Ferienhaus für eine Leiche. Franziska Steinhauer
die sich ihrer eigenen Bedeutung und Wichtigkeit sehr bewusst sind, kamen sie auf ihn zu.
»Hej, hej, Gunnar. Hast du wirklich eine Leiche auf deinem Dachboden gefunden, oder hat die Zentrale sich da einen Scherz mit uns erlaubt?«, fragte Knut gut gelaunt im Näherkommen. Er war groß und stark wie ein Bär, hatte ein gutmütiges Gesicht, schwarze Locken und braune, sanftmütige Augen.
Als Gunnar nickte, verdorrte das breite, nachsichtige Grinsen auf dem Gesicht des Anderen, mit dem ältere Menschen bedacht wurden, bei denen man vermutete, die Demenz mache dramatische Fortschritte.
»Wo?«, wollte er nun knapp wissen.
»Oben. Auf dem Dachboden. In Omas Aussteuerkiste. Ihr könnt sie gar nicht verfehlen«, brachte Gunnar mühsam hervor. Jetzt, wo der Fund nicht mehr seine Privatangelegenheit war, erschien er in seinen Augen viel realer; es war ihm, als stünde erst jetzt wirklich fest, dass er die tote Frau gefunden hatte, ja mehr noch, als sei sie durch die Erzählung erst wirklich tot.
Die Schwäche, die er in den Knien spürte und die sich rasch über den ganzen Körper auszubreiten drohte, ließ ihn einen Moment leicht schwanken. Jan griff schnell stützend nach Hilmarströms Ellbogen und führte ihn zu der kleinen Bank im der Nähe des Eingangs zurück. Die Sonne war nun völlig hinter dunklen Wolken verschwunden.
Ein kühler Wind kam auf.
»Bleib ruhig hier. Wir sehen uns das Ganze schnell an«, sagte er noch und schon waren die beiden im Haus verschwunden.
Kurze Zeit später kam Knut wieder aus der Tür, blass, grünlich im Gesicht und ohne seine gewohnte jugendliche Forschheit. Hastig lief er zum Einsatzfahrzeug und setzte sich hinein. Durch die Windschutzscheibe konnte Gunnar sehen, dass er aufgeregt in sein Funkgerät sprach.
»Es stimmt also. Du hast tatsächlich eine Tote gefunden!«, stellte Jan fest, als er sich zu ihm auf die Bank setzte. Hilmarström glaubte fast so etwas wie Anerkennung in seinem Ton ausmachen zu können. Typisch, dachte er, die jungen Leute finden das spannend und aufregend.
»Das ist die erste Leiche, die ich je gesehen habe! Und ich hoffe inständig, dass mir so etwas nie wieder passiert! In Omas Aussteuertruhe!«, jammerte Gunnar.
Knut kam zu ihnen hinüber und meinte ein bisschen großspurig:
»Die Frau ist wohl schon älter, würde ich sagen. Der Tod muss schon vor ein paar Wochen eingetreten sein, so wie die aussieht. Bestimmt hat eine der Ferienfamilien ›vergessen‹, sie mitzunehmen. Die Zentrale schickt die Spurensicherung vorbei und informiert die Kriminalpolizei.« Dann wandte er sich an Gunnar: »Du wirst leider hier warten müssen, bis die Kollegen da sind. Bestimmt haben sie Fragen an dich.«
Mitfühlend fragte er dann: »Soll ich Inga Bescheid sagen lassen? Sie wird sich doch bestimmt Sorgen machen, wenn du nicht bald nach Hause kommst.«
»Inga!« Gunnar hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil er sie wegen der ganzen Aufregung einfach vergessen hatte. »Du lieber Himmel! Sie wartet ja mit dem Essen auf mich! Jetzt ist sie sicher schon ziemlich wütend, weil ich mich so verspätet habe! Sie weiß ja nicht …« Er nickte Knut dankbar zu, der daraufhin wieder zu seinem Wagen zurückging.
Jan, der eher zart neben Knut wirkte, wuschelte sich durch die dichten blonden Haare und strahlte den Hausbesitzer aus unglaublich blauen Augen an. Mit einer erstaunlich kräftigen Hand schlug er ihm anerkennend auf den Oberschenkel
»Da hast du ja mal wirklich einen Superfund gemacht, mein lieber Gunnar. Inga wird begeistert sein. Alle Achtung!«
Den schlimmsten Moment hatte er bis zum Schluss vor sich hergeschoben: Das Abnehmen des Kissens! Wie er es schon erwartet hatte: Ihre Augen waren weit aufgerissen, etwas aus den Höhlen getreten und starrten ihn jetzt hasserfüllt an, gerade so, als wolle sie sich sein Gesicht für die Ewigkeit, in die sie nun abgetaucht war, besonders gründlich einprägen.
Er sog die Luft scharf ein.
