Cyberland. Gundolf S. Freyermuth

Cyberland - Gundolf S. Freyermuth


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des Absenders ermöglichen sollen.

      »Der ‘Hack’ ist für heutige Daten-Anarchisten«, sagt R. U. Sirius, »was die ‘Tat’, meist das Attentat auf einen Herrscher, für frühere Anarchisten-Generationen war.«

      Eine Utopie der Kryptos: In einem einzigen gewaltigen Hack weltweit allen Konten über einhunderttausend Dollar einen bestimmten Betrag abzuziehen und das Geld allen Konten unter dreißigtausend Dollar gutzuschreiben.

      »Ich habe meine Zweifel, ob der Krypto-Anarchismus wirklich die Welt verändern kann«, sagt R. U. Sirius: »Aber es ist jedenfalls eine mutige und faszinierende Bewegung.«

      Technopaganismus & Technoschamanismus. Die neuen Primitiven verbinden, was in der Moderne unvereinbar schien: radikalen Fortschritt und Rückgriffe auf fernste Vergangenheiten, technisches Wissen und vorchristliche Mythen. Die Bandbreite der paganistischen Bewegungen ist weit; sie reicht von der Anbetung archaischer Göttinnen über Kabbalismus, Hexenverehrung, hermetische Techniken und Alchimie bis zu Magick in der Crowley-Tradition und Religionen, die direkt aus Science-Fiction- und Fantasy-Büchern stammen. Die Zahl der Paganisten in den USA wird auf mindestens einhunderttausend und höchsten dreihunderttausend geschätzt. Die Mehrzahl von ihnen gehört der gebildeten weißen Mittelklasse an.

      »In der Schwulen-Szene von San Francisco«, sagt Owen Rowley, Ex-Systemadministrator bei der Virtual-Reality-Firma »Autodesk«, »ist Paganismus die Standard-Religion.«

      Wichtigstes Ziel der Technopaganisten ist es, die explodierenden elektronischen Möglichkeiten mit den ältesten Anforderungen der Natur in Einklang zu bringen, wobei sie strukturelle Entsprechungen zwischen den erdumspannenden Computernetzwerken und jenen spirituellen Mächten sehen, mit denen die Schamanen in primitiven Kulturen interagieren.

      »Beide Räume, der Cyberspace und das Reich der Magie, manifestieren sich rein in der Imagination«, sagt Mark Pesce, MIT-Aussteiger, erfolgreicher WWW-Programmierer und Chefpaganist: »Beide Räume werden vollständig durch das konstruiert, woran du denkst und woran du glaubst.«

      Die Gemeinschaft der technopaganistischen Gruppen konstituiert sich im Internet, etwa in Usenet-Groups wie alt.pagan, alt.magick.chaos und soc.religion.eastern oder in spirituellen MUDs. Lediglich ihre Zeremonien, die teils als Rave, teils als Ritual exerziert werden, finden noch in der Wirklichkeit statt. Sie kreisen um Drogen, ekstatische Tänze und Körperinvasionen, die im Vorgriff auf cyberutopische Bio-Manipulationen und Menschmaschinen primitive Körperinvasionspraktiken wie Piercing wiederbeleben.

      Extropianer. Diese Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen, Mathematikern und Programmierern betreibt die aktive Vorbereitung der Menschheit auf den grenzenlosen Fortschritt, Überfluss und Intelligenzzuwachs, den die nähere Zukunft bringen soll. Ihren Ursprung hat die extropianische Bewegung im Silicon Valley, ihr gegenwärtiges Hauptquartier, das Extropy Institute, befindet sich im südkalifornischen Marina del Rey. Ihre Grußformel lautet »Aufwärts!«, ihr Wahlspruch: Entweder du gehst mit oder die Zukunft geht über dich hinweg.

      »Die Extropianer entwickeln Nanotechnologie, Eric Drexler und seine Bande von Verrückten. Sie beschäftigen sich mit lebensverlängernden Techniken, viele der Kryoniker gehören dazu«, sagt R. U. Sirius. »Und sie glauben wie Hans Moravec daran, dass man in der Lage sein sollte, menschliches Bewusstsein in digitale Räume zu kopieren. Kurzum, sie widmen sich dem Kampf gegen die Entropie, wo immer sie ihr tödliches Haupt erhebt.«

      Entropie ist die Lehre vom Wärmetod. Sie besagt, dass in geschlossenen Systemen allmählich die Temperatur- und Energiedifferenzen schwinden. Mit dem vollständigen Ausgleich, der Entropie, geht das Ende allen materiellen Geschehens einher. Die fortschrittsfreudige Cyber-Denkschule der Extropianer postuliert dagegen eine beständige Zunahme an Energie und Energiegefälle, eben Extropie. Entscheidenden Anteil an diesem Prozess der planetarischen Extropie-Steigerung soll die Evolution des Homo sapiens zu einem höheren oder zumindest technisch höhergerüsteten Wesen haben.

