Cyberland. Gundolf S. Freyermuth
frage ich zweifelnd: »Du ironisierst etwas, von dem Milliarden Menschen noch nie gehört haben. Geschweige denn, dass sie den Cyberspace erforscht und erfahren hätten?«
»Sie werden in ihm leben. Früher oder später«, sagt R. U. »Die Masse ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass man selbst ganz vorne läuft und die anderen hinter sich lässt.«
R. U. reißt unvermittelt beide Arme hoch, als wolle er sich einem Gott ergeben. Und der scheint ihn zu erhören. Bremsen quietschen. In dem steten Fluss der roten und weißen Datenteilchen blenden zwei Lichter kurz auf, ziehen mit einer programmwidrigen Schleife über alle vier Spuren zu uns herüber, stoppen vor unseren großen Zehen.
»Die Masse muss ratlos im Staub stehen, den der Sturmlauf der Avantgarde erzeugt, und sagen: ‘Was zum Teufel treiben die Verrückten?’« R. U. streckt die rechte Hand zum Abschied aus und greift mit seiner Linken nach der Klinke, die an der Hintertür des Taxis mehr hängt als klebt: »Und wir, die Verrückten, haben dann wieder eine Weile Ruhe vor der Masse ...«
»Warte!« sage ich. »Eine letzte Frage noch ...«
Wo die Zukunft wächst.
Rückblicke, aus wildwestlicher Sicht
Wer die Zukunft schon in der Gegenwart aufstöbern will, wird den archimedischen Punkt auf der Landkarte entdecken müssen, an dem sich die meisten Menschen mit Talent versammeln, wo ungewöhnliche Gedanken gedacht, nie Gesehenes gemalt, Unerhörtes erzählt und bizarre Verhaltensweisen ausprobiert werden - wo nichts gesichert scheint und das ganze Leben ein Experiment.
Zu Zeiten fällt diese Suche nicht schwer. Ludwig B. etwa hegte keinen Zweifel, wo der utopische Ort seiner Epoche zu finden war. »Ich fange an, den guten Reisegeist zu spüren, und einige von der Legion Teufel, die ich im Leibe habe, sind schon ausgezogen«, notierte er in Karlsruhe. Man schrieb den 5. September 1830, und der vierundvierzigjährige Journalist und Schriftsteller war im Begriff, die Grenze nach Frankreich zu überschreiten. Was Ludwig B. nach Paris zog, war nichts weniger als die Sehnsucht nach Freiheit, nach radikalem Denken und Handeln, nach einer vollständigen Veränderung des Lebens, die in den deutschen Kleinstaaten, der schlafmützigen Heimat nachtrottelnder Mittelwegler, mehr Menschen schreckte als lockte.
In Paris hingegen schickte man sich an, die Anfänge jener zeitbeschleunigten urbanen Melange aus Technik und Kultur zu entwickeln, die spätere Generationen Moderne nannten. Die französische Hauptstadt, meinte Ludwig B., sei »der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft« - das bedeutendste zeitgenössische Laboratorium also, in dem die Menschheit, von der Geschichte gewarnt und durch genaue Beobachtung der Gegenwart angeleitet, mit Visionen vom zukünftigen Leben experimentierte.
Diese Rolle als »Register der Weltgeschichte« sollte Paris für anderthalb Jahrhunderte spielen, von der 1789er Revolution bis zum Überfall durch die großdeutsche Wehrmacht. Wenige Quadratkilometer entlang der Seine bildeten das wildeste Pioniergebiet der Moderne, die äußerste Grenze der Gegenwart. An ihr erprobte sich eine kosmopolitische Versammlung von Talenten und rang, vom Rest der Welt ebenso misstrauisch wie neugierig und neidisch beobachtet, den vielfältigen Traditionen Coup für Coup eine neue großstädtische Lebensform ab.
Die unablässigen Experimente am eigenen Leib und Leben kreisten um Konsum und Kultur, um die neuartige Erfahrung eines warenzentrierten Alltags und um die Erfindung der städtischen Nacht, um utopische Politik und gewagte Kunstproduktion. Die Branche, von der das Leben der Boheme und die Kunstveranstaltungen der Avantgarde sich finanzierten, war jedoch ein die Sinne verwirrendes Unterhaltungsgewerbe.
Um Vergnügungssüchtige aus der ganzen Welt nach Paris zu locken, bot man neben dem bewährten alten Bio-Sex das komplette multimediale Arsenal der Epoche auf: Oper, Operette, Theater, Ballett und Varieté, Literatur, Malerei, Fotografie und am Ende auch den Film. In immer neuen revolutionären Wellen, von Murgers Boheme bis zu den Avantgarden des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, wurde die Wahrnehmung des Wirklichen attackiert und moduliert, bis sich im darwinistischen Kampf der zahllosen Neuigkeiten das jeweils Neue durchgesetzt hatte. Heftig wogte dabei der Streit um die modischen und sexuellen Sitten, die Kunst des Anziehens und des Ausziehens, diese vorgeschobensten Positionen im Kampf konkurrierender Weltbilder.
