GEWALT, GIER UND GNADE. Jakob Sass

GEWALT, GIER UND GNADE - Jakob Sass


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Wesentlichste samt einigen fehlerhaften Informationen hatten sie damals wortwörtlich aus einem im Internet veröffentlichten Erneuerungskonzept des Kreismuseums Wewelsburg für die Ausstellung „Wewelsburg 1933-1945. Kult- und Terrorstätte der SS“ kopiert – allerdings ohne den spannenden Abschnitt über Haas‘ schlechte Beurteilungen, seine Schwächen, Arroganz, Affären und verhängnisvolle, laienhafte Kunstliebe.

      Mehrere Historikerinnen und Historiker haben sich seit den 1960er-Jahren immer wieder seiner Biografie gewidmet. Meist aber nur mit wenigen Seiten in ihren ansonsten sehr lesenswerten Büchern zur NS-Zeit im Westerwald, den Konzentrationslagern Wewelsburg und Bergen-Belsen oder allgemein zur Lager-SS.10 Darin kamen sie zum Teil zu sehr unterschiedlichen Urteilen über seinen Charakter, seine Motive und Lagerführung: Karl Hüser schreibt in der ersten Monografie zum KZ Niederhagen/Wewelsburg, „Adolf Haas und seine Helfer“ hätten „neben der großen Zahl“ gezielter „Mordaktionen“ auch „einen erheblichen Teil der Häftlinge durch Hunger, Krankheiten und Arbeitsschinderei umkommen“ lassen.11 Einige Häftlinge bevorzugte er aber offenbar: „Der Lagerkommandant Haas schätzte die handwerklichen und oftmals künstlerischen Fähigkeiten der Häftlinge und nutzte sie für seine eigenen Zwecke“, erläutert Kirsten John-Stucke, die heutige Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg.12 Eberhard Kolb, der Nestor der Bergen-Belsen-Forschung, sieht in ihm einen „ebenso primitiven wie zur Leitung eines ‚Austauschlagers‘ völlig unqualifizierten SS-Führer“.13 Er war allerdings „weder ein ‚scharfer‘ Lagerkommandant noch ein ausgesprochener Judenhasser oder Sadist“, aber mitverantwortlich für das schreckliche „Inferno“ 1945, meint Alexandra-Eileen Wenck im neueren Standardwerk zum KZ Bergen-Belsen.14 Die Überlebenden hätten ihn vielmehr als einen „behäbigen an der eigenen Bequemlichkeit mehr als an seiner Aufgabe interessierten SS-Führer“ charakterisiert, schreibt Karin Orth in ihrer Studie zur Konzentrationslager-SS.15

      Doch wie konnte ein vermeintlich „primitiver“, „unqualifizierter“ und „bequemer“ Mann in der SS so weit aufsteigen, die sich unter Reichsführer-SS Heinrich Himmler als „Elite“ zelebrierte ? Was half ihm dabei und wer?

      Wenn Haas kein „Judenhasser“ und „Sadist“ gewesen sein sollte, was trieb ihn dann zur SS ? Mit welcher Überzeugung beteiligte er sich an Verbrechen?

      Wie vereinbarte er es mit seinem Gewissen, dass in seinen Lagern nachweislich mindestens 3026 Menschen umkamen?16 Beschützte er dagegen tatsächlich Künstler und Handwerker, auch jüdische ?

      Dieses Buch fügt die verschiedenen, teils unvereinbar wirkenden biografischen Puzzle-Teile erstmals zusammen. Es kann allerdings nicht das Rätsel lösen, das nach 1945 nicht nur die Bewohner seiner Heimatstadt noch viele Jahre beschäftigte: das Verschwinden von Adolf Haas kurz vor Kriegsende. Während seine Frau ihn für tot erklären ließ, kursierten in Hachenburg mehrere Gerüchte. Die einen sagten, er sei untergetaucht und habe immer wieder heimlich seine Familie besucht.17 Andere meinten, er lebe weit weg von zu Hause. „Es wurde gemunkelt, er sei in Spanien“, erinnerte sich der Hachenburger Gerhard Latsch, der als Kind mit Adolf Haas‘ Sohn befreundet gewesen war.18 Über Spanien seien ja viele Nazis „mit päpstlichen Pässen nach Argentinien gekommen. Eine ganze Menge Nazis sind so geflüchtet, nicht die ganz Großen, aber die Mittelgroßen.“

      Dass sich der KZ-Kommandant Adolf Haas nach Lateinamerika abgesetzt haben könnte, war auch meine erste Spur: Sven Felix Kellerhoff, Leitender Redakteur für Geschichte bei der WELT, und ich folgten im Sommer 2013 einem Hinweis, dass sich Haas in Brasilien ein neues Leben aufgebaut haben sollte, sogar mit einer neuen Frau. Wie die Historikerinnen und Historiker zuvor arbeiteten auch wir uns zunächst durch die 150-seitige SS-Personalakte im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, entdeckten damals aber ebenfalls keine Anhaltspunkte zu seinem Verschwinden. Die Spur endete in einer Sackgasse – so wie für alle, die nach dem verschollenen KZ-Kommandanten suchten: erst die Alliierten, dann die österreichischen und deutschen Behörden und in den 1990er-Jahren sogar einer seiner Enkel. Bis heute konnte keiner herausfinden, was mit Adolf Haas 1945 geschah. Auch ich nicht, trotz jahrelanger Recherchen.

