Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück. Klaus Bittermann

Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück - Klaus Bittermann


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es nur eine Frage der Zeit war, bis er aus dem Fenster springen würde. Wanda hatte lange überlegt, worauf das mürrische Verhalten Sids in der letzten Zeit zurückzuführen war. Er machte kaum den Mund auf, nicht mal, wenn er etwas gefragt wurde, und er machte einen abwesenden Eindruck, als interessiere ihn nicht, was sie, immerhin seine Mutter, zu sagen hatte. Sie hatte gewartet, bis er von der Schule nach Hause kam, und ihn dann zur Rede gestellt.

      »Ich weiß jetzt, was du hast und warum du nie den Mund aufmachst«, hatte Wanda gesagt. »Du rauchst Haschisch!«

      Als Sid so unerwartet mit diesem Vorwurf konfrontiert wurde, wurde ihm auf der Stelle schlecht. Er sagte nichts, aber das machte sie nicht etwa unsicher, vielmehr schien ihr sein Schweigen den letzten Beweis für seine Schuld zu erbringen. Und als er schließlich doch noch »Wie? Haschisch? Ich?« aus sich herauspresste, eskalierte die einseitig geführte Unterhaltung mit der Drohung, sie würde alles erzählen. Und zwar Willy.

      Von seinen Schultern aus begann eine Lähmung sich über seinen gesamten Körper auszubreiten. Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür ab. Es dauerte eine Weile, bis Wanda Schlebrowski aufhörte, mit der flachen Hand gegen die Tür zu schlagen und ihn anzuflehen, nicht aus dem Fenster zu springen. Sid fand die Sorge um sein Ableben etwas übertrieben, denn sie wohnten im Erdgeschoss.

      Sid sah eine Katastrophe auf sich zurollen wie einen Lastwagen, bei dem die Bremsen versagen, und er hatte keine Chance auszuweichen. Sid wusste nicht, wie er noch einmal davonkommen könnte. Er fürchtete den Jähzorn seines Vaters.

      Ein Gedanke nahm immer mehr Gestalt an, und der hieß Flucht. Er würde seinem Namenspatron damit keine Ehre machen, denn Sid Vicious hätte ... ja, was hätte er gemacht? Zurückgeschlagen? Vermutlich. Aber gegen einen ehemaligen Boxer mit 46 Kämpfen, die deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hatten, wäre das Harakiri gewesen, auch wenn Willy seine beste Zeit hinter sich hatte. Sid Vicious hätte die Konfrontation gesucht und das mit der Gewissheit, Hämatome und eine gebrochene Nase zu riskieren. Für ihn wären das Ehrenabzeichen gewesen.

      Sid Schlebrowski wollte keine Ehrenabzeichen abbekommen.

      Selbstmord kam noch in Frage und wäre ganz im Sinne von Sid Vicious gewesen. Auch er, der kleine Sid aus einer kleinen Stadt, hielt Selbstmord in diesem Moment für eine Lösung, mit der sich seine Probleme schlagartig erledigt hätten, aber er hatte nicht den Mut dazu. Zudem hätte er nicht gewusst, wie er sein Ableben hätte bewerkstelligen sollen, jedenfalls nicht auf die Schnelle und so völlig unvorbereitet. Er fand Selbstmord eigentlich gar nicht schlecht, denn hatte man es erst mal getan, wurde alles weitere egal. Und das hatte er sich schon häufig gewünscht. Dass alles egal wäre. Die Sechs in Latein. Die ständigen Nervereien mit Willy. Das hatte schon was. Aber so einfach war es nicht, sich aus dem Leben zu stehlen. Sid stellte sich vor, welche Überwindung ihn das kosten würde. Er müsste richtig aktiv werden. Das war ihm einfach zu anstrengend.

      Sid hatte nur eine vage Vorstellung von Sid Vicious, und die bestand aus Motzen, rotzigem Verhalten, Trotz, Verweigerung, Mittelfinger, Insubordination. Insubordination gefiel Sid besonders gut, weil niemand aus seiner Schulklasse wusste, was das bedeutete, und vermutlich hätte das auch der echte Sid nicht gewusst. Der unechte Sid hatte es in einem Fremdwörterlexikon entdeckt und war ziemlich stolz auf das Wort. Das hatte er ganz für sich allein. Leider konnte er nicht so recht damit punkten, weil ihn alle verständnislos anguckten. Bewunderung und Anerkennung sahen anders aus.

      Seine Insubordination drückte er auf einem T-Shirt aus, auf das er einen Spruch Calvins gekritzelt hatte: »Every day I’m forced to add another name to the list of people who piss me off.« Das T-Shirt hätte nicht lange existiert, hätte Willy Schlebrowski verstanden, was da stand, und geahnt, dass auch er auf dieser Liste stand. Aber Willy konnte kein Englisch.