      »Am Extropianismus macht absolut Spaß, dass er zum leuchtenden Licht geworden ist, von dem einige der wildesten und wirrsten Ideen-Motten der Zukunftstechnik angezogen werden. All die Konzepte, die der offiziellen Wissenschaft unmöglich oder sonderbar erscheinen, erhalten hier leidenschaftliche Zuwendung«, schreibt Kevin Kelly: »Der unnachgiebige Optimismus der Extropianer treibt einige Leute zum Wahnsinn, während andere die Bewegung für den ganz normalen Lärm halten, den eine Versammlung anarcho-libertärer Verrückter nun mal vollführt. Aber wenn dich die Offizielle Zukunft in der Durchschnittspresse oder die Politisch Korrekte Zukunft in der Alternativpresse langweilt, dann kannst du dir die Augenbrauen versengen, indem du in der extropianischen Presse über die ‘transhumane’ Zukunft nachliest.«

      Taz: Temporär autonome Zonen. Die TAZ-Bewegung, wie sie der Cyberpunk-Essayist Hakim Bey in seinem Buch »T.A.Z. The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism« (»TAZ. Die temporär autonome Zone, ontologische Anarchie, poetischer Terrorismus«) konzipiert hat, will den Zerfall der politischen Großsysteme nutzen und im Cyberspace Zonen erschaffen, die zumindest teilweise von jedweder Kontrolle frei sind; elektronische Äquivalente zu isolierten Bergfestungen und Pirateninseln, Zufluchtsorte für Datenpiraten, anarchistische Freihandelszonen, idyllische Fluchtgebiete reiner Binnenkommunikation, von denen die manipulierenden Massenmedien ausgeschlossen bleiben.

      »Das letzte Stückchen Erde, das von keinem Nationalstaat beansprucht wurde, verschwand 1899. Unser Jahrhundert ist das erste ohne terra incognita, ohne eine frontier«, schreibt Hakim Bey und empfiehlt als Gegenwehr die nomadische Taktik der TAZ im Cyberspace: »Die TAZ ist wie ein Aufstand, der sich auf keinen Kampf mit dem Staat einlässt, eine Guerillaoperation, die ein Terrain befreit (ein Stück Land, ein Stück Zeit, ein Stück Vorstellungskraft) und die sich dann auflöst, um sich irgendwo oder irgendwann wieder zu formieren, bevor der Staat alles zerstören kann.«

      Bewusstseinslärm.

      Ein Aufbruch

      »Ich selbst würde mich allerdings in einer TAZ ohne Massenmedien zu Tode langweilen«, sagt R. U. Sirius skeptisch, »denn ich bin ein Medienfreak. Außerdem glaube ich nicht recht an den Erfolg der TAZ. Aber man weiß ja nie ...«

      Wenn wir den Himmel über dem Hafen sehen könnten, er hätte bestimmt die Farbe eines Fernsehschirms nach Sendeschluss.

      Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Straßen in der Bay Area. Zeit: 26:45 h nach dem ersten Kontakt.

      Genauer: Wir befinden uns in den Leerstellen, die der Anfang dieser Fremdenführung ließ. Vor einer Viertelstunde sind R. U. Sirius und ich ins Freie getreten. In ein paar Minuten wird es ihm gelingen, ein Taxi anzuhalten. Noch aber geht er nicht auf dem weißen Mittelstreifen, sondern am äußersten Rand des Trottoirs.

      »In San Francisco wird es zuerst geschehen«, sagt R. U. Sirius. »Hier werden die ersten Cyborgs herumlaufen. Im Grunde ist es schon so weit.« Er zeigt auf ein paar Gestalten, die sich in den dunklen Hauseingängen herumdrücken. »Sieh dir die eckigen Bewegungen an, die leeren Augen. Mann, wir sind mitten unter den Menschmaschinen.«

      »Wer die Zukunft vorhersagt, der lügt, selbst wenn er die Wahrheit sagt«, meint ein arabisches Sprichwort. Doch Techno-Bohemiens wie R. U. wollen ja nicht prophezeien, sondern lediglich die Zukunft von der Tyrannei der Realität und des Heute befreien.

      »Warum mir diese dunklen Zukunftsvisionen gefallen?« sagt R. U. Sirius: »Manchmal macht es eben Spaß, im Dunkeln zu spielen ...«

      In seinem Buchprojekt »How To Mutate & Take Over the World« (»Wie man mutiert & die Welt übernimmt«), dessen Fragmente er mir gestern zu lesen gegeben hat und die er und St. Jude in ein paar Wochen auch auf dem Internet veröffentlichten wird, tut er genau das genüsslich. Zusammen mit St. Jude schildert er im Rückblick aus dem Jahre 2001, was die neunziger Jahre der Welt gebracht haben und noch bringen werden.

      »Wir sampeln im Channel-Surfer-Stil moderne und postmoderne Philosophien von Marx und Bakunin bis zu Foucault und Donna Haraway. Darüberhaus behandeln wir philosophische Fragen des Gehirn-Fickens sowie magische und neue Techniken der Selbstprogrammierung«, sagt R. U. Sirius. »Und wir bieten viel harte technische Information, Outlaw-Wissen, das man sonst nur


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