘Herr der Fliegen’. Die Leute lügen schamlos, und andere Leute glauben ihnen. Versteckt hinter den Masken ihrer Pseudonyme, kreischen sich zornige Teenager gegenseitig an. Ich hatte einige schockierend unangenehme Begegnungen der elektronischen Art ... Erst vor ein paar Tagen hat ein erboster junger Mann, den ich nie zuvor getroffen hatte, eine öffentliche Nachricht hinterlassen, in der er dem Wunsch Ausdruck verlieh, dass mir meine Hände mal in einer Explosion abgerissen würden.«
An der frontier.
Ein Pionier erzählt
»Wir haben ein Dutzend Laserkanonen mit Bewegungsmeldern aufgestellt, und die haben in der Nacht die Waschbären einfach weggebraten.«
Während wir auf R. U. Sirius warten, gibt Richard Bandler eine klassische Pioniergeschichte aus der Zeit zum Besten, als die pazifische Techno-Boheme an den Grundlagen der Gegenwart bastelte.
Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Lobby des Mandarin Hotel in der Bay Area. Zeit: ca. 00:11 h vor dem ersten Kontakt.
Bandler ist um die fünfzig. Er hat mehr Bücher geschrieben als normale Menschen Finger und Zehen ausbilden. Er war des Mordes an seiner Freundin Corine Christensen angeklagt, die wie er selbst kokainabhängig war und durch einen Kopfschuss aus Bandlers Waffe starb, nachdem er gedroht hatte, sie zu töten, und er ist 1988 freigesprochen worden. Er hat zusammen mit Linda Hughes Allen das »Neurolinguistische Programmieren« (NLP) begründet, eine äußerst erfolgreiche »Dein-Körper-verrät-dich-und-dein-Gehirn-weiß-mehr-als-du-denkst«-Selbstverbesserungstechnik, die der »Spiegel« zur »Modetherapie der neunziger Jahre« erklärte. Zudem hält er einen Haufen Patente für Erfindungen, die er vor zwanzig Jahren in der Wildwest-Ära der Hightech-Revolution gemacht hat - in einem einsamen Haus in den Bergen, wo eine vielköpfige Waschbären-Plage allnächtlich die Labors heimsuchte.
»Die Farmer dachten natürlich, wir wären verrückt. Drogen-Irre.« Richard Bandler lacht: »Was wir wohl waren.«
Eines Tages, Bandler und seine Truppe arbeiteten an einer Weiterentwicklung des Hologramms als Datenspeicher, kam jedoch Besuch, der sich ein wenig besser auskannte.
»Die Jungs vom FBI wollten, dass ich für sie arbeite.«
Bandler lacht lauter. Er hat ihnen das ganze Zeug hingeschmissen, andere Forschungen begonnen und ist eben damit reich geworden. Das rüstungsrelevante Hologramm-Projekt gedieh in den Händen der Sicherheitskräfte kaum.
»Es reicht nicht, alles einzusacken«, sagt Richard Bandler. »Man muss es auch kapieren.«
Der Mann ist ein Musterbeispiel für die Silicon-Psychedelic-Szene, die R. U. Sirius anvisierte, als er Mitte der achtziger Jahre das Cyberpunk-Magazin »High Frontiers« gründete, den Vorvorgänger von »Mondo 2000«. Das »High« im Titel spielte aufs Drogen-Hoch an wie auf die Hohe Technik - Cyberpunk als Gegenkultur aus High Tech und Haight-Ashbury, aus Drogen und Silicon.
»Wir leben hier an der Grenze«, sagt Richard Bandler ruhig und hält mir das ziemlich wilde Kinderbuch hin, das er gerade veröffentlicht hat: »An der äußersten frontier.«
Jeder halbwegs neutrale Beobachter wird es ihm glauben. In »New Brainia«, wie die smartesten San Franziskaner die Bay Area nennen, wo die Zukunft angeblich immer zuerst geschieht, drängen sich die innovativen Außenposten des Cyber-Zeitalters, von Apple und zahllosen anderen Computerfirmen im Silicon Valley über das NASA Ames Research Center an der Südspitze der Bucht und die Virtual-Reality-Pioniere in Redwood City und Sausalito bis hin zu George Lukas’ Industrial Light & Magic in Marin County. Im Zentrum dieser Hightech-Kultur liegt der Multimedia Gulch, ein alter Warenhaus-Bezirk in der Nähe von Downtown, dessen billige Loftmieten Hunderte von Multimedia-Firmen mit insgesamt über sechstausend Angestellten angezogen haben - junge Leute, die meisten zwischen zwanzig und vierzig, deren Hightech-Lifestyle auf eine Zeit voraus weist, in der biologisches und elektronisches Leben eine vollständige Symbiose eingegangen sind.
»Ich bin der Ansicht, San Francisco sollte ein eigener unabhängiger Staat sein«, hat R. U. Sirius einmal gesagt: »Wir haben die kreativsten Leute in der Computerindustrie, eine blühende Kultur, was Künstler und Schriftsteller angeht, und die stärkste Ökonomie in den USA. Von Marihuana bis Microchips - wir haben den kraftvollsten multikulturellen transsexuellen Polizeistaat in der Welt.«
Richard Bandler ist ganz seiner Ansicht. Gerade erzählt er, begleitet von wilden Handbewegungen und lautem Lachen, eine weitere frontier-Geschichte, die davon handelt, wie er einst die Xerox-Entwicklungscrew in die gewaltigen Rechner-Gewölbe der »Los Angeles Times« lockte, um ihnen vor Augen zu führen, was er mit dem papierlosen Büro als Vorform zukünftiger Entmaterialisierungen meinte, da schwebt plötzlich ein cherubinisches Lächeln über unseren Köpfen.
»Papierlos? Huuuh?« sagt R. U. Sirius und streicht sich die langen Strähnen aus dem Gesicht: »Ich schreibe aber wieder ein Buch. Zusammen mit St. Jude, meiner Partnerin im Provozieren. Darüber, wie wir mutieren und die Welt übernehmen.«
Der Diderot des Cyber.
Ein Lebenslauf
»Eine utopische Persönlichkeit war ich immer. Ich habe mich nie mit dem abfinden können, was da ist«, sagt R. U. Sirius.
Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, chinesisches Restaurant Silk in der Bay Area. Zeit: 02:45 h nach dem ersten Kontakt.
Die Luft, die sich wie eisiger Atemhauch aus der leise rauschenden Aircondition auf uns herab senkt, riecht klarer und reiner, als es die Natur erlaubt. Die Flottille chinesischer Kellner bedient sprachlos und geschmeidig wie von seidener Hand programmiert. Sollte das Hochhaus, in dem wir speisen, Fenster