Paris war die »Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts«. Im zwanzigsten konnte sie nicht lange bestehen. »Die Dinge fallen auseinander, das Zentrum kann nicht standhalten«, dichtete W. B. Yeats zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der der Lebensform des alten Jahrhunderts endgültig den Garaus machte. Jener Verfall, den Yeats auf dem Höhepunkt der Moderne prophezeite, war der der modernen Lebensform selbst. Zusammen mit dem Zentrum, den politischen, moralischen und intellektuellen Gewissheiten moderner bürgerlich-urbaner Existenz, ging Europas jahrhundertealter Anspruch verloren, den Weg der Menschheit zu bestimmen.
Bräche Ludwig B. heute auf, jenen Ort zu suchen, an dem die Talentiertesten und Mutigsten mit der Zukunft ernst machen, er fände ihn in keiner der klassischen Hauptstädte mehr, wo von Paris über Berlin bis London die Bürokratisierung des Alltags jeden kühnen Versuch vereitelt, vom Pfad des gegenwärtigen Trotts allzu weit abzuweichen, wo man, wie Hans Magnus Enzensberger schreibt, »die Blockade seiner eigenen Möglichkeiten als Lebensversicherung betrachtet«, und wo emsiger Stillstand, lautstarke Lähmung und lukrative Selbstbescheidung vorherrschen. Die utopische Energie, der Wille, sich selbst und das eigene Leben neu zu erfinden, hat sich dort erschöpft. Das zwanzigste Jahrhundert mag daher 1989 in den Metropolen Zentraleuropas geendet haben, das einundzwanzigste hat ganz woanders begonnen.
Ein Stück der Freiheit, der Befreiung von den Zwängen der Gegenwart, fände Ludwig B. allenfalls an den Rändern der Zivilisation und an den Rändern der Gesellschaft, die der dröhnenden Propaganda des Durchschnittlichen widerstehen. Der tiefste Einblick in die Zukunft gelänge ihm jedoch im amerikanischen Westen.
Über Jahrhunderte zog die Neue Welt die Menschen an, weil sie dem Einzelnen die Chance für einen klaren Neuanfang offerierte, weil sie unterdrückten Minderheiten, politischen Utopisten und religiösen Sekten, den Freiraum bot, nach ihren eigenen Regeln zu leben. Mehr als anderswo hat sich in der zerstreuten Siedlungslandschaft zwischen den Rocky Mountains und dem Pazifik etwas von diesem Pioniergeist erhalten. Hier ist die Sehnsucht nach Veränderung und Abenteuer noch stärker als der ängstliche Wunsch nach Erhalt des Erreichten, und hier bereiten in unzähligen Nischen und Subkulturen avantgardistische Hightech-Pioniere die Eroberung des letzten Freiraums vor, der auf diesem Planeten verblieben ist: des Cyberspace.
Wie alle Lifestyle-Umwälzungen in den vergangenen zweihundert Jahren wurde auch diese durch eine technische Neuerung ausgelöst, nur dass es diesmal nicht der Telegraph, das Gaslicht, die Elektrizität, das Automobil, das Radio oder der Film war, sondern der Computer.
Während die Mehrheit der Menschen das elektronische Gerät als eine banale Mischung aus klobiger Rechenmaschine und besserem Tippgerät mit Löschvorrichtung missverstand, ging es Computer-Pionieren wie Douglas Engelbart von Anfang an darum, eine »augmentation machine« (»Verbesserungs-Maschine«) zu schaffen, die den Menschen neue Wissens- und Existenzformen eröffnen sollte. Hacker und Technik-Nerds folgten dieser Grundidee. Sie erprobten das Potential des Computers als universelles Ermächtigungsmittel, das Realität kontrollierbar macht und zugleich erlaubt, neue Realitäten zu erzeugen, und so den einzelnen in den nie gekannten Stand versetzt, seine eigenen Erfahrungen sowie Teile der Wirklichkeit, die einst materiell fixiert waren – Datensammlungen, Texte, Zeichnungen, Fotos, Tonaufzeichnungen, Filmsequenzen, komplette Erlebniswelten –, nunmehr in Nullen und Einsen zu repräsentieren, sie sodann nach seinem Willen und zu seinen Gunsten zu modifizieren und das Ergebnis schließlich vom Heimcomputer via Cyberspace Gott und der Welt zuzuspielen.
Zwangsläufig avancierte ein solches Gerät binnen kurzem zur Traummaschine, die das beste und rücksichtsloseste Talent einer Generation anzog, wie es einst die Künste oder die Politik und zuletzt die Popkultur getan hatten.
Der archimedische Punkt auf der Landkarte, an den die zukünftigen Helden und Herren der Hightech-Industrien strömten - jedenfalls bevor der Cyberspace eröffnet wurde und die Notwendigkeit zu geographischer Nähe weitgehend entfiel –, lag im amerikanischen Westen, mit den wuchernden Vorstadtlandschaften der Bay Area und