Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück. Klaus Bittermann

Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück - Klaus Bittermann


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gab es einen Zeugen, der gesehen haben wollte, wie der BMW sehr dicht aufgefahren war, bevor sein Sohn die Kontrolle über das Auto verloren und sich überschlagen hatte. Vom BMW-Fahrer gab es keine Spur und niemand hatte sich das Kennzeichen gemerkt, weshalb der Unfall als selbstverschuldet abgelegt wurde. Jedesmal, wenn die Erinnerung an seinen Sohn zurückkehrte, krampfte sich sein Herz zusammen, obwohl seit dem Unfall mehr als zehn Jahre vergangen waren. Er mochte diesen dünnen unbeholfenen Jungen, trotz der Lederjacke mit den Nieten, deren praktischer Nutzen ihm Rätsel aufgaben.

      »Kannst du mir verraten, was du da treibst?«, fragte Herbert Busche leicht amüsiert, und als Sid ihn verstört ansah: »Voll?«

      Sid nickte. Der Mann nahm ihm den Stutzen aus der Hand. Woher er komme und wohin es ginge, wollte Herbert Busche wissen. Freundlich und beiläufig. Sid war nicht in der Stimmung, Konversation zu betreiben. Das war er sowieso nicht sehr oft. Nicht mit älteren Leuten. Ihnen gegenüber empfand er immer eine Mischung aus Misstrauen und einem »Was will der denn von mir?«-Gefühl. Besser, mit denen nichts zu tun zu haben.

      »Zahlen kannst du da drüben, mein Junge«, sagte Herbert Busche schließlich und hängte den Zapfhahn an die Säule. »Du kannst doch zahlen, oder?« Busche lachte, klopfte Sid väterlich auf die Schulter und sagte »kleiner Scherz«. Er wandte sich ab und erblickte einen silbernen Mercedes und einen silbernen älteren Herrn, der nach Trinkgeld aussah.

      »Neununddreißigachtzig«, sagte Sid und beugte sich zur Autotür hinunter.

      »Kann schon sein«, sagte Nancy. »Steig ein.«

      Kaum saß Sid im Auto fuhr sie auch schon los. Josef Greindl hatte seinen rechten Arm auf das Dach und seinen linken auf die offenstehende Tür gelegt und sah den beiden nach. Dann sah er zum Tankwart. Er rief ihm etwas zu. Busche blickte hoch und dann in die Richtung, in die Greindl ihm Zeichen machte. Der Citroën fuhr da bereits auf die Autobahn. Herbert Busche stand einfach nur da und sah dem, sich in den Verkehrsstrom einfädelnden Citroën hinterher. Auch als der Citroën schon nicht mehr zu sehen war, starrte Herbert Busche in die Ferne, unbeweglich wie eine Statue. Josef Greindl setzte sich hinter das Steuer und fuhr los.

      Herbert Busche lief eilig zum Kassenhäus­chen und meldete seinem Chef, dass ein beiger BMW mit dem Kennzeichen SAN-JG 1929 mit einer vollen Tankfüllung gerade die Raststätte verlassen hätte, ohne zu zahlen. Der Chef griff nach dem Telefon, um die Polizei zu verständigen.

      Herbert Busche fühlte sich gut wie seit Jahren nicht mehr. Leicht und beschwingt schwebte er von Auto zu Auto wie eine Biene von Blume zu Blume. Noch nie hatte er so viel Trinkgeld an einem Tag bekommen.

      Josef Greindl hingegen verstand die Welt nicht mehr, als er, den Citroën bereits in Sichtweite, von einem Polizeiauto mit Blaulicht, Sirene und Polizeikelle gezwungen wurde, an den Seitenstreifen zu fahren und anzuhalten.

      Als Nancy das im Rückspiegel sah, schlug sie ausgelassen auf das Lenkrad und lachte hysterisch: »Die haben den Scheiß-BMW aus dem Verkehr gezogen. Ich fass es nicht.« Und dann schmetterte sie so laut sie konnte: »We are the cham­pions!«

      2

      Es war Sids erste illegale Handlung. Auch wenn er von Nancy nicht in ihren Plan eingeweiht worden war, so hatten sie zusammen doch eine Grenze überschritten. Sie waren Gesetzlose. Diese Tat machte ihn zu Nancys Kom­plizen. Unwiederbringlich. So schien es ihm. Sie war ihm nicht mehr fremd. Jedenfalls nicht mehr sehr. Er sah sie mit anderen Augen. Er bewunderte sie für diese Aktion. Dass sie fast schiefgegangen wäre, kümmerte ihn nicht.

      Immer wieder lachten sie über die Polizei, die das falsche Auto angehalten hatte, und es war ein befreites Lachen, weil sie wussten, dass sie es einem verrückten Zufall zu verdanken hatten, der sie hatte davonkommen lassen, während Sids Schutzengel auf der Rückbank saß und dachte: Wenn ihr wüsstet! Es hatte ihm eine tiefe Befriedigung verschafft, Herbert Busche ein wenig fernzulenken, und er freute sich darüber, dass es so großartig geklappt hatte. Schließlich konnte er die Geschichte jetzt noch nicht zu Ende gehen lassen. Sie hatte ja gerade mal erst angefangen.

