Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück. Klaus Bittermann
merkwürdigen Zustand der Schwerelosigkeit. Er dachte an die lange Nacht, die nie zu Ende hätte gehen dürfen, und an den Champagner, der aus ihm einen vor Witz und Charme überschäumenden Menschen gemacht hatte.
Nancy kam aus dem Bad, mit einem großen weißen Handtuch umwickelt und einem weiteren als Turban auf dem Kopf und sagte: »Guten Morgen.« Sie strahlte. Dieses wundersame »Guten Morgen« war für Sid wie ein Versprechen auf die Zukunft. Es umschmeichelte ihn wie die sanfte Luft eines ersten Sommerabends, wenn er auf dem Begrenzungsstein zu einer Brache abseits vom Bahnhof saß und den Zügen hinterhersah. So musste es an einem einsamen Strand sein mit feinem weißen Sand, der durch die Zehen rieselte, stellte er sich vor.
Drei Stunden später standen Sid und Nancy in der Herrenabteilung des Oberpollinger in der Neuhauser Straße. Sie waren wie zufällig dort gelandet. Sid betrachtete misstrauisch den riesigen, funkelnden Warenhaustempel.
»Was machen wir hier?«, fragte Sid.
»Überraschung.«
»Überraschung?«
»Neugierig?«
»Weiß nicht«, sagte Sid zögerlich, obwohl er natürlich neugierig war. Sehr sogar.
Nancy hatte eine große Einkaufstüte über ihrer Schulter hängen, auf der Versace stand, in der eine weitere Tüte von Versace steckte. Die stammten von ihrer Mutter, die Einkaufstüten wie Trophäen aufhob. Für Auguste von Westphalen waren sie das, was der Hirschkopf für ihren Schwiegervater war, der immer noch über dem Kamin hing. Nancy mochte Versace nicht besonders. Und den Hirschkopf fand sie lächerlich.
Sid fragte sich und Nancy, wozu sie die Tüten brauchte, aber Nancy grinste nur und sagte:
»Gehört zum Auftrag.«
Sie streifte die Anzugreihen entlang, nahm hin und wieder einen heraus und warf einen prüfenden Blick darauf.
»Der ist nicht schlecht, oder?«, sagte Nancy schließlich.
Für Sid hatte der Anzug nichts Ungewöhnliches. Nur das Preisschild fand er ungewöhnlich.
»Très chic«, sagte Nancy, als Sid hinter den Vorhängen der Umkleidekabine wieder hervorkam. Im Spiegel sah er ein gequältes Gesicht. Er fühlte sich so fremd wie ein Außerirdischer, der sich auf dem Viktualienmarkt zum nächsten Telefon durchfragen muss, um seine Freunde anzurufen, damit sie ihn abholen.
»Du siehst jetzt ganz anders aus«, sagte Nancy, »wie David Bowie. Umwerfend.«
Umwerfend? Seine Mutter hätte es umgeworfen. Und die Jungs an seiner Schule auch. Sie hätten sich vermutlich gefragt, was mit ihm los sei, und diskutiert, ob die Krankheit sehr schlimm sei oder nicht ganz so schlimm. Oder sie hätten sich gebogen vor Lachen. Und es wäre kein nettes Lachen gewesen.
Schließlich entschied sich Nancy für drei Anzüge, einen in Kobaltblau, einen in Ebenholzschwarz und einen in Champagnerfarben. Drei weiße Button-down-Hemden kamen noch dazu.
Die Verkäuferin Manuela Hillgruber registrierte den teuren Geschmack des jungen schwarzhaarigen Mädchens, und da Nancy ihr mit einem freundlichen und entschiedenen »Danke« zu verstehen gegeben hatte, dass sie bei der Anprobe alleine zurecht kämen, faltete Manuela Hillgruber wieder T-Shirts zusammen, die Kunden aus einem Stapel hervorgezerrt und achtlos hingeworfen hatten. Sie dachte daran, dass ihr Freund leider nicht so ein dankbares Opfer war wie der Freund des Mädchens, der offenbar alles über sich ergehen ließ. Werner lief in der Regel mit einem Trikot der Löwen und in Trainingshosen herum. Fragen der Mode hielt er für so abartig wie mit einem Schminktäschchen die Leopoldstraße entlangzuspazieren. Er interessierte sich einfach nicht für ihren Beruf. Manuela Hillgruber litt darunter. Sie nahm sich vor, ihr Leben zu ändern. Und das tat sie dann auch. Sie warf seinen blau-weißen Fanschal zum Fenster hinaus und verliebte sich in einen Koch. Als sie erfuhr, dass er Bayern-Fan war, war es bereits zu spät.
Nancy nahm aus der Versace-Tasche eine identische Versace-Tasche heraus, gab eine davon Sid und sagte ihm, er solle die Anzüge und Hemden einpacken.
»Bleib in der Umkleide. Warte auf mein Zeichen«, sagte Nancy.
