Cyberland. Gundolf S. Freyermuth
Individuen zu konservieren - Psyche, Erfahrungsschatz, Wissen -, um sie dereinst zu unsterblichem Leben wiedererwecken zu können. Als eine solche Übergangslösung ist die Idee der Kryonik, die Tiefkühlkonservierung menschlicher Wetware, in der Cyberkultur populär. Die idealster auf diese Weise bewahrte »Gehirninformation« soll, so will es die Utopie, entweder in einem neuen, genetisch konstruierten Körper enden oder aber als Down- beziehungsweise Upload in den Netzen selbst.
Denn viele Cyberianer, darunter so verschiedene Charaktere wie Infobahn-Konstrukteur und US-Vizepräsident Al Gore, der Mitbegründer der Chaostheorie Ralph Abraham oder R. U. Sirius, folgen der Vision des französischen Jesuitenpriesters und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin. Er gilt ihnen als Prophet des Cyberspace, da er bereits Jahrzehnte vor Anbruch des digitalen Zeitalters die Ansicht vertrat, dass die Evolution auf einen Punkt zusteuere, an dem alles in der Welt vorhandene Bewusstsein sich zu einem kollektiven Verstand vereinigen werde.
»Man kommt zu der fast mystischen Ansicht, dass Technologien als Teil des natürlichen evolutionären Prozesses erscheinen«, sagt R. U. Sirius. »So wie bestimmte Tiersorten auftauchen, ist vielleicht die Menschheit dazu programmiert, bestimmte Technologien zu entwickeln.« Er grinst. »Was die Frage angeht, worauf das alles hinausläuft, glaube ich, dass die Kommunikations- und Informationstechnologien so weitgehend vernetzt werden, dass eine Art Gehirn und Nervensystem entsteht, welches die gesamte Spezies umfasst. Es mag ein bisschen deterministisch klingen, doch wir haben genauso wenig Wahl, das zu tun oder zu lassen, wie Polypen in einem Korallenriff, Bienen in einem Bienenkorb oder Ameisen in einem Ameisenhaufen. Alles, was wir mit unserer Intelligenz tun können, ist nur, die Sache so zu programmieren, dass sie in eine Richtung verläuft, die uns das biologische Überleben ermöglicht.«
Top-Vier-Cyberclans. Voller Mutanten, Menschen besonderen Erbguts, ist der amerikanische Westen heute schon, denn der typische Sozialcharakter, der seine Heimat verlässt, um eine neue zu finden, ist untypisch; wagemutiger und weniger angepasst als der zurückbleibende Rest. Ein Stück Himmel auf Erden zu realisieren, war zudem die erklärte Absicht der meisten, die in die Neue Welt strömten, der religiös oder politisch motivierten Einwanderer des siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, aber auch der Mehrheit derjenigen, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert ökonomische Freiheit suchten - Häretiker und Rebellen, steckbrieflich Gesuchte und Querulanten, Außenseiter und Einzelgänger. Die Ankömmlinge in der Neuen Welt waren daher, schreibt Timothy Leary, die »Mutanten« der Alten Welt - eine besonders abenteuerliche Auswahl aus dem genetischen Material Europas.
»Das nordamerikanische Experiment ist der größte Erfolg in evolutionärer Geschichte. Jeder Genpool sendet seine Samen in Richtung Westen, als eine Form der Selbstselektion ... Die Pilgermütter und -väter wollten einen Platz finden, an dem sie die kollektive verrückte freakige Wirklichkeit ausleben konnten, an die sie glaubten. Kalifornier wiederum sind eine neue Spezies, die sich aus den Amerikanern herausbildet ...«
Späte Erben des in Amerika und vor allem in seinem Westen konzentrierten utopischen Potentials waren, meint Leary, die diversen Aussteiger-Bewegungen, die Beatniks der fünfziger und die Hippies der sechziger Jahre - von denen wiederum eine klare Linie zur Cyberkultur und ihren wagemutigen Gruppen führt. Deutlichstes Indiz für diesen Teil der Traditionslinie ist Timothy Leary selbst.
Der große alte Verrückte der Cyberbewegung begann seine Gegenkultur-Karriere in den frühen sechziger Jahren damit, dass er als Harvard-Psychologe LSD zu freiwilligen Experimenten verteilte, deren Sinn es im wesentlichen war, die Mauern der Realität zu durchbrechen und in neue Wirklichkeitsbereiche vorzudringen. Prompt und unehrenhaft von der Eliteinstitution entlassen, prägte er den Slogan der psychedelischen Bewusstseinserweiterungs-Bewegung: »Tune in, turn on, drop out.« Anderthalb Jahrzehnte und alle denkbaren Drogen später entdeckte er das Bewusstseinserweiternde Potential der elektronischen Technik - und wies damit zahllosen Ex-Hippies den neuen Weg.