Mit der rechten Hand versuchte er ihr die Augen zu schließen, doch das, was in Filmen immer so einfach zu funktionieren schien, war ihm nicht möglich! Verzweiflung verdrängte das angenehme Gefühl des Triumphes, das sich seiner langsam bemächtigt und ihm vorgegaukelt hatte, Herr über Leben und Tod zu sein.
Jetzt war ihm klar: Sie würde jede seiner Handlungen über den Tod hinaus im Auge behalten!
Um ihn in einer anderen Zeit, an einem unbekannten Ort dafür zur Rechenschaft zu ziehen!
Sekundenlang starrte er in ihr Gesicht, unfähig zu reagieren oder zu denken. Dann, als löse sich eine unsichtbare Fessel, kam wieder Bewegung in ihn. Er trat vom Bett zurück und zog aus der obersten Schublade ihrer Kommode einen Seidenschal.
Mit dem Tuch in der Hand setzte er sich auf die Bettkante, hob ihren Kopf auf seinen Schoß und bürstete ihr mit zügigen, rücksichtslosen Bürstenstrichen das graue Haar, flocht ihr einen ordentlichen Zopf. Er wusste, dass jetzt Eile geboten war.
Bald würde ihr Körper steif und unhandlich werden und damit seinen genialen Plan doch noch scheitern lassen.
Zum Schluss verband er ihr die Augen mit dem Seidenschal.
»Weißt du noch, wie du Maybritt vertrieben hast?«, fragte er, während er weiter in ihrem Zimmer hin und her ging. »Wie, du kannst dich nicht mehr an Maybritt erinnern? Kein Problem, ich werde dir helfen. Es wird dir wieder einfallen!«
Inzwischen hatte er damit begonnen, ihren kleinen Koffer sorgfältig zu packen. Damit er nur nichts vergaß, hakte er jedes Teil auf einer Liste ab, die er zu diesem Zweck angefertigt hatte. Es durfte ihm jetzt kein Fehler unterlaufen, sonst wäre alles umsonst gewesen!
»Du wolltest Maybritt unbedingt kennen lernen«, nahm er den Gesprächsfaden wieder auf. »Wir waren zu der Zeit schon seit mehreren Monaten heimlich befreundet und hatten ernsthafte Pläne für unsere gemeinsame Zukunft. Zwischen uns war eigentlich schon alles klar! Ich kam also eines Abends mit ihr zu dir – zu einem stimmungsvollen Abendessen. Stimmungsvoll! Ich hätte wissen müssen, dass es neben angenehmen Stimmungen auch noch andere gibt. Damals war ich leider noch nicht so weit, deine Sprachspielchen durchschauen zu können!« Er faltete ein Nachthemd zusammen und legte es in den Koffer.
»Natürlich war Maybritt aufgeregt. Jedes Mädchen ist bei der ersten Begegnung mit der zukünftigen Schwiegermutter nervös. Maybritt, die sonst immer nur Hosen trug, am liebsten superenge Jeans, hatte sich extra für den Antrittsbesuch bei dir ein Kleid gekauft.« Aus der mittleren Schublade der Kommode entnahm er fünf Spezialunterhosen für Menschen mit Blasenschwäche, Hemden sowie drei BHs und packte alles ordentlich auf das Nachthemd. »Du hattest ein wirklich großes Essen vorbereitet. Weißes Tafeltuch, Stoffservietten, eine Vielzahl verschiedenster Besteckteile, die den ungeübten Benutzer verwirrten. Mehrere Gänge folgten aufeinander und alles schmeckte prima. Es lief zu meiner Überraschung alles bestens. Ich fing doch tatsächlich an, mich sicher zu fühlen. Auch Maybritt, die ich natürlich vorgewarnt hatte, entspannte sich zusehends. Wenn man euch so sitzen und lachen sah, konnte man glauben, ihr könntet gut miteinander auskommen. Doch ich hätte es besser wissen müssen! Ich hätte wissen müssen, dass du mich, deinen einzigen Sohn, deinen einzigen Nachkommen überhaupt, nicht so einfach an eine andere ›abtreten‹ würdest!«
Er nahm den warmen Pullover, den er bei seinen letzten Worten wütend in den Koffer geschleudert hatte, wieder heraus, versuchte mühsam seine Erregung zu dämpfen, legte ihn ordentlich zusammen und platzierte in neben der bequemen Hose im Deckel.
Das war alles schon Jahre her.
An jenem Abend wurde ihm klar, dass er direkt in der Hölle gelandet war!
Keine Chance zu entkommen.
»Beim Dessert hast du dann angefangen, Maybritt von deinen vielen eingebildeten Leiden zu erzählen. Und davon, dass ich versprochen hätte dich zu pflegen, nie zu verlassen. Bis zum Ende. Vielleicht konnte Maybritt zu diesem Zeitpunkt noch glauben, dieses Ende sei weit