GEWALT, GIER UND GNADE. Jakob Sass

GEWALT, GIER UND GNADE - Jakob Sass


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Afrika und in der Südsee. Von den wenigen Überseegebieten, die noch übrig waren, hatte derweil vor allem ein großes Land die Aufmerksamkeit von Kaiser Wilhelm II. und seinen Beratern erregt: China. Schon seit Jahren wollte man einen Hafen im „Reich der Mitte“ bauen, um es zu „durchdringen“, genauer gesagt, auszuplündern. Da kam der Mord an zwei deutschen Missionaren im November 1897 durch chinesische Banden gerade recht. Wilhelm II. ließ die chinesische Bucht von Kiautschou (Jiāozhōu) im Süden der Shandong-Halbinsel am Gelben Meer besetzen und erpresste von der Regierung Chinas einen Pachtvertrag für das „Schutzgebiet Kiautschou“. Eine beispielhafte Demonstration skrupelloser „Kanonenbootdiplomatie“. Die Hafenstadt Tsingtau (Qingdao) wurde zum bedeutenden Stützpunkt für das ostasiatische Kreuzergeschwader, zur Hauptstadt und zum florierenden, internationalen Wirtschaftszentrum der neuen „Musterkolonie“, in die man rund 200 Millionen Mark investierte.38 Die Verteidigung der Kolonie oblag einer „Schutztruppe“, die bis 1914 auf 2600 Mann angewachsen war. Darunter auch ein Matrosenartillerist aus Hachenburg.

      Adolf Haas hatte während seiner Ausbildung in der „Stammabteilung der Marineartillerie-Abteilung Kiautschou“ in Cuxhaven von Oktober 1913 bis zum 12. Januar 1914 unter anderem gelernt, 15- und 30,5-Zentimeter-Artilleriegeschütze zu bedienen, Minen aufzuspüren und den Flaggendienst korrekt auszuführen.39 Noch zwanzig Jahre später sagten seine Vorgesetzten bei der SS, seine Haltung sei durch und durch „soldatisch“ gewesen, er hätte besonders die Kommandosprache und den Exerzierdienst beherrscht.40 Mit dem Dampfer „Patricia“ war Haas nach mehrwöchiger Fahrt über Singapur und Hongkong am 22. Februar 1914 in Tsingtau eingetroffen und wurde in den Iltis-Kasernen einquartiert.41 Allzu verloren dürfte er sich nicht gefühlt haben. Immerhin glich das Straßenbild mit Villen, Kirchen und Häusern nach europäischem Baustil eher einer deutschen als chinesischen Kleinstadt und die einheimische Bevölkerung wohnte ohnehin in strikt getrennten Vierteln. Als Teil der deutschen Kolonialherrschaft erlebte Adolf Haas zum ersten Mal, wie systematisch Bevölkerungsgruppen diskriminiert und ausgebeutet wurden.42 Ob und wie er sich daran beteiligte, wissen wir nicht.

      Am „4. Januar geht es nach China", schrieb Adolf Haas Mitte Dezember 1913 an einen Freund. Auf der Vorderseite der Postkarte posiert er mit seinen Kameraden aus der „Stammabteilung der Marineartillerie-Abteilung Kiautschou" in Cuxhaven (hintere Reihe, dritter von rechts).

      Bereits kurz nach der Gründung der deutschen „Musterkolonie in Kiautschou hatten Großbritannien, Russland und Japan ebenfalls „Siedlungsprojekte“ in Nord-Ost-China gestartet und mit der Jahrhundertwende untereinander Bündnisse geschlossen.43 Eine Eskalation des Interessenskonflikts in China und im ostasiatischen Raum schwebte seitdem jahrelang bedrohlich über der Region – bis zum Sommer 1914, als sich die Staaten Europas in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ stürzten. „Doch nicht nur in Europa sollte ein wildes Ringen und Kämpfen stattfinden, nein auch zu uns in das ferne Ost-Asien sollten die Kampfarme schlagen“, schrieb der junge Matrosenartillerist Adolf Haas rückblickend über den Beginn des Weltkrieges.44

      Am 8. August 1914 schloss sich Japan der Entente an und erklärte dem Deutschen Reich später den Krieg. Doch das eigentliche Ziel war China. Japan begehrte die Kohlevorräte auf der Halbinsel Shandong – dazwischen stand die deutsche Kolonie mit der Garnisonsstadt und dem Stützpunkt Tsingtau im Weg. So begannen japanische und britische Kriegsschiffe am 27. August gemeinsam, den Hafen zu blockieren. Seit den ersten Septembertagen landeten insgesamt etwa 58.000 japanische Soldaten an der chinesischen Küste.45 Wenige Wochen, nachdem der Gastwirt Adolf Haas im Hachenburger „Westend“ zu einem Lichtbildvortrag über „China, Land und Leute“ eingeladen hatte, erreichte der Weltkrieg genau dort seinen Sohn. Obwohl Tsingtau kaum gegen einen Angriff von Land geschützt, bald vom Nachschub abgeschnitten war und ohnehin nur über knapp 5000 Soldaten verfügte, gaben die Befehlshaber den Stützpunkt nicht auf – immerhin hatte ihr Kaiser die Verteidigung seiner „Musterkolonie“ zur obersten Priorität erklärt. In den Wochen nach der Mobilmachung schickte man den Matrosenartilleristen Adolf Haas junior von einer Artilleriestellung zur nächsten. „Gut ausgebildet u. vorbereitet können wir den Gegner mit Ruhe erwarten“, schrieb Adolf Haas später in sein Tagebuch.46

