GEWALT, GIER UND GNADE. Jakob Sass
war ausgezogen, um für sein Kaiserreich zu kämpfen. Zurück kehrte er in eine Republik. Dass es ihnen in der japanischen Kriegsgefangenschaft sehr gut ergangen war, bemerkten Adolf Haas und die anderen Heimkehrer sofort, als sie am 25. Februar 1920 in Wilhelmshaven ankamen, dort wo 1918 die Novemberrevolution mit einem Matrosenaufstand begonnen hatte. Eine jubelnde Menschenmenge begrüßte sie, aber auch viele unterernährte Kinder, die um Brot bettelten.71 Der junge demokratische Staat kämpfte noch mit den Folgen des Weltkrieges und der Niederlage. Die Krisenjahre nach 1918 und die Inflation hatten auch Haas‘ Heimatstadt „mit voller Wucht getroffen“, schreibt der Stadtchronist Stefan Grathoff.72 „Wer nur über Bargeld verfügte, war arm dran, wer Waren und Gegenstände von Wert besaß, konnte mit ihnen Tauschhandel betreiben.“ Der heimgekehrte Adolf Haas hatte weder das eine noch das andere.
Den Kriegsgefangenen machte es die deutsche Gesellschaft nicht leicht, im neuen, wirtschaftlich geschwächten Deutschland ihren Platz zu finden. Rechtlich waren sie den Frontsoldaten bei Versorgungsansprüchen und Entschädigungen nicht gleichgestellt. Zudem mussten sie sich gegen zahlreiche Ressentiments wehren, keine „Drückeberger“ und „Überläufer“ zu sein.73 In seinen späteren Lebensläufen erwähnte Adolf Haas zwar das 1925 verliehene „Frontkämpferabzeichen“ (Ehrenkreuz für Frontkämpfer) und einen „Kolonialorden“ (Kolonialabzeichen), aber nur knapp die Belagerung von Tsingtau und die Gefangenschaft in Japan.74 Als einer der „Helden von Tsingtau“ inszenierte er sich nie, obwohl er selten eine Gelegenheit ausließ, um sich in einem besseren Licht darzustellen.
„Nach meiner Entlassung am 26.2.1920 in W.hafen habe ich sämtliche Arbeiten angenommen die ich bekommen konnte, da mein Beruf darniederlag“, schrieb der gelernte Konditor später.75 Da seine Eltern mittlerweile über 70 waren, übernahm er ohne jegliche betriebswirtschaftliche Erfahrungen zunächst die Leitung der Gastwirtschaft „Westend“.76 Zu seinen Gästen zählte wahrscheinlich auch die fünf Jahre jüngere Lina Emma Müller, eine gebürtige Hachenburgerin. Am 11. März 1922 heiratete das Paar, zwei Jahre später bekamen sie ihr erstes Kind. Im selben Jahr starb sein Vater.77 Entweder wegen der Wirtschaftskrise, eigener Misswirtschaft oder weil die Familie akut Geld benötigte, verkaufte Adolf Haas Mitte der 1920er-Jahre die Gastwirtschaft.78 Als ihr erstgeborener Sohn im Mai 1926 starb, war Lina Haas zum zweiten Mal schwanger.
Haas‘ zweites Kind, eine Tochter, kam ein halbes Jahr später an Heiligabend 1926 zur Welt. Die vierköpfige Familie, einschließlich der verwitweten Mutter, versorgte er in den nächsten Jahren zunächst als Lederarbeiter.79 Seit 1924 erholte sich die wirtschaftliche Lage in der Weimarer Republik, durch US-amerikanische Kredite, eine Währungsreform und vor allem durch das Wirken von Reichsaußenminister Gustav Stresemann. Wie die meisten Deutschen schenkte wahrscheinlich auch Adolf Haas der nationalsozialistischen Bewegung und Adolf Hitler noch wenig Aufmerksamkeit.80 1928 gewann die Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) bei den Reichstagswahlen gerade einmal 2,6 Prozent der Stimmen. Ermutigt durch die Konjunktur nahm Adolf Haas im April 1929 seinen Beruf wieder auf. In der Perlengasse 2 – die Familie selbst wohnte in der Nummer 60 – pachtete er im Keller des „historischen Rathauses“ eine Backstube.81 Wie schon in japanischer Kriegsgefangenschaft produzierte der gelernte Konditor jedoch keine Torten, sondern normale Backwaren. Der alte Backofen ist erhalten geblieben. Es ist ein ironischer Zufall, dass heute über der Backstube das Stadtarchiv Hachenburg seinen Sitz hat, das sich unter Jens Friedhoff so engagiert um die Aufarbeitung der Stadtgeschichte und dabei auch der NS-Vergangenheit bemüht. Adolf Haas‘ Traum von einer wirtschaftlich sicheren Tätigkeit als Bäcker währte jedoch nur wenige Monate.
Der alte Backofen im Keller der Perlengasse 2 in Hachenburg ist erhalten geblieben. Hier arbeitete Adolf Haas, bis er seine Bäckerei Mitte 1935 für eine hauptamtliche Tätigkeit bei der SS aufgab.
