England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe]. Jon Savage

England's Dreaming [Deutschsprachige Ausgabe] - Jon  Savage


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nächsten Tag rief Paul Cook McLaren an, um ihm zu sagen, dass er die ganze Nacht nachgedacht hatte, und dass er aus der Band aussteigen wolle. Er fand, die Gruppe sei ein Scherbenhaufen und dass McLaren mit dem Proberaum Geld verschwenden würde. »Ich dachte, Malcolm würde die ganze Zeit Scheiße reden«, sagt Cook, »er sagte immer, dass etwas passieren würde, aber es passierte nie.« McLaren gewann Zeit, indem er Vorspieltermine für einen fähigen Gitarristen ansetzte. Die Anzeige für einen »Whizz Kid-Gitarristen, nicht älter als 20, nicht schlechter aussehend als Johnny Thunders« erschien am 27. September in Melody Maker. Eine Antwort kam sofort.

      Laut McLaren »kamen ein paar unglaublich komische, verrückte Kids. Einer hieß Fabian Quest und drehte beim Gitarrespielen seinen Kopf zur Wand. Als sie ihn vorspielen ließen, merkten sie, dass sie immerhin schon mal besser waren als dieser Typ. Jones machte sich in die Hosen vor Lachen. Sie benahmen sich schrecklich. Aber sie hatten plötzlich eine Identität: Es kamen diese ganzen Kids, also war es nicht so, dass jeder mitmachen konnte. Sie hatten eine gemeinsame Basis: Sie kritisierten diese Leute und deren unterschiedliche Vorstellungen, die nicht zu ihren eigenen passten, obwohl sie nicht wussten, welche Vorstellungen sie eigentlich hatten.« Cook wurde überredet, dabei zu bleiben, und Proben wurden um seine Arbeitszeiten herum angesetzt. Lydon und Jones waren arbeitslos, während Matlock gerade wieder nach St. Martin’s zurückgekehrt war.

      »Ich lebte lange Zeit alleine in der Denmark Street«, sagt Steve Jones. »Ich nahm Black Bombers und spielte stundenlang zu Platten: Raw Power und die New York Dolls. Meine Finger waren runter bis auf die Knochen.« »Wir probten fast jeden Tag«, sagt Glen, »selbst wenn es nur für eine halbe Stunde war.«

      Die Sex Pistols taten, was jede andere Gruppe in ihrer Lage auch tat: Sie spielten ihre Lieblingsoldies und machten sie zum Prüfstein. Im Oktober probten sie ein Repertoire, das vor allem aus experimentellem Mod-Pop bestand: »Psychotic Reaction« von Count Five, »Through My Eyes« von The Creation, fünf Songs von den Small Faces, darunter »All Or Nothing« und »My Mind’s Eye«, der brutale R&B von Dave Berry »Don’t Gimme No Lip Child«, und die inzestuösen Zeilen aus »Substitute« von The Who. Trotz der Gewalt in diesen Songs war Lydon nicht zufrieden: »Alle fanden, ich wäre gemein und widerwärtig, weil ich keine Coverversionen oder Small Faces-Songs spielen wollte. Wir spielten ein paar gute Songs, wir haben sie wirklich verstümmelt, aber man muss irgendwo anfangen. ›Don’t You Gimme No Lip, Child‹, ›Don’t You Talk Back To Me‹: Aus dem Mund eines 18jährigen ist das ziemlich sarkastisches Zeug. Sobald ich die Gelegenheit hatte, kam ich mit Ideen an: ›vergiss sie‹, dachte ich, ›die wollen Who-Nummern klauen. Mir egal. Ich werde die Songs schreiben, die ich schreiben will.‹ Ich hasste das Proben. Ich fühlte mich unsicher, also schrieb ich diese kleinen Dinger, kroch in eine Ecke, nuschelte vor mich hin und hoffte, dass es niemand hören würde.«

      Um nicht einfach nur eine bessere Pub-Rock-Band zu sein, brauchten die Sex Pistols eigenes Material. McLaren drängte sie. »Damals war Malcolm wie ein Bandmitglied«, sagt Cook, »er hing gerne mit jüngeren Leuten ab, lebte von deren Energie.« Lydon hatte den Text zu »Scarface« geändert, der zu »Did You No Wrong« wurde, bevor Matlock mit »Pretty Vacant« kam.

      »Es war noch nicht lange her, dass Malcolm mit Postern aus den Staaten zurückkehrte«, sagt Matlock, »eins war von Television, die Band, in der Richard Hell war. Da waren diese ganzen großartigen Songs drauf, ›Blank Generation‹, ›Venus De Milo‹, und daher hatten wir die Idee für ›Pretty Vacant‹.«

      Der Song beginnt mit einem einzelnen, aber theatralisch wiederholten Gitarrenlauf, bevor er in eine von Matlocks besten Melodien und prägnantesten Strukturen übergeht. Der Refrain des Songs, »We’re so pretty«, war die Antwort auf einen Artikel in der Sunday Times über die Bay City Rollers, wo das Bild einer 17jährigen Kunststudentin mit der Bildunterschrift »They’re so pretty« versehen war. Lydon verkehrte Glens Refrain und das, was ein hübsches kleines Rock-Liedchen hätte sein können, in etwas vollkommen anderes: Seine negativen Verszeilen sind eine entschiedene Weigerung, obwohl sie gleichzeitig auch als Absage an Definitionen verstanden werden können: »There’s no point in asking: you’ll get no reply.«

      »Pretty Vacant« fing die Spannungen zwischen Lydon und Matlock ein. »Ich und Glen waren nie auf einer Wellenlänge«, sagt Lydon. »Die Sachen, die er mochte, die hübsche, sauberrasierte Seite von Pop, finde ich abstoßend und öde.« »John ist ein durchgeknallter Katholik«, sagt Matlock, »und das kam im Text zum Vorschein. Einer der Songs, den wir nie benutzt haben, handelte vom Erzengel Gabriel.«

      Genau genommen fand bereits der Kampf um die Kontrolle statt.