»Was für ein Zeichen?«, fragte Sid.
»Das wirst du schon merken.«
Dann schlenderte sie unauffällig umher, blätterte die Anzüge an der Stange durch und stellte die Versace-Tasche hinter einer Säule ab. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, nicht beobachtet zu werden, nahm sie eine Schuhschachtel mit Löchern heraus, öffnete sie und ließ dreißig kleine weiße Mäuse frei. Die Mäuse tapsten unsicher herum, bevor sie sich in alle Richtungen zerstreuten. Schachtel und Tasche schob Nancy unter einen Tisch, ging wieder zurück zu Sids Kabine und wartete, während sie so tat, als würde sie interessiert die Auslagen betrachten.
Manuela Hillgruber hatte eine Mäuse-Phobie und ihr Aufschrei war wie eine Sirene, die auch andere Menschen auf das plötzliche Auftauchen von weißen Mäusen in der Herrenabteilung des Oberpollinger aufmerksam machte.
Sid kam aus der Umkleidekabine hervor und Nancy gab ihm zu verstehen, ihr zu folgen. Sie ging mit der Versace-Tüte, die sie sich umgehängt hatte, zur Verkäuferin und sagte mit leicht erregter Stimme: »Da hinten sind auch welche. Was ist denn hier los?«
Manuela Hillgruber keuchte: »Ich versteh das nicht. O nein, da ist schon wieder eine.«
In der Ansammlung von zur Hilfe eilenden Kollegen und neugierigen Kaufhausbesuchern fiel es nicht auf, dass Nancy und Sid sich entfernten. Erst am Ausgang zur Neuhauser Straße glaubte Sid jemanden zu bemerken, der sie verfolgte. Als er seine Schritte beschleunigte, schien auch der Mann hinter ihnen schneller zu gehen. Sid, der mit Nancy noch kein Wort gewechselt hatte, sah, dass sich Nancy verstohlen umblickte. Er beschleunigte seine Schritte noch mehr und als Nancy zu rennen anfing, rannte er hinter ihr her. Zunächst in Richtung Karlsplatz durch das Karlstor bis zur nächsten Ecke. Sie liefen weiter zum S-Bahn-Eingang. Bevor sie die Treppen hinuntersprangen, drehte sich Sid noch einmal um. Der Mann stand verloren auf dem Platz und sah sich suchend um. Sid war sich nicht sicher, ob es derselbe war, der sie durch die Neuhauser Straße verfolgt hatte, falls sie überhaupt verfolgt worden waren. Auf dem Bahnsteig beobachtete er nervös die heranströmenden Menschen. Niemand schien sie zu beachten, aber würde er den Mann wiedererkennen? Als sich die Türen der erstbesten S-Bahn öffneten, verschwanden sie im Waggon im Trubel der Menschen, die nachdrängten.
Nach einer Station, am Marienplatz, stiegen sie aus und setzten sich in ein Straßencafé. Als die Bedienung kam, standen sie auf und gingen am Ratskeller vorbei die Dienerstraße entlang. Am Marienhof fanden sie eine freie Bank, auf der für gewöhnlich Rentner saßen und Tauben fütterten. Langsam fiel die Anspannung von ihnen ab und Euphorie durchflutete sie wie ein Aufputschmittel.
Nancy alberte herum und kalauerte: »Dreißig weiße Mäuse, fliehen aus ihrem Gehäuse. Sie laufen ganz friedlich im Kaufhaus herum, die Katze macht den Buckel krumm, alle schreien ›da ist eine Maus‹, da wurde es Zeit und wir sind schnell raus.«
»Da beißt die Maus keinen Faden ab, heißt es immer. In dem Laden haben die Mäuse jetzt genug zu tun«, fügte Sid hinzu.
Danach ließen sie sich durch die Straßen Münchens treiben. Als sie an einer Boutique vorbeikamen, entdeckte Nancy eine Bluse im Schaufenster. Und als sie im Laden nach ihr suchte, entdeckte sie auch noch ein exzentrisches Kleid. Hätte Sid sich in Mode ausgekannt, wäre ihm aufgefallen, dass Nancy nicht einfach nur ein Kleid mit komischem Muster anprobierte, sondern eins von Jean-Charles de Castelbajac mit Mondrian-Motiven. Und wenn er dann noch gewusst hätte, dass Castelbajac mit dem Manager der Sex Pistols Malcolm McLaren befreundet und Mondrian ein Maler war, dann wäre er vermutlich noch beeindruckter gewesen, als er es sowieso schon war, auch wenn das mehr mit Nancy zu tun hatte und weniger mit Castelbajac oder Mondrian.
»Toll«, hörte sich Sid sagen und es kam ihm nicht fremd vor, während Nancy als Mondrian vor ihm auf und ab paradierte.
Noch vor einem Tag hätte Sid niemals geglaubt, in einer Boutique zu sitzen und »toll« oder »whow« oder »Klasse« zu sagen. Menschen, die das taten, hatte er für