Seit dem Winter 1928/29 hatten sich wirtschaftliche und politische Probleme in der jungen Republik bereits abgezeichnet. Der New Yorker Börsencrash am 24. Oktober 1929 stürzte das kreditabhängige Deutschland vollends in eine Krise, von der vor allem die Parteien am linken und rechten Rand profitierten. Nach der Reichstagswahl am 14. September 1930 war Hitlers Partei mit 18,3 Prozent plötzlich die zweitstärkste hinter der SPD. Innerhalb kurzer Zeit verdoppelten sich die Mitgliedszahlen der NSDAP, Ende 1931 waren es über 800.000. Zu den „Braunen“ gehörte seit dem 1. Dezember 1931 auch Adolf Haas, NSDAP-Mitgliedsnummer 760.610. Ihren Sitz hatte die Hachenburger Ortsgruppe im „Braunen Haus“ am oberen Ende der Friedrichstraße, heute eine der schönsten Gassen der Stadt.82
Nach eigenen Aussagen hatte Adolf Haas „vor 1929 keiner politischen Partei angehört“.83 Einige seiner Hachenburger Nachbarn erzählten nach dem Krieg, dass er durchaus schon vor seinem Eintritt in die NSDAP politisch aktiv gewesen sei. Allerdings nicht auf der rechten, sondern auf der linken Seite: Er sei früher ein „fanatischer Kommunist“ gewesen, bevor er etwa 1930 eine „radikale Schwenkung zum Nationalsozialismus“ vollzogen habe – also genau in dem Jahr des ersten großen Wahlerfolgs der NSDAP in den Reichstagswahlen.84 Danach habe er „seine ehemaligen Gesinnungsgenossen in brutalster Weise bekämpft“. Dieser Gesinnungswandel mag radikal erscheinen, war aber kein Einzelfall. Hitler selbst diente nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, im Frühjahr 1919, als Soldat der sozialistischen Regierung der Münchener Räterepublik und wurde sogar in einen Soldatenrat gewählt. Nach der blutigen Niederschlagung der Räterepublik durch Reichswehr und Freikorps bemühte sich Hitler, alle Spuren seines sozialistischen Abenteuers zu beseitigen. Dafür trennte er sich nicht nur von linken Ideen, sondern bot sich auch der Reichswehr als V-Mann an und lieferte ehemalige Genossen ans Messer.85 Auf die Farce seines „nationalen Sozialismus“ fielen später schließlich auch Kommunisten rein.
Heinrich Schönker, der als Kind das „Aufenthaltslager Bergen-Belsen“ überlebt und den Kommandanten kennengelernt hat, schrieb in einem Brief: „Wenn damals die Kommunisten an die Macht gelangt wären, hätte Haas versucht, als Kommunist Karriere zu machen. Er war ein Mann ohne Rückgrat.“86 Da Adolf Haas erst ein Jahr nach dem Wahlerfolg der NSDAP in die Partei eintrat, gehörte er wohl tatsächlich zu den vielen „Konjunkturrittern“.87 Ihn trieb weniger eine politische Überzeugung als vielmehr das Bedürfnis, auf der Gewinnerseite zu stehen. Nicht zuletzt signalisierten die Nationalsozialisten, dass sie die ehemaligen, lang diffamierten und vernachlässigten Kriegsgefangenen als Frontsoldaten anerkannten. 1933 lud Hitler sie als Teil des „Frontsoldatentums“ zur „Mitarbeit am neuen Deutschland ein.“88 Der erfolglose Bäcker Adolf Haas wollte jedoch schon bald mehr sein als bloßer „Parteigenosse“. Ihn trieb es zu einem Arm der Partei, der wortwörtlich lieber zum Schlag ausholte als debattierte.
Hitlers Partei stützte sich seit Beginn ihres Aufstiegs auf zwei paramilitärische Organisationen: zum einen auf die „Sturmabteilung“, die SA. Die Schlägertruppe unterstand dem Reichswehr-Veteran Ernst Röhm, einem der ersten NSDAP-Mitglieder. Hitlers persönliche, loyale „Leib- und Prügelgarde“ wurden 1925 die „Schutzstaffeln, die SS. Die kleine Truppe blieb zunächst der Obersten SA-Führung unterstellt und im Schatten der weitaus größeren SA-Verbände, meint der Historiker Bastian Hein. Das habe sich erst geändert, als große Teile der nordostdeutschen SA 1930 und 1931 gegen Hitler und die aus ihrer Sicht „verbonzte“ Parteiführung aufmuckten. Hier konnte sich die SS erstmals als treue „Garde des Führers“ profilieren – und mit ihr Heinrich Himmler, seit 1929 Reichsführer-SS. Himmler sorgte seit Ende 1930 dafür, dass sich die Zahlen der SS-Männer von 3000 bis Anfang 1931 mehr als verdoppelten. Dabei setzte er nicht auf offene Werbekampagnen wie seine Vorgänger, sondern auf Image-Pflege. Durch zahlreiche Reden und Artikel baute er das Bild einer Truppe auf, die nur die gehorsamsten, die körperlich und geistig besten, die „rassisch“ überlegensten, und aufgrund ihrer Gewaltbereitschaft „männlichsten“ Deutschen aufnehme – der Beginn des Eliten-Mythos der SS.89
Obwohl Adolf Haas selbst kaum dem Ideal von Himmlers erträumter „Elitetruppe“ entsprach, zog ihn wohl genau dieses Image an. Kameradschaft hätte er auch in der weitaus größeren SA finden können. Bei den Aufgaben in der SS gab es keine