»Wie viele Leute in der psychedelischen Szene bin ich von Leary auf die Möglichkeiten gestoßen worden, die in der Technik schlummern«, sagt R. U. Sirius. »Obwohl wir nicht alles ganz ernst nehmen, was Tim predigt ...«
Leary betonte die psychedelische Kraft virtueller Realitäten (VR), pries Elektronik als das LSD der neunziger Jahre, trat in VR-Regalia im Fernsehen auf und visierte als größten Trip der Zukunft Weltraumreisen an. Sein Lächel-Slogan für die neunziger Jahre: »SMI2LE bis zum einundzwanzigsten Jahrhundert«, wobei SM für »Space Migration« (Auswanderung in den Weltraum) steht, I2 für »exponential Intelligence« (Intelligenz hoch zwei) und LE für »Life Extension« (Lebensverlängerung). Mit der machte er selbst ernst, als er Anfang 1995 an unheilbarem Krebs erkrankte: Leary bestimmte, dass sein Kopf eingefroren und solange zwischengelagert werden soll, bis der Gehirninhalt direkt in die Netze heruntergeladen werden kann.
Damit wurde Timothy Leary zum cyberdelischen Großvater des Computer-Undergrounds und seiner Zukunftsutopie. Sie reagiert wesentlich auf das Versagen radikaler Politik von links wie rechts, die in diesem Jahrhundert statt des Reichs der Freiheit lediglich eine, wie Eric Hobsbawm schreibt, »Renaissance der Barbarei« produzierte. An die Stelle der Hoffnungen auf soziale Veränderungen, die noch die Achtundsechziger-Generation bewegte, ist daher nun der Glaube an die selbstbefreiende Kraft von Technik getreten.
Der Mensch muss besser werden - dieser Leitgedanke aller utopischen und revolutionären Bewegungen zielt nicht länger auf das politisch-moralische, sondern auf das intellektuell-biologische Wesen. Der wissenschaftliche Fortschritt, der in den vergangenen Jahrzehnten eine historisch einmalige Erweiterung des Wissens und der Möglichkeiten des Homo sapiens brachte, spielt so zum Ende des Jahrtausends die Rolle, die politische und soziale Erneuerung seit Anbruch bürgerlicher Zeiten innehatte. Nicht nach links oder rechts soll es gehen, sondern schlicht nach oben auf der Evolutionsleiter.
Der Chemiker und Nobelpreisträger Ilya Prigogine hat einmal bemerkt, dass in einem System, das sehr weit aus seinem Gleichgewicht gerät, die lineare Relation zwischen Ursache und Wirkung verlorengeht. In einem solchen Zustand radikalen Ungleichgewichts können geringe Ursachen große Wirkungen zeitigen. Auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen bedeutet das, kleine Gruppen vermögen unter solchen Umständen beträchtliche Veränderungen zu initiieren. Den Cyber-Bewegungen scheint gegenwärtig diese Rolle zuzufallen.
»Wir propagieren den Gedanken«, sagt R. U. Sirius, »dass technischer Fortschritt kultureller Fortschritt ist. Die Subkulturen, die sich um die Technik herumgebildet haben, zählen zu dem wichtigsten, was es heute gibt. Die Cypherpunks, die Technopaganisten, die Extropianer oder die TAZler, das sind existentielle Stile, vier neue Entwürfe für unser Leben.«
Krypto-Anarchisten & Cypherpunks. Zu ihnen gehören Programmierer, Ingenieure und Techniker von einigen der erfolgreichsten Computer- und Software-Firmen in Silicon-Valley - und als Cypherpunk-Gründungsmitglied auch »Mondo-2000«-Redakteurin St. Jude. Die Cypher-, i.e. Kodierungs-Punks haben sich die Aufgabe gestellt, im Zeitalter der Netzwerke die Privatheit von Informationen wie Email-Briefen, Kreditkartentransaktionen oder medizinischen Akten zu bewahren - durch Verschlüsselung der Daten. Zu diesem Behufe kreieren und verteilen sie gratis oder gegen geringe Gebühren leistungsfähige kryptographische Software. Sie erlaubt, private Nachrichten abhörsicher zu kodieren. Das einfache Motto der Cypherpunks und Krypto-Anarchisten: »Was der Staat oder die allmächtigen Konzerne nicht lesen können, vermögen sie weder zu zensieren noch gegen die Betreffenden zu verwenden.«
Dieses Unterfangen, in einer Welt wachsender Zensur und Kontrolle die Privatheit von Daten durch Steganographie zu bewahren, scheint harmlos genug; ist es jedoch nicht, da die Regierungen der Welt - voran die amerikanische - ihre technische Fähigkeit zu Lauschangriffen gefährdet sehen. Kodierungsverfahren, die den staatlichen Abhörern nicht durch einen speziellen Schlüssel, etwa den Clipper-Chip, Zugang gewährleisten, sollen verboten werden. Kryptologische Produkte fallen unter das US-Waffenexportgesetz, weshalb manche Standard-Software, die leistungsfähige Datenverschlüsselung bietet, zum Beispiel WWW-Browser oder Backup-Programme, nicht ins Ausland verkauft werden darf beziehungsweise nur in »entschärften« internationalen Versionen. Durch zielgerichtete Kontrollen an den Grenzen betreiben Regierungsorgane zudem die Kriminalisierung der Cypherpunks, denen es verboten ist, die von ihnen geschriebene Software außer Landes zu bringen.
Krypto-Anarchisten