England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage
Alfred Jarrys Paris begonnen hatte. Scott Krauss’ federnde Schlagzeugrhythmen und Tim Wrights finstere Bassläufe reisten ohne Umweg ins »Herz der Finsternis«: »Image Object & Illusion: go down to the corner / Where none of the faces fit a human form / Where nothing I see there isn’t deformed.«
Pere Ubu entstand aus einer losen Gruppe von Leuten, die alle in der Nähe desselben Wohnblocks, dem Plaza, wohnten. »Es war ein wirklich schönes altes Gebäude in einer schrecklichen Gegend«, sagt David Thomas. »Wir standen auf diesen urbanen Pioniergedanken, ein Haufen Kids, die in Mittelklassefamilien in den Vorstädten geboren worden waren und zurück in die Stadt zogen, weil sie fanden, dass die Stadt leben sollte. Die Stadt, die ich liebte, wurde von allen anderen gehasst: Sie war völlig verlassen, die Leute flohen, sobald die Sonne unterging. Sie war heruntergekommen, aber wir fanden sie als romantisch veranlagte Jugendliche schön. Ich fragte mich, an welchem Punkt eine Zivilisation ihren Höhepunkt überschreitet und wann der Niedergang beginnt. Diese ganzen ausgestorbenen Städte werden vom Dschungel überwuchert. Wann stirbt die Stadt? Wann verstehen die Leute, die dort leben, die Vision der Bauherren nicht mehr? Wir hatten das Gefühl, dass uns Cleveland gehörte, weil es niemand sonst haben wollte. Aber das ist jetzt alles verschwunden. Die Stadt wurde wieder zum Leben erweckt. Und nun reißen sie das wirklich hübsche unbewohnte alte Zeug ab und stellen Eigentumswohnungen hin.«
Pere Ubu waren die erste neue Gruppe aus Cleveland, die es außerhalb der Stadt schaffte. Im Winter 1975 fuhren sie nach New York, um im Max’s und CBGB’s zu spielen. Im März 1976 veröffentlichten sie »Final Solution«, eine zu einem »dumpfen Teenager Angstsong« vereinfachte Version von »Summertime Blues« von Blue Cheer. Das Stück war so nihilistisch, dass sich die Gruppe weigerte, es live zu spielen, wegen der Nazisymbole, die in der neuen Kultur kursierten. Es war ihre erste A-Seite, welche die Traumlandschaft umriss, die sich Pere Ubu zu eigen machte. Unterbrochen von einem Synthesizer, der wie tosender Wind polterte, wurde man von »30 Seconds Over Tokyo« auf einen »selbstmörderischen Trip« mitgerissen, der einem derart zusetzte, dass man sich in einer Zukunft aufzulösen schien, die gleichermaßen hoffnungsvoll und entsetzlich war.
»Lose his senses«, sangen Television in »Little Johnny Jewel«. Mit solchem Ergründen des Unbewussten wurden die fremden Götter der Zeit wieder ausgegraben. Unter dem Mantel des Nihilismus verbarg sich ein undeutlicher, aber hartnäckiger Hinweis auf die rechtsgerichtete Reaktion, die sich im Westen seit Mitte der Siebziger zusammenbraute. »Wir glauben nicht an Liebe oder diese Scheiße«, sagt einer der Herausgeber von Punk in der ersten Ausgabe, und im Interview mit den Ramones war zu lesen: »Dee Dee mag Comics, alles mit Hakenkreuzen drin, besonders Enemy Ace.«
Endgültige Lösungen der unterschiedlichsten Art wurden heraufbeschworen, um den Tod der alten Kultur zu beschleunigen, aber die Nazisymbole blieben. Die Ramones waren ursprünglich von einem Künstler namens Arturo Vega ausstaffiert worden, der im Obergeschoss des Hauses neben dem CBGB’s wohnte: »Alle hingen da rum«, sagt Legs McNeil: »Arturo war ein schwuler Mexikaner und ein minimalistischer Künstler, der Hakenkreuze herstellte, die im Dunkeln leuchteten.« Das frühe Material der Ramones war mit militaristischen Anspielungen auf akronyme Organisationen wie dem CIA oder der SLA (Symbionese Liberation Army) übersät, am deutlichsten in »Blitzkrieg Bop« und »Today Your Love, Tomorrow The World«. »What they want, I don’t know«, sangen die Ramones über ihre Generation. Die formale Strenge ihrer Musik verlieh solchen Slogans eine faszinierende Vieldeutigkeit. »Ich stritt mich mit ihnen über dieses Zeug«, sagt Mary Harron, »Arturo hatte ein paar wirklich eklige Ideen, aber Joey Ramone war ein netter Kerl, er war kein fieser Rechter. Die Ramones waren problematisch. Es war schwer dahinterzukommen, wie sie politisch dachten.«
»The Dictators kamen aus Co-op City in Detroit, die Ramones aus Forest Hills, wir kamen aus Cheshire«, sagt McNeil. »Wir hatten alle dieselben Bezugspunkte: White Castle Hamburger, Muzak, Einkaufszentren. Wir waren alle weiß: Schwarze hatten damit nichts zu tun. Die Hippies wollten in den Sechzigern immer schwarz sein. Wir sagten:
›Scheiß auf Blues, scheiß auf black experience.‹ Wir hatten damals mit schwarzen Leuten nichts gemein: Wir hatten zehn Jahre lang political correctness, und jetzt wollten wir Spaß, so wie das bei Kids eben ist. Es war merkwürdig: Man sah Typen, die in einen Punk-Club gingen und auf dem Weg in die Disco an schwarzen Leuten vorbeiliefen. Sie sahen sich gegenseitig an, nicht mit Abscheu, aber man sah, wie sich die einen fragten: ›Ist es nicht komisch, dass die da rein wollen.‹ Es gab ganz klare rechte Zwischentöne, aber wir fühlten uns nicht nach ›lasst uns eine faschistische Jugendbewegung starten‹ oder so. Ich glaube, niemand wollte da zuviel hineininterpretieren. Es war mehr emotional. Wenn die Symbolik benutzt wurde, war das mehr wie: ›Schaut euch diese Typen an, ist das nicht blöd?‹«
Dieser Aspekt der Polemik und der Pose verschleierte die wahre Wiederkehr des Verdrängten: Ein weißer, vorstädtischer, pubertärer Nihilismus, der seit den sechziger Jahren in Vergessenheit geraten war. Ebenso wie die Musik von jedem schwarzen Einfluss zugunsten eines monolithischen, unsynkopierten Sounds befreit wurde, verhießen einige der dazugehörigen Haltungen sowohl auf den Kitzel des Tabubruchs als auch auf einen üblen Beigeschmack aufgrund der möglichen Implikationen. Dennoch war diese Erkundung des Verbotenen im Punk der Ursprung seiner Macht.
