Cyberland. Gundolf S. Freyermuth

Cyberland - Gundolf S. Freyermuth


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und stilistische Promiskuität - bilden das Fundament des dekonstruktivistischen Theoriegebäudes, wie es im Umkreis der Cyberszene vor allem Allucquere Rosanne Stone vom Advanced Communication Technologies Laboratory im texanischen Austin und die feministische Historikerin Donna J. Haraway mit ihrem kultisch verehrten »Cyborg Manifesto« vertreten, einer Hymne auf die geschlechtskombinatorischen Möglichkeiten des Menschen in einer Hochtechnologie- und Informationskultur.

      »Diese Texte zu lesen, erschöpft einen wirklich«, schmunzelt R. U. Sirius, dessen »Mondo 2000« einiges Dekonstruktive gedruckt hat, darunter ausführliche Interviews mit Stone und Haraway: »Aber ich kann es trotzdem empfehlen, denn glaub mir, wenn du Lacan zitieren kannst, bleibt dein Bett nicht leer.«

      Körperhacking: Plastische Chirurgie, Implantate und darüberhinaus. Um aber ad indefinitum ihrer Lust leben zu können, benötigt die neue Spezies neben neuen Theorien und denkbeschleunigten und Bewusstseinserweiterten Gehirnen vor allem neue Körper, die diese Gehirne nicht länger »biologisch versklaven« und ihnen eine verbesserte und verlängerte Existenz ermöglichen.

      »Ein Haufen Leute in der Cyberkultur bezeichnen den Körper als ‘Fleischstück’, weil er so fest und schwer zu verändern und unflexibel ist«, sagt R. U. Sirius. »Doch auch dieses Stück Wirklichkeit lässt sich heute bereits hacken ...«

      Der Gedanke, den Körper zu manipulieren und seine Mängel und Gebrechen gewaltsam zu eskamotieren, ist allerdings nicht neu. Sein Zustand war seit der Aufklärung stets - gerade in Zusammenhang mit Sexualität - ein öffentliches Anliegen. Die »unterirdische Geschichte« nannten Adorno und Horkheimer das Schicksal des Körpers in der Moderne, und Michel Foucault sprach von der »dunklen Kehrseite« unserer Gesellschaft und zeigte in der »Geburt der Klinik« und anderen Schriften zur Biopolitik, wie im Prozess der Modernisierung dem Fleisch zunehmend anspruchsvollere Normen auferlegt wurden - Vorstellungen von Gesundheit und, insbesondere im Hinblick auf den weiblichen Körper, von Schönheit, die schier unerreichbar waren.

      Bereits im neunzehnten Jahrhundert begann man deshalb, der Natur nachzuhelfen. Mit komplizierten Schnürpraktiken zwängte man etwa weibliche Taillen peu à peu bis auf dreiunddreißig Zentimeter herunter, und wenn es gar nicht anders ging, wurde schon mal eine Rippe operativ entfernt, um das widerspenstige Fleisch dem gesellschaftlichen Ideal anzupassen. Heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, gehören zum medizinischen Alltag nicht nur Operationen, die gesünder machen - von Hornhaut-Übertragungen über künstliche Hüftgelenke bis zu den Füßen, die nach Unfällen wieder »angenäht« werden -, sondern auch plastische Eingriffe, die wesentlich der Anpassung der Biologie an soziale Normen dienen.

      »Die einzige gute Entschuldigung dafür, überhaupt noch einen Körper zu haben«, sagt R. U. Sirius, »ist der Sex. Wen wir uns zum Partner suchen, das hat tiefe biologische Wurzeln. Doch diese Prägungen lassen sich jetzt täuschen. Wir treten in das Zeitalter der Plastischen Chirurgie ein. Was früher allein für die alternden Reichen und ein paar Starlets war, ist heute ein ganz normales Mittelstandsphänomen. Jeder, der will, kann seine Biologie überwinden und seinen Körper verändern - seine Nase oder sein Geschlecht.«

      Die Zahlen geben dem Cyber-Enzyklopädien recht. Allein 1994 ließ sich rund eine halbe Million Amerikaner, Männer wie Frauen, chirurgisch verbessern - von der Liposuktion (Fett absaugen, einundfünfzigtausend Eingriffe) über die Nasenkorrektur (sechsunddreißigtausend Eingriffe) bis zur Bauchstraffung (siebzehntausend Eingriffe). Die Ankündigung, dass R. U. Sirius plane, sich im Rahmen eines Auftritts von »Mondo Vanilli« auf der Bühne einer plastischen Verschönerung zu unterziehen, erscheint von daher nicht verrückter, als die Wirklichkeit längst ist.

