Ökonomie die dem Leben dient. Franz Segbers

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Wirtschaftsethik muss deshalb von den wirtschaftlichen und sozialen Rechten der Menschen am Ort der Arbeit ausgehen. Die wirtschaftlichen Rechte umfassen vor allem Rechte auf Arbeit, Rechte in der Arbeit und Recht aus Arbeit; in den sozialen Rechten wird vor allem das Recht auf soziale Sicherheit, Gesundheit oder Nahrung angesprochen. Diese Rechte sind im Sozialpakt aus dem Jahr 1966 als wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verankert.2 Verkürzt werden sie in Fachkreisen auch „wsk-Rechte“ genannt, in den folgenden Ausführungen „soziale Menschenrechte“. Auch die Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, Abk. ILO), einer Sonderorganisation der UNO, zählen zu den sozialen Menschenrechten.3 Manche Teile dieser wunderbaren Architektur eines „Arbeitsvölkerrechts“4 sind in Deutschland zwar in den Rang eines Gesetzes erhoben worden, fristen aber nur zu oft und zu lange schon ein Schattendasein. Die Menschenrechte haben ein Janusgesicht: Sie sind dem Recht und der Moral gleichermaßen zugewandt. Theologie und Ethik halten, nicht anders als Politik und Rechtsprechung, eher Abstand zu diesen völkerrechtlich verbrieften und kodifizierten Rechten der arbeitenden Menschen, welche den Menschen am Ort der Arbeit als Subjekt mit eigenen Ansprüchen stärken wollen. Das nimmt den Staat anders in Pflicht als ein ausgebautes Arbeits- und Sozialrecht. Es beschreibt nämlich die Selbstverpflichtung des Staates, die Wirtschaft auf ein ideales Ziel hin zu orientieren.

      Ich möchte im Folgenden die These begründen und entfalten, dass diese sozialen Menschenrechte ohne den Hintergrund des biblischen Ethos kaum denkbar wären. Der neuzeitliche Menschenrechtsgedanke hat nämlich Intentionen zur Geltung gebracht, die bereits in der biblischen Orientierung des Rechtsgedankens an der Situation der Armen, der ökonomisch Schwachen und sozial Schutzbedürftigen gegeben waren.5 Damit sollen nicht irgendwelche urheberrechtlichen Ansprüche auf die Menschenrechte erhoben werden. Menschenrechte nur auf eine Quelle zurückführen zu wollen würde ihrer universellen Geltung nur schaden. Historisch war es auch so, dass die Menschenrechte gegen die Kirchen durchgesetzt und errungen werden mussten. So war es ein weiter Weg, bis mit einem erneuten Schub nach 1945 zentrale Motive der biblischen Ethik in den neuzeitlichen Menschenrechten wirksam werden konnten.

      Im Folgenden möchte ich ebenfalls darlegen, dass eine Ethik nur dann die Bezeichnung „christlich“ verdient, wenn sie unbeschadet des historischen Abstandes die biblische Ethik zu ihrer Grundlage macht. In meinem Buch Die Hausordnung der Tora. Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik6 habe ich die biblische Profilierung einer theologischen Wirtschaftsethik ausführlich begründet. Diesen Ansatz werde ich in diesem Buch weiterführen, indem ich ihn mit dem Rechtsgedanken der neuzeitlichen Menschenrechte in Beziehung setze. Ich werde also eine zweipolige theologische Wirtschaftsethik entfalten: menschenrechtsbasiert und an Impulsen der biblischen Ethik orientiert.

      Die theologische Reflexion über Wirtschaft findet unter unterschiedlichen Bezeichnungen statt. Einige sprechen einfach von „Wirtschaftsethik“ oder „Politischer Wirtschaftsethik“, ohne die theologische Verortung zu bezeichnen. Andere entwickeln das konfessionelle Profil einer evangelischen, protestantischen, lutherischen oder einer aus der Katholischen Soziallehre heraus entwickelten Wirtschaftsethik. Wird von ökumenischer Wirtschaftsethik gesprochen, dann ist das sozialethische Denken des Ökumenischen Rates der Kirchen gemeint. Ich versuche, diese Fäden zusammenzubinden, und möchte eine ökumenische Wirtschaftsethik vorlegen. Sie ist ökumenisch in einem doppelten Sinn: Sie führt die konfessionellen Ethiken zusammen und zeichnet Konturen einer Wirtschaftsethik für das ganze Haus der Schöpfung und für alle, die diesen Planeten bewohnen.