      Warum also noch ein Nazi-Buch? Diese Frage hörte ich oft. Literatur zum Nationalsozialismus ist seit 30 Jahren keine Mangelware mehr in den Buchläden. Die Bücher füllen ganze Bibliotheken. Warum braucht also der verschollene KZ-Kommandant Adolf Haas ein eigenes Buch? Zumal es nicht mit Enthüllungen zu einer spektakulären Flucht bei Kriegsende und einem geheimen Leben in Brasilien aufwarten kann.

      Zum einen ist die erste Biografie von Adolf Haas ein Beitrag zur Täterforschung. Warum verüben Menschen Verbrechen, warum begehen sie Mord? Diese banale, aber höchst relevante und tagesaktuelle Frage beschäftigt nach wie vor ebenso Kriminologen wie Holocaust-Forscher. Die neuere Täterforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft habe zwar, so der Historiker Frank Bajohr, „in den letzten zwanzig Jahren zu einer bis dahin unbekannten empirischen Rekonstruktion des Holocaust aus der Nahperspektive geführt und dabei frühere Grundannahmen“ korrigiert – am Ende ist sie aber noch lange nicht.19 Dass die „Vernichtungsmaschinerie“ stets „einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung“ darstellte, bemerkte der Politikwissenschaftler Raul Hilberg bereits 1961 in seiner bahnbrechenden Grundlagenstudie „The Destruction of the European Jews“ („Die Vernichtung der europäischen Juden“).20 Im Oktober 2017 wurde auf einer prominent besetzten internationalen Konferenz anlässlich Hilbergs 10. Todestages in Berlin dazu aufgerufen, sich im Sinne des Begründers der Holocaust-Forschung wieder mehr mit den kleinen Rädchen in der „Vernichtungsmaschinerie“, den „normalen“ Tätern, zu beschäftigen.21 Nicht zuletzt hatten die beiden Historiker Daniel Goldhagen und Christopher Browning Anfang und Mitte der 1990er-Jahre mit ihren Studien eine hitzige öffentliche Diskussion angeregt, ob die NS-Täter ein besonders gewaltbereites, fanatisiertes Kollektiv oder eben doch „ganz gewöhnliche Deutsche“ bzw. „ganz normale Männer“ (ordinary men) waren – eine bis heute offene Frage.22

      Der Bäcker Adolf Haas war ohne Zweifel ein ganz normaler Mann, aber auch einer der „normalen“ Täter – sowohl im Sinne seiner Sozialisation als auch seiner „Karriere“: Weder hatte er eine „kriminelle Neigung“ noch psychische Störungen. Weder war er besonders gebildet noch ein radikaler NS-Ideologe. Weder war er ein mächtiger noch ein berüchtigter SS-Funktionär. Er war schlichtweg Durchschnitt – so sahen es auch seine Vorgesetzten in den wenigen nicht beschönigten Beurteilungen.23 Die Biografien der Kommandanten kleinerer bzw. hierarchisch niedrigerer Lager, zu denen Niederhagen/Wewelsburg und anfangs auch Bergen-Belsen zählten, wurden bisher kaum abseits der Übersichtsliteratur erforscht. Dagegen standen vor allem die bekannteren Kommandanten der großen Lager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald sowie der Vernichtungslager im Osten im Vordergrund, aber auch Männer wie Karl Otto Koch und Amon Göth, die durch ihren Sadismus bekannt geworden sind, Letzterer nicht zuletzt durch Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“.24 Dass es allgemein nur zu einem Fünftel aller knapp 50 Kommandanten eigenständige Biografien gibt, liegt allerdings wohl weniger am Interesse als vielmehr an der dürftigen Quellenlage.

      Die meisten Lagerkommandanten „hinterließen keine oder kaum subjektive Quellen, aus denen man auf ihre Handlungskonzepte oder auf ihre Motivation schließen könnte“, schreibt die Historikerin Karin Orth.25 Viele waren „weder intellektuell in der Lage, noch sahen sie überhaupt jemals die Notwendigkeit, über ihre Beweggründe zu reflektieren oder ein Handlungskonzept aufzuschreiben“. Das gilt auch für Adolf Haas. Wie in den meisten anderen KZ sorgte die SS in Niederhagen/Wewelsburg und Bergen-Belsen bei Kriegsende außerdem dafür, dass die Akten der Lagerregistratur nicht in die Hände der Alliierten gelangten.26 „Eine Biographie, die den Standards der Biographieforschung entspricht“, ließe sich „auf der Grundlage des überlieferten Quellenmaterials“ eigentlich nicht schreiben, resümiert Karin Orth für die Lager-SS.27 „Ihre Handlungsmaximen ließen sich meist nur aus der Rückschau gewinnen“. Genau das ist bei Adolf Haas erstaunlich ergiebig – trotz weniger subjektiver Quellen.

      Einerseits ist seine SS-Personalakte ungewöhnlich umfangreich. Sie enthält zahlreiche auf Schreibmaschine getippte Beurteilungen und Beförderungsvorschläge seiner SS-Vorgesetzten, einige selbst verfasste


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