      Doch natürlich sind das alles in den Augen der Cyber-Enthusiasten nur kümmerliche Reparaturversuche, vergleichbar einem Karosseriejob in einer kleinen Klitsche. Anvisiert werden stilistische und technische Überarbeitungen von grundsätzlicherer Art - das humane Äquivalent zu dem Einbau eines stärkeren Motors und größeren Tanks, zur Kotflügelverbreiterung und elektronischen Aufrüstung mit Satellitenempfang. Diese Verschmelzung von Menschen und Maschinen steht historisch an, meint Rudy Rucker:

      »Eine massive Mensch-Computer-Symbiose vollzieht sich, schneller, als wir es überhaupt begreifen können.«

      Fortschreitende Miniaturisierung sorgt nicht nur dafür, dass uns eine Vielzahl von Maschinen immer dichter auf den Leib rückt. Die Wanderung der Kleingeräte, die an uns hängen - Brille, Fernglas, Fotoapparat, Videokamera, Hörgerät, Walkman, Funktelefon, Armbanduhr, Taschenrechner, Taschenübersetzer, Laptop, Digitaler Assistent -, von der Außenseite ins Innere des Körpers hat ebenfalls begonnen. Längst sind erste elektronische upgrades für Menschen zu haben, intelligente Implantate wie Hörchips oder Herzschrittmacher. Die Zahl der Möglichkeiten nimmt ständig zu, wenn auch nicht so schnell, wie viele Cyberianer es wünschen. Richtmikrophonmäßig zu hören, Augen wie Lupen zu besitzen, sich exakt wie ein Tonband zu erinnern, sich via Gehirnstöpsel direkt in den Cyberspace beamen zu können - das alles scheinen dringende und unbefriedigte Bedürfnisse im Hightech-Underground.

      »Es wäre doch wunderbar«, schwärmt R. U. Sirius, »wenn wir uns die Daten, die uns interessieren, direkt ins Gehirn laden könnten. Oder stell dir eine künstliche Leber vor, die besser ist als die natürliche. Jeder wird sie haben wollen, weil man dann soviel Drogen nehmen kann, wie man möchte. Es wird Mode werden, sich eine neue Leber einsetzen zu lassen. Dasselbe wird mit den Herzen geschehen. Es wird verschiedene Fabrikate geben, von Sony und Toyota oder meinetwegen von Mercedes.«

      R. U. Sirius träumt allerdings nicht nur. Er versucht auch - dabei seiner Annahme folgend, wozu Körper überhaupt noch gut seien -, der Integration von Mensch und Maschine auf avantgardistisch-schockierende Weise vorzugreifen.

      »Arthur Abraham, ein sehr bekannter Konstrukteur von Computerspielen, der zum Beispiel an der Mutterplatine für den Amiga mitarbeitete, hat uns den ersten jederzeit fickfähigen Roboter gebaut. Wir werden ihn in den schmierigsten Stripläden von San Francisco auftreten lassen. ‘Mondo Vanilli’ macht den Soundtrack dazu.« Sirius strahlt engelhaft: »Es ist ein Netzwerk-Fickroboter, der in die Vagina fickt und mit den üblichen Haushaltsgeräten vernetzt ist. Man kann sich erregen lassen und dabei seinen Haushaltspflichten nachgehen. Sex und Arbeit werden vollständig integrierbar. Das entspricht unserem Cyber-Traum, die Grenzen der Biologie zu überwinden, ohne auf Sensualität oder Sexualität verzichten zu müssen.«

      Bionische Engel: Homo Super Sapiens, tiefgekühltes Leben, planetarisches Kollektivhirn. Dem Wunsch nach upgrading real-existierender Individuen entspricht die Sehnsucht, den Homo sapiens als Rasse zu verbessern - durch Reprogrammierung der Wetware.

      »Es gibt keine von der Seele getriebene Kraft, die hinter dem Leben steht, kein wummerndes, wallendes, sprossendes, protoplasmisches mystisches Gel«, schreibt der Oxforder Evolutionsforscher Richard Dawkins, ein Kultautor der Cyberszene: »Leben besteht einfach aus Bytes und Bytes und Bytes digitaler Information. Gene sind reine Information - Information, die kodiert, rekodiert und dekodiert werden kann, ohne dass sich ihre [grundsätzliche] Bedeutung verringern oder ändern würde. ... Wir - und damit meine ich alle Lebewesen - sind Überlebensmaschinen, die dazu programmiert sind, die digitale Datenbank fortzupflanzen, die uns programmierte.«

      Mit der Umschreibung unserer genetischen Programme, mit der Korrektur von Fehlkodierungen wie Krebs und mit eleganten Verbesserungen intakter Kodes, möchten die meisten Cyberianer keinen Tag länger warten als nötig. Ein zentrales Ziel ist dabei die Kopierung kompletter Individualitäten.

      »Ich bin recht nervös im Augenblick, weil ich keine Sicherheitskopie von mir habe«, bekannte ein Leser bereits 1987 in Sirius’ »Reality Hacker Newsletter«: »Ich lege regelmäßig back-ups von meinen Disketten an, doch ich habe noch nicht ein einziges Mal mich selbst zur Sicherheit kopiert. Ich bin deshalb sehr interessiert an Technologien, die in der Zukunft ermöglichen könnten, von der Essenz des menschlichen Wesens einen back-up zu machen.«

      Solche Sicherheitskopien sowie die Löschung des unseren Genen inhärenten »Todesprogramms« sollen dem zukünftigen Homo super sapiens Unsterblichkeit verschaffen.

      »Die Kids sitzen an den Schaltstellen«, sagt R. U. Sirius. »Alles wird möglich sein. Wir können bionische Engel werden.«


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