      »Glen war Malcolms Handlanger«, sagt Bernard Rhodes, »er machte alles, besorgte die College-Auftritte. Es wurde eine Sache zwischen John und Malcolm: sie verstanden sich gut, aber wenn man den Aufrührer unterstützt, um ein Problem zu lösen, dann arbeitet man am Ende für den Aufrührer. Glen war Malcolms Trumpf.«

      Lydon hatte sich durch eine lange, morbide Phase zu kämpfen.

      »Den einzigen Job, den ich wirklich haben wollte, als ich arbeitslos war, gab es in einem Bestattungsinstitut, aber sie haben mich nicht ernst genommen«, sagt er. Ein früher Song, eine Antwort auf Hells

      »Please Kill Me« T-Shirt, hieß »Kill Me Today«. Unter dem Druck, Hymnen über den Generationskonflikt produzieren zu müssen, begann Lydon mit einer systematischen Verwirrung der Sinne, die ihn dazu brachte, selbstreflexive Versuche wie »Concrete Youth« und »Mindless Generation« zugunsten instinktiverer, unbewussterer Ansätze fallen zu lassen.

      »Ich dachte eine Woche lang darüber nach«, sagt Lydon, »und dann kam es in einem Rutsch heraus.« Das Ergebnis war eher anspielungsreich als spezifisch. »You’re only twenty-nine, got a lot to learn, but when your business dies, you will not return«, sang er auf »Seventeen«, dem Song, mit dem die Sex Pistols einem Gründungsmanifest vielleicht am nächsten kamen: »We make noise ’cos it’s our choice, it’s what we want to do. We don’t care about long hair: we don’t wear flares.« »I don’t work«, schloss er, »I just speed that’s all I need.«

      Die verschiedenen Erklärungen von McLaren und Lydon, alljährlich in den Medien veröffentlicht, belegen ganz deutlich, dass keiner von beiden Einfluss auf den anderen hatte und noch schlimmer: »Wir waren nie Freunde, nie« (Lydon); »Niemals, nie« (McLaren). Unabhängig von diesen Kabbeleien wird aber noch eine andere Seite der Geschichte sichtbar. »Ich sah McLaren einige Wochen, nachdem er auf John gestoßen war«, erzählt Nick Kent, »er schwärmte von ihm. Was mich schließlich davon überzeugte, dass er es geschafft hatte, war: Er ist das Beste an der Band, er schreibt großartige Texte, er hat einen Song, der heißt ›You’re only twenty-nine, but you got a lot to learn‹.«

      »Eigentlich mochte John Malcolm am Anfang«, meint Helen Wallington-Lloyd, »vielleicht als Vaterfigur oder als Spiegelbild seiner selbst. Und für Malcolm war John eine jüngere Ausgabe seiner eigenen Person. Wenn du jung bist, bist du furchtlos, du kannst alles mögliche machen.« 1975 verließ Malcolm Vivienne, um mit Helen, die gerade aus Südafrika zurückgekehrt war, in ihrer Wohnung in der Bell Street zu leben. »Er trug Lederhosen und sprach wie ein Amerikaner; ich traf Johnny und seine Kumpel. Johnny sah in seinem Mohair-Pullover umwerfend aus: wie ein junger Albert Steptoe. Sehr schwuchtelig und immer am jammern. Er hatte sehr eindeutige Ansichten, und er brachte sie zur Sprache: laut. Ich sah ihn an und dachte: ›Was hat sich Malcolm da bloß angelacht?‹ Seine Freunde wirkten auf mich wie diese National Front-Typen, wie Rüpel. Sie schubsten sich ständig und erzählten was von Schwuchteln, Juden und Schwarzen. John war auch ein bisschen so: sehr misstrauisch gegenüber Leuten aus der Mittelklasse. Ich habe mit seiner Mutter telefoniert. Sie fragte mich: ›Wie ist dieser Malcolm McLaren wirklich? Glauben Sie, der ist echt? Denkt er auch an den Jungen?‹ Ich glaube nicht, dass es ihnen gefallen hat, dass Malcolm Jude war. Da gibt es ein tiefsitzendes katholisches Ressentiment gegenüber Juden, besonders gegenüber jemandem wie Malcolm, der die Fäden zog. Ich kam John sehr nahe: Er mochte mich. Seine Mutter sagte: ›Er ist ein komischer Junge, widerspricht sich dauernd.‹ Ich glaube, er ist insgeheim schwul. Ich glaube, mit Malcolm war es eine sexuelle Angelegenheit. Es war narzistisch: Sie sahen sich sehr ähnlich. Beide Wassermänner,


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