Nichts verdeutlicht das besser als das Kleidungsstück, das vor allen anderen mit Punk in Verbindung gebracht werden muss; das Kleidungsstück, das Punk aus dem Tabu heraus und in die Einkaufsstraßen brachte. »Man musste eine schwarze Lederjacke kaufen«, sagt Legs McNeil. »Man musste diese Grundinvestition tätigen. Wir sahen uns die Ramones im CBGB’s an. Wir trugen diese trotteligen T-Shirts und Jeansjacken. Es war peinlich. Die Ramones trugen Lederjacken: Joey sagte, sie hätten sie von The Wild One. Ich ging am nächsten Tag los und kaufte mir meine erste. Niemand in New York trug schwarzes Leder: wenn doch, machten einem die Leute auf der Straße Platz. Es war nicht wie jetzt. Die Leute wollten zurück zur Aggression, wollten beweisen, dass sie keine Weicheier waren und zogen eine Lederjacke an.«
In der neuen von Punk definierten Ästhetik gab es ein letztes Problem: Homosexualität. Das Wort mochte alle schon bekannten rockspezifischen Bedeutungen haben, aber ein anderer Ursprung kam aus dem Knast, wie Peter Crowley in Punk Nummer 3 erklärte, wo es »die Jungs bezeichnet, die ihren Arsch für die ›Wölfe‹ hergeben.« Gleichzeitig piesackten die Ramones die Liberalen, sie sangen »53rd and 3rd«, ein Song, in dem Dee Dee Ramone seine Erfahrungen beschrieb, als er sich auf einem Stricher-Treffpunkt herumtrieb. Die zerrissenen Jeans und engen T-Shirts, Elemente ihres Stils, der schnell um die Welt gehen sollte, waren den Jungs dort abgeguckt.
Punk musste also den Makel der Homosexualität abschütteln, nicht aufgrund kleinstädtischer Vorurteile, sondern weil in den Worten von Leee Black Childers »Schwule den Großteil des Publikums darstellten«. Es wurde zu einer Möglichkeit für Punk, das Unsagbare in einem pluralistischen, liberalen Milieu zu sagen. »John und Legs schrieben ein paar Sachen über Wayne County und traten damit einen riesigen Krieg los. Eine Menge der Bands, für die sie eintreten wollten, wie Blondie, weigerten sich, eine Rolle in diesem anti-homosexuellen Schaustück zu übernehmen. Das ist prima: In einer wachsenden Szene macht es eine Weile lang Spaß, eine Fehde auszutragen. Es schafft Interesse.«
Als die Gruppen aus dem CBGB’s Schritte in Richtung des amerikanischen Mainstream unternahmen und im ständigen Austausch zwischen London und New York anfingen, Einfluss auf England auszuüben, blieb der amerikanische Punk diesen Widersprüchlichkeiten verhaftet. Im Herbst 1975 veröffentlichte die Patti Smith Group ihre erste Langspielplatte. Television zogen die Aufmerksamkeit von Plattenfirmen auf sich, ebenso wie die Ramones, Blondie und die Talking Heads, und zwar in einem Maße, das für die New Yorker Rock-Szene ungewöhnlich war und teilweise der erfolgreichen Übersetzung des CBGB’s durch Punk zu verdanken war, die Plattenfunktionären wie Seymour Stein unmittelbar einleuchtete.
Allerdings schlummerten in dieser Verbindung Probleme, deren Lösung mehrere Jahre in Anspruch nehmen würde. Wie konnte man gleichzeitig hart und ein Versager sein? Wie konnte man mit rechter Symbolik spielen und nicht darauf reinfallen? Wie konnte man einen Text von Rimbaud nehmen und die mythologische Kurve seines Lebens ignorieren? Von Beginn an war in Punk nicht nur die Tendenz zur Selbstzerstörung, sondern eine kurze Haltbarkeitsdauer eingeschrieben.