      Ende September 1914 schlossen japanische und britische Truppen den Belagerungsring und Tsingtau geriet unter ein Dauerbombardement von Land, Meer und aus der Luft.47 Nach einem Monat war auch Adolf Haas mit den Nerven am Ende: „Wann und wie wird das Drama enden?“, notierte er im Rückblick an den 3. November.48 „Unser Werk ist ein Schutthaufen.“ Vor seinen Augen zerriss eine Granate seinen besten Freund. „Warum soll ich es verschweigen ich habe geweint wie ein kleines Kind. Ich habe die Stücke von ihm zusammen gefügt und habe ihn mit genommen.“ Sie hatten kaum noch genug Munition, um gegen das „gelbe Gesindel“ zurückzuschießen, riskierten aber weiter ihr Leben für einen aussichtslosen Kampf.

      Kriegsmüde wurde Adolf Haas erst drei Tage später im Schützengraben. Sie hatten sich seit zwei Wochen nicht waschen können, „gestern u. heute nichts zu essen bekommen u. ein paar Tage nicht geschlafen“, notierte er. „Da ist man besser aufgehoben wenn man erschossen wird. mir ist es egal.“ Um zwei Uhr nachts erwischte es ihn, als japanische Soldaten die letzte Verteidigungslinie durchbrachen. „Ich wurde verwundet an der rechten Schultern durch Schrappnelschuß leicht.“ Wenige Stunden später, am Morgen des 7. November 1914, als die letzte Artilleriemunition verschossen war, zerstörten die Deutschen die Verteidigungsanlagen, versenkten die verbliebenen Schiffe im Hafen und hissten die weiße Fahne auf dem Signalberg, der letzten übrig gebliebenen Festung. „Wir haben geweind wie die Kinder aber was half es, es mußte so sein“, schrieb Haas.

      So verschwand Tsingtau, wie es die chinesische Historikerin Yixu Lü ausdrückte, „auf wenig ruhmreiche Art aus der Geschichte“.49 Nicht einmal zu einer „heldenhaften“ Seeschlacht sei es gekommen. Als der Krieg ausgebrochen war, hatte sich das Ostasiengeschwader auf einer Inspektionstour der Kolonien in den Karolinen und Marianen befunden. Nur der Kleine Kreuzer „SMS Emden“ hatte noch in Tsingtau vor Anker gelegen, war aber entkommen und erlangte mit seinen Raubzügen im Indischen Ozean internationale Berühmtheit, bis er am 9. November 1914 zu einem Wrack zusammengeschossen wurde. Am selben Tag verbreitete sich die Nachricht von der Kapitulation Tsingtaus durch das „Hachenburger Tageblatt“ in Adolf Haas‘ Heimatstadt: „Der Tag wird kommen, an dem die deutsche Kultur im fernen Osten von neuem den Platz einnehmen wird, der ihr gebührt, und die Helden von Tsingtau werden nicht vergeblich ihr Blut vergossen und ihr Leben geopfert haben.“50 Die Hachenburger empfanden sicherlich Stolz, dass einer von ihnen zu den „Helden von Tsingtau“ gehörte, wie man sie schnell in Ansichtskarten und Romanen glorifizierte. Ein wichtiger Trost für Adolf Haas und die rund 5000 Soldaten und Zivilisten, die mit der Kapitulation von Tsingtau in japanische Kriegsgefangenschaft gerieten. Sie wurde für ihn eine bittere Erfahrung, prägte ihn aber auch kulturell für sein ganzes Leben.

      Die deutschen Kolonialträume waren ausgeträumt, nun folgte die harte Realität der Kriegsgefangenschaft. Gemäß ihrem eigenen Ehrenkodex hatten die Japaner erwartet, dass ihre deutschen Feinde eher den Tod suchen, als sich ergeben würden. Auf eine so große Zahl von Gefangenen waren sie nach der Kapitulation von Tsingtau daher nicht vorbereitet.51 Sie gestatteten ihnen aber, ihre Toten mit allen Ehren zu beerdigen, gaben ihnen „Reis und Rindfleisch“ und „behandelten uns sonst einigermaßen gut“, schrieb Adolf Haas.52 Per Schiff kamen er und 466 weitere Gefangene Ende November 1914 in ein notdürftig eingerichtetes Militärlager nahe der Hafenstadt Osaka.53 „Das Leben dort war miserabel“, beschwerte sich der junge Marineartillerist, während es den feindlichen Gefangenen in Deutschland weit schlechter erging. „In den erdegestrichenen Bretterhütten war es sehr kalt u. auch das essen war nichts wert u. stets zu wenig. Japaner kochten. Es gab meistens Reis mit Zwiebeln u. ein Stück Fisch mit 3 Kartoffeln. Die Zeit vertrieben wir uns mit Flicken, Kartenspielen u. Schreiben“.54 Um sich als neue Weltmacht zu profilieren, bemühte sich Japan, die internationalen Abkommen zur Kriegsgefangenschaft


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