      Nancy hatte, kaum war das Sirenengeheul verklungen, bereits vergessen, wie Sid sie auf der Tankstelle dazu gebracht hatte, auf dem Sitz immer tiefer zu rutschen, wie sie ihn als »Volltrottel« verflucht hatte. Nicht zu wissen, wie man tankt, musste man ja auch erst mal schaffen. Und jetzt? Jetzt sah sie das schmale Lächeln in seinen feinen Gesichtszügen, seine großen Augen, die verwirrt und un­sicher in die Welt guckten, und seine langen Wimpern und verspürte das dringende Bedürfnis, von sich zu erzählen.

      Wie sie darauf kam, fragte sich Nancy nicht. Vielleicht wollte sie interessant für Sid erscheinen. Vielleicht erschien ihr die Aussicht, die nächsten Stunden schweigend nebeneinander zu sitzen, nicht sonderlich attraktiv. Außerdem hatte sie schon immer gern erzählt. Vor allem, wenn es um sie selbst ging. Also erzählte sie, wie sie als Sechsjährige den Hasen geben musste, der von den Hunden und der Jagdgesellschaft ihres Vaters aufgescheucht und durch das Gebüsch getrieben wurde. Das war aufregend. Sie dramatisierte die Ereignisse im Nachhinein etwas, um Sid zu beeindrucken, aber auch weil sie diesen Vorgang im Abstand von zehn Jahren tatsächlich etwas erniedrigend fand. Damals jedoch fand sie die Sache nicht schlimm. Es war ein Spiel, bei dem sie der Ehrgeiz packte. Aber weil sie immer verlor, hatte sie bald keine Lust mehr.

      Einmal war sie schnell auf einen Baum geklettert, während die Jagdhunde unten kläfften. Sie streckte ihnen die Zunge raus. Gewonnen, dachte sie. Aber in diesem Moment legte ihr Vater das Gewehr an und machte »piffpaff«.

      »Das giltet nicht«, rief sie aufgebracht vom Baum herunter, aber Viktor von Westphalen lachte nur. Und je mehr er lachte, desto wütender wurde sie.

      Natürlich war sie nicht dazu gezwungen worden. Sie wurde dafür sogar bezahlt. Das Geld trug sie in die Eisdiele, in die sie ihren damaligen Lieblingsbruder Harry einlud.

      Und sie erzählte, wie sie schon mit zwölf zum ersten Mal abgehauen war. Zusammen mit ihrem dreijährigen Bruder Hardy. Drei Wochen waren sie unterwegs. Bis nach Madrid hatten sie es geschafft. Aber dann machte sie den Fehler, ihrer Mutter Auguste eine Ansichtskarte zu schicken. Das stand damals sogar in der Zeitung.

      Im Ton einer Nachrichtenfrau sprach Nancy die Kurzmeldung, die sie auswendig konnte. Durch sie hatte die Außenwelt zum ersten Mal von ihr Kenntnis erlangt:

      Eine zwölfjährige Schülerin aus dem nordbayerischen Eibelsdorf, die mit ihrem dreieinhalbjährigen Bruder von zu Hause ausgerissen war, hält sich offenbar in Spanien auf. Die Mutter erhielt jetzt eine in Madrid abgestempelte Ansichtskarte. Darin beschrieb die von unstillbarer Reiselust besessene Zwölf­jährige, sie sei endlich dort, wo sie hingehöre. Es gehe ihr gut, auch ihr Bruder habe kein Heimweh.

      »Na? Nicht schlecht, oder?« Nancy sah Sid herausfordernd an.

      »Abgefahren«, sagte Sid. »Wie hast du das gemacht?«

      »Also, wir haben ja nur in den Grandhotels übernachtet«, sagte Nancy einen schnöselig-angeberischen Ton nachahmend und hob ihre Nase, um Sid wie von oben herab ansehen zu können. »Ich war echt gut.« Nancy senkte das Kinn und sprach mit einer rauhen, tiefen Stimme, die sich nicht sehr überzeugend anhörte: »Hallo, hier spricht Hermine von Hasselroth. Haben Sie ein Zimmer frei? Ich befinde mich in einer misslichen Lage. Unfall. Leider. Beinbruch. Ich liege im Krankenhaus. Morgen schon werde ich operiert. Aber meine zwölfjährige Tochter und mein dreijähriger Junge brauchen eine Unterkunft. Würden Sie die beiden bitte bei sich aufnehmen? Ich würde mich dafür auch erkenntlich zeigen. In spätestens einer Woche werde ich entlassen.«

      »Und das hat geklappt?«, fragte Sid.

      »Natürlich hat das geklappt«, sagte Nancy, obwohl es nicht immer geklappt hatte.

      Manchmal hatte sie auch erzählt, dass ihre Eltern überfallen worden oder in einer geheimen Mission unterwegs seien. Rief sie ein Hotel an, legte sie wie in den Kriminalfilmen ein Taschentuch auf die Sprechmuschel. Nahmen nach ein paar Tagen die Fragen nach ihren Eltern überhand, suchte sie das nächste Hotel auf und umgarnte das Personal, das Mitgefühl für ihre missliche Situation hatte. Manchmal ging es allerdings auch schief. Dann verbrachten die beiden die Nacht auf einer


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