      Sid liebte die Sex Pistols und ihre Musik, aber mit Sid Vicious verband ihn dennoch ein eher loser Faden. Sid hörte sich jedoch besser an als Michael, wie Sid mit bürgerlichem Namen hieß und wie noch drei andere in seiner Klasse hießen, weshalb sich immer gleich vier Leute umguckten, wenn einer Michael rief. Wahrscheinlich hatten ihn seine Eltern nach dem Erzengel Michael benannt, von dem ihm noch aus Kindertagen ein Kirchenbild ins Gedächtnis eingebrannt war, wie er in glanzvoller Rüstung über einem dunkelhäutigen, nackten Luzifer das Schwert erhebt, um ihn in den Abgrund der Hölle und der Verderbnis zu stürzen. Ein Racheengel. Ein Racheengel auf der Flucht. Warum nicht?, dachte Sid. Hatten ihn seine nächtlichen Wanderungen, wenn er verzweifelt war und Willy wieder fürchterlich genervt hatte, nicht immer zum Bahnhof geführt, wo er den Zügen hinterhersah, die aus der Stadt fuhren, irgendwohin, nur raus aus diesem Tal der Blöden?

      Und jetzt? Die ungewisse Zukunft bereitete ihm keine Kopfschmerzen. Irgendetwas würde sich schon ergeben und dann würde er weitersehen.

      Die Sonne streichelte über sein Gesicht, die Bäume strichen wie Phantome an ihm vorüber und gaben immer wieder die Sicht frei auf träge Felsen und Dörfer, die völlig verlassen schienen wie nach einer Atombombe. Alles verstrahlt. Sid fühlte sich wohl und die stoßgedämpfte Atmosphäre des Citroën machte ihn leicht schläfrig.

      »Wir müssen mal kurz tanken«, sagte Nancy.

      Sid warf einen fragenden Blick auf die große Sonnenbrille.

      »Wir haben kein Benzin mehr«, präzisierte Nancy.

      »Oh«, sagte Sid.

      An der nächsten Autobahntankstelle war viel Betrieb. Sie reihten sich in der Schlange ein, die am weitesten vom Kassenhäuschen entfernt war. Als sie schließlich dran waren, stand ein R4 an der vorderen Zapfsäule.

      »Lass dir Zeit mit dem Tanken«, sagte Nancy.

      »Wo ist denn der Tank?«, sagte Sid.

      »Irgendwo hinten«, sagte Nancy.

      Na toll, dachte Sid. Er stieg aus, ging um den Citroën herum und starrte das Auto an, als wolle er es mit seinem Blick dazu bringen, das Geheimnis preiszugeben. Sid hatte noch nie getankt. Bei dem Käfer, den seine Eltern in den noch guten Zeiten gefahren hatten, musste man vorne die Haube aufmachen. Aber nachdem seine Mutter einmal als Geisterfahrerin auffällig geworden war, war das Auto wieder abgeschafft worden, weil man ihr den Führerschein abgenommen hatte, und Willy hatte nie einen gehabt.

      »Ich hab noch nie getankt«, sagte Sid.

      Nancy kicherte. Dann stieg sie aus, sagte »Mannomann« und zeigte Sid den Tankdeckel. Nancy hasste den Geruch von Benzin an ihren Händen. Der ging so schlecht wieder weg und stieg einem ständig in die Nase.

      Da Sid nicht wusste, woran sich erkennen ließ, wann der Tank voll war, drückte er nur sehr zaghaft auf den Abzug des Stutzens, weil er befürchtete, das Benzin würde irgendwann rausschwappen. Der R4 vor ihnen fuhr los und Sid mühte sich immer noch ab.

      »Fertig?«

      »Wieviel passt denn in den Tank?«, fragte Sid zurück.

      »Keine Ahnung«, sagte Nancy.

      Hinter ihnen guckte Josef Greindl Sid in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Aggression zu. Greindl war BMW-Fahrer aus Überzeugung, rüstiger Rentner und schlecht gelaunt. Ihm gefiel das Auto nicht, ihm gefiel der Junge nicht, ihm gefiel die Lederjacke nicht, die er anhatte, und ihm gefiel nicht, dass der Junge sich alle Zeit ließ, als würden nicht zehn weitere Autofahrer hinter ihm warten.

      Er hupte.

      Nancy trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.

      Ein Mann von der Tankstelle tauchte auf. Er hatte einen blauen Overall an und ölverschmierte Hände und hieß Herbert Busche. Er beachtete Sid gar nicht, sondern fragte Greindl, ob er ihm die Windschutzscheibe putzen solle. Als Servicekraft war das sein Job. Er hoffte auf ein paar Groschen Trinkgeld. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, wobei ein anderer Zeitpunkt vermutlich auch nicht günstiger gewesen wäre. Herbert Busche bekam einige sehr unfreundliche Worte zu hören mit dem verbissenen Hin­weis, sich lieber um eine zügige Abfertigung zu küm­mern. Der Tankstellenmann wandte sich ab. Arschloch, dachte er.

      Sid erinnerte ihn an seinen eigenen Sohn. Linkisch und bleich. Er hatte sich auf der Autobahn, nicht weit von


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