Cyberland. Gundolf S. Freyermuth
Meint er das ernst?
»Ich nehme nie etwas ernst. Am Ende geht alles zu Ende, unser Leben, die Welt, wie wir sie kennen.« Kein Anflug von Traurigkeit schwebt dabei um seine Miene. »Aber natürlich bin ich von Andy Warhol sehr beeinflusst worden. Er war der erste, der an seiner Stelle einen Roboter hat auftreten lassen. Und er hat jemanden angeheuert, der für ihn Reden gehalten und Interviews gegeben hat. Er erregte Aufmerksamkeit, und ich möchte gleichfalls noch einige Jahre öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Es ist so verdammt leicht, das Interesse der Leute zu verlieren.«
Nachsichtig legt R. U. Sirius mir seine ganz private Theorie der Öffentlichkeit dar: Das menschliche Gehirn ist rückständig, seine Aufnahmekapazität äußerst beschränkt. Wir können die Daten nicht so schnell aufnehmen, wie sie erzeugt werden. Das hat im digitalen Zeitalter zu einer Mangelökonomie besonderer Art geführt. Nicht an Waren oder Informationen, nicht an Ausdrucksmöglichkeiten oder an Einnahmequellen fehlt es uns, sondern an der Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen. Sie ist das einzige Gut, das sich im Zeitalter universeller Reproduzierbarkeit nicht mehr vermehren lässt.
»Wenn eine Frau wie Madonna vierzig Prozent aller im Land vorhandenen Aufmerksamkeit absorbiert, bleibt für uns andere wenig übrig. Bruce Sterling hat mal bei einer Podiumsdiskussion gesagt, die Aufmerksamkeitsökonomie löse allmählich die Geldökonomie ab. Alle Werte werden früher oder später danach berechnet werden, wie viele Leute etwas wahrgenommen oder benutzt haben. Nach der Aufmerksamkeit, die man erregt, wird man zukünftig bezahlt.« Der Cyberpropagandist strahlt: »Das wird meine Welt sein.«
Kritiker attestieren R. U. Sirius eine »koffeinreiche Prosa«, beste Voraussetzung, um Aufmerksamkeit en gros zu erregen. Eine wandelnde PR-Veranstaltung, Mundstück der Plattitüden, die auch ein Millionenpublikum begreifen könnte, mag der Cyberpropagandist allerdings nicht sein. Er strebt nach intellektuellerem Ruhm.
»Ich bin auf der Suche nach dem Stein der Weisen, was Cyber angeht«, sagt er. »Ich setze immer alles auf die beste Karte in der Stadt. Und das ist gegenwärtig die Cyberkultur, wo das biologisch-physische Menschwesen eine technische Lösung für die quälendsten Probleme seines Seins findet.«
Eine höhere Ordnung in dem wirren und verwirrenden Boheme-dynamischen-Komplex aus kybernetischen und künstlerischen Verrücktheiten zu entdecken, fällt jedoch selbst mit Hilfe avantgardistischer Technik- und Kulturphilosophie, auf die mein Fremdenführer soviel gibt, nicht leicht. Unzählige maßgeschneiderte Subkulturen und Kults, artistisch und artifiziell, elektronisch und eklektisch, scharen sich um die verschiedensten Forschungsgebiete und Kunstrichtungen, um Denk- und Computer-Modelle.
Wenn er dieses grelle Weltbildkaleidoskop aber schon nicht auf den geschichtsphilosophischen Begriff bringen kann, will R. U. Sirius wenigstens der Diderot des Cyber-Age sein, derjenige, der das subkulturelle Chaos enzyklopädisiert. Die sammelsurische Tour d’Horizon, die er mir versprochen hat, absolviert er denn auch atemberaubend versiert mit Warp neun.
Cyberklopädie II:
Gehirnhacking & Cybertheorie,
Körperhacking & Bionische Engel,
Top-vier-Cyberclans
»Für eine Gesellschaft ist es grundsätzlich von Nutzen, eine kleine, kontrollierte Gruppe von selbstzerstörerischen Narren zu besitzen, die bereit sind, ungetestete und unverstandene Geräte und Substanzen an sich auszuprobieren«, schreibt Bruce Sterling: »Und wenn ich je einen Mann getroffen habe, der wie kein anderer für ein solches Leben am äußersten Rande geeignet ist, dann ist es R.U. Sirius.«
An unserem zweiten Initiations-Abend beschränkt der zum Pummeln neigende Cyberguru seine Selbstversuche jedoch auf die Einnahme von wenig Kalorien und gewaltigen Mengen von Mineralwasser. Dazu lächelt er dauerhaft unirdisch.
Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Julie’s Supper Club in der Bay Area. Zeit: 24:15 h nach dem ersten Kontakt.