      Für eine menschenrechtsbasierte theologische Wirtschaftsethik ist der konkrete Mensch das Wahrheitskriterium. An ihm entscheidet sich, ob wirtschaftliche Systeme, Strukturen und Entscheidungen menschengerecht sind. Die Menschenrechte vermögen die Perspektive der Subjekte mit den gesellschaftlichen Institutionen zu vermitteln. Sie tun dies so, dass sie die Subjekte mit Rechten ausstatten, die von den Institutionen zu respektieren sind. Die Sorge gilt nicht vorrangig einem Ordnungssystem, sondern dem konkreten Menschen – dem Arbeiter, dem der gerechte Lohn vorenthalten wird, der unter unwürdigen Arbeitsbedingungen zu leiden hat, der unter Druck gerät, weil er sich in Gewerkschaften für gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen einsetzt, oder der Frau, die in privaten Haushalten alte Menschen pflegt. Diese an den Rand gedrängten Menschen sind der Maßstab. Jede Ordnung hat somit einen Zweck: die Würde und Rechte der Menschen zum Zuge kommen zu lassen. Das meint auch die Sozialenzyklika von Johannes Paul II., Laborem exercens (1981), wenn sie fordert, dass der Kapitalismus „einer ständigen Revision unterzogen muss, um ihn unter der Rücksicht der im weitesten Sinn und im Zusammenhang mit der Arbeit verstandenen Menschenrechte zu berichtigen“ (LE 14,6).7 Nicht anders der Aufruf zu einer „Ökonomie des Lebens“8, der auf der Zehnten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im Jahr 2013 in Busan / Südkorea angenommen wurde. Er fordert, den Imperativ „die Menschenrechte, die Menschenwürde und die Verantwortlichkeit der Menschen für Gottes ganze Schöpfung wahren“ (ÖL 22) zum Maßstab zu nehmen.

      Bei der Suche nach Humanität und Gerechtigkeit ist es entscheidend, von den Menschenrechten auszugehen. Menschenrechte sind jene fundamentalen moralischen Rechtsansprüche, für die ein universaler Geltungsanspruch erhoben wird. Sie liegen nicht einfach vor; sind auch nicht schon realisiert. Ihre Geltung muss zumeist in moralischen Anerkennungskämpfen beansprucht und in aller Regel auch gegen die Nutznießer der Verstöße erfochten werden. Trotz der gewachsenen Anerkennung, die die Menschenrechte heute erfahren, gibt es heftige Widerstände. Zwischen dem Anspruch der Menschenrechte und der tatsächlichen Praxis der Staaten und auch anderer Akteure, zu denen auch Konzerne und Unternehmen gehören, besteht vielfach eine breite Kluft. Bereits der Menschenrechtsanspruch stößt auf Vorbehalte. Manchen gelten die Menschenrechte angesichts der Machtverhältnisse als illusionär oder als ein Konstrukt, dessen weltweite Anwendung unmöglich ist.

      Gegenüber dieser Skepsis ist daran festzuhalten, dass die Menschenrechte eine politisch-rechtliche Kategorie sind. Ihr Geltungsanspruch besteht nicht in einem bloß humanitären Appell, sondern in einem verbindlichen Recht. Die völkerrechtlich verbindliche Etablierung von Menschenrechtsstandards begann im Rahmen der Vereinten Nationen mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948. Auch wenn diese Erklärung zunächst nur eine politische Willenserklärung ohne unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit war, kommt diesem Dokument dennoch eine überragende Bedeutung zu. Bis ins 20. Jahrhundert nämlich war das Völkerrecht ein Regelwerk zwischen souveränen Staaten. Die Anerkennung universaler Menschenrechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist demgegenüber ein fundamentaler Umbruch. Aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gingen weitere völkerrechtlich verbindliche internationale Menschenrechtspakte und Konventionen hervor, darunter im Jahr 1966 der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

      Im klassischen Völkerrecht waren die Grenzen eines Staates immer auch die Grenzen des Rechts. Demgegenüber wirken die sozialen Menschenrechte wie eine Revolutionierung des Völkerrechts: Staaten verpflichten sich wechselseitig und werden auch gegenüber anderen Vertragsstaaten in die Pflicht genommen, bestimmte soziale und wirtschaftliche Rechte zu garantieren.

      Der Begriff der Menschenrechte enthält einen universalen Geltungsanspruch, ohne den man überhaupt nicht von Menschenrechten sprechen könnte. Die Abschlusserklärung der Wiener UN-Menschenrechtskonferenz hat im Jahr 1993 festgehalten: „Der universale Charakter dieser Rechte und Freiheiten steht außer Frage.“ Die Menschenrechte sind immer beides: das Versprechen, dass jeder Mensch ein Recht auf ein Leben in Würde hat, aber auch ein Kontrapunkt zu den herrschenden Verhältnissen. In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt es, Menschenrechte seien „ein von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal“. Jürgen Habermas nennt sie deshalb auch zutreffend eine „realistische Utopie“9. Die Hoffnung auf mehr Humanität und Gerechtigkeit gilt keiner utopischen Zukunft; sie ist bereits in den Menschenrechten rechtlich als Ziel einer gerechten Gesellschaft verankert und gibt der Entwicklung der Weltgesellschaft eine Orientierung. Die Menschenrechte enthalten Zielperspektiven für politisches Handeln. So wie dem Recht insgesamt ist es auch den Menschenrechten eigen,


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