Der Strom steter Worte, mit denen R.U. Sirius die zu Clans verschworene Cyberszene heraufbeschwört, ist dafür berauschend genug. Was wir beobachten, erklärt er, seien die gewagten Experimente einer Zwischenzeit, der lange Anlauf zum großen evolutionären Sprung. Die Menschheit habe sich eine Umwelt erschaffen, für die ihre genetische Ausstattung nicht mehr hinreiche, ihre Techniken zur immer notwendiger werdenden Selbstverbesserung aber seien noch zu unausgereift.
Im Zentrum der Cyberkultur stehen daher provisorische Versuche, der Realität auf die Sprünge zu helfen. Sie zielen auf eine Befreiung des Alltagslebens und die Erschaffung alternativer Wirklichkeiten, auf eine Steigerung der körperlichen Empfindungen und eine Erweiterung des Bewusstseins. Darin sind die Cyberclans Nachfolger der Hippie-Revolte der sechziger Jahre und der psychedelischen Popkultur, die um sie herum entstand. Deren revolutionäre Triebkraft war der Rock’n’Roll. Zum ganz normalen Milliardengeschäft mutiert, hat er heute seine innovative und existentielle Bedeutung verloren. Die Musik vermag nicht mehr das Bewusstsein einer neuen Generation zu formulieren. Alles ist ausprobiert und gesagt worden, alles Neue ist Revival. Diese Einsicht markiert Kurt Cobains melancholische Frage auf dem letzten »Nirvana«-Album vor seinem Selbstmord: »What else can I say?« - »Was kann ich noch anderes sagen?«
Seit die Musik von der vordersten Front ins Glied der Künste zurückgetreten ist, spielt der Computer die Rolle, Gemeinschaften und Kultur zu stiften. Das Woodstock der Cyberszenen liegt im Internet, ihre Utopie sieht den Menschen im Medium der Technik, befreit von seinen sozialen wie biologischen Zwängen.
»Meiner Ansicht nach gibt es einen generellen Trend in Richtung dessen, was man die ‘Veräußerlichung der Seele’ nennt«, sagt R. U. Sirius. »Mehr und mehr von dem, was wir sind, realisiert sich in medialen Räumen oder im Cyberspace und nicht mehr in unserer lokalen Umgebung oder in unseren Körpern. Das ist Teil eines Prozesses, der sich nicht aufhalten lässt. Ich glaube, dass wir uns am Ende wahrscheinlich auf die Netze hoch- oder auf Datenspeicher runterladen werden oder Kopien von uns machen werden, um unsere Biologie zu überwinden - ohne notwendig auf sie zu verzichten -, um uns mit der Technik zu vereinen und Alternativen zur Biologie zu haben.«
Solange derlei noch an technische Grenzen stößt, konzentriert sich der utopische Wille der Cyber-Subkulturen, dem Ist-Zustand zu entkommen, auf die bereits vorhandenen Mittel und Wege, die Grenzen der äußeren Realität und des eigenen Körpers zu erweitern.
Gehirnhacking: smarte Drogen. Intelligenz und Kreativität sind in der Cyberkultur so hip, wie es flache Bäuche einst in Yuppiekreisen waren. Der Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch Workout und Steroide entspricht die Erhöhung der eigenen Smartheit durch Psychotechniken und vor allem Smart Drugs, Hightech-Drogen, die smart hergestellt sind und smart machen.
»Wir können nicht Schritt halten mit der Entwicklung, die uns und die Maschinen vorantreibt, ohne unsere Frequenzen zu erhöhen. Smarte Drogen ermöglichen uns das; sie ermöglichen uns, ein Stück freier von biologischer Kontrolle zu werden. Sie gleichen Steroide für Börsenmakler«, sagt R. U. Sirius: »Ich verwende diese Metapher, um anzudeuten, dass wir uns von genussorientierten psychedelischen Drogen wegbewegen und zu solchen hin, die die Leistungsfähigkeit erhöhen. Wir haben Steroide für den Körper und Intelligenz steigernde Drogen für den Verstand. Wenn man dabei ist, Karriere zu machen, kann man es sich dann wirklich leisten, auf den Vorteil zu verzichten, den die smarten Drogen bieten?«
Der Ausdruck Smart Drugs selbst geht auf John Morganthaler zurück, der auch 1990, zusammen mit Ward Dean, die bestsellernde Bibel der Smartdrogen-Szene geschrieben hat: »Smart Drugs and Nutrients: How to Improve Your Memory and Increase Your Intelligence Using the Latest Discoveries in Neuroscience« - »Smarte Drogen und Ernährungsstoffe: Wie man sein Gedächtnis verbessern und seine Intelligenz steigern kann, indem man von den jüngsten Entdeckungen der Neuroforschung Gebrauch macht«. Das Buch ist gewissermaßen das Alte Testament. Das Neue erschien drei Jahre später und heißt »Star-Trek«-inspiriert: »Smart Drugs II: The Next Generation«.
Die Smart-Drogisten machen sich Erkenntnisse der Psychobiologie zunutze, die zeigen, dass das Gehirn keine unveränderliche Hardware darstellt. Es ist vielmehr eine Art chemischer Dampfkessel, in dem die Synapsen- und Neurotransmittersäfte