Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück. Klaus Bittermann

Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück - Klaus Bittermann


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von sich. Eine Postkarte mit dem Prado drauf. Sie war mit fünf Jahren gegen ihren Willen durch den Prado gezerrt worden. Bei dem Aufwand, den ihre Mutter damals betrieben hatte, um ihr großes Kulturgut nahezubringen, würde sie sich bestimmt freuen, dachte sie, auch wenn sie von den üppigen, sich räkelnden Damen in Öl und mit wenig oder nichts an etwas gelangweilt war. Das einzige Bild, das sie beeindruckt hatte und an das sie sich noch erinnern konnte war »Saturn verschlingt eines seiner Kinder«. Endlich mal ein gefährliches Bild von einem Monster.

      »Wieso war die Postkarte ein Fehler?«, fragte Sid.

      »Weil meine Eltern einen so verdammt langen Arm haben«, sagte Nancy verschwörerisch.

      »Einen langen Arm?«

      »Ich weiß bis heute nicht, wie die das gemacht haben, aber als ich im Corte Inglés aufgetaucht bin, warteten da schon drei Männer und haben uns mit auf die Botschaft genommen. Und einen Tag später holten uns dann meine Eltern ab«, sagte Nancy.

      »Corte Inglés?«, fragte Sid.

      »Na, das Kaufhaus in Madrid«, sagte Nancy, die nicht verstand, wie man das nicht kennen konnte.

      Was Nancy nicht wusste: Als Auguste von Westphalen die Postkarte aus Madrid erhalten hatte, telefonierte sie mit dem deutschen Botschafter in der spanischen Hauptstadt, Ernst-Otto von Hohenstein. Ein Verehrer von ihr aus früheren Tagen, den sie auf der Hochzeit von Fürst Rainier und Grace Kelly in Monaco kennengelernt hatte, auf die sie zusammen mit ihren Eltern eingeladen worden war. Ohne ihren Mann, der nur Landadel war. Ihr Vater hatte bei dieser Gelegenheit versucht, ihr wieder zu zeigen, welch glänzende Zukunft ihr entgangen war, als sie Viktor von Westphalen geheiratet hatte.

      Ernst-Otto von Hohenstein hatte sie unter Alkoholeinfluss zu sich ins Hotel eingeladen, vielleicht sogar ein bisschen verschleppt. Sie hatte nichts dagegen und sich nur der Form halber gewehrt. Hohenstein hatte ihr anschließend den Hof gemacht, aber Auguste war der Seitensprung nicht angemessen erschienen. Sie hatte ansonsten moralisch einwandfreie Vorstellungen von den Werten einer Familie. Und die erlaubten es ihr nicht, auch wenn sie das sehr bedauerte, sich Ernst-Otto von Hohenstein weiter hinzugeben, einem höchst ansehnlichen Mann, der vor allem in Uniform ausgesprochen attraktiv aussah, fast so wie zu k.u.k.-Zeiten, für die sie eine Schwäche hatte.

      Ernst-Otto von Hohenstein verwand die Zurückweisung nie. Die Liebe, die er für Auguste empfand, wurde platonisch. Aus verzehrender Leidenschaft wurde Anbetung. Selbst nach dieser langen Zeit, die dieser Vorfall nun schon zurücklag, glühte noch eine gewisse Verehrung, und er bot Madame Auguste von Westphalen, geborene von Ledebur-Hellbach, hocherfreut an, über ihn doch bitte »vollkommen zu verfügen«. Er versprach ihr, seine Kontakte zur spanischen Polizeipräfektur spielen zu lassen.

      Auguste von Westphalens Hauptbeschäftigung war es zwar, sich Sorgen zu machen, aber sie ging auch leidenschaftlich gerne einkaufen. In Paris. Oder London. Oder Mailand. Auch im Corte Inglés in Madrid war sie während eines Sommerurlaubs mit ihrer Tochter, die sie auf ihren Expeditionen häufig mitnahm. Bereits mit zwölf kannte sich Nancy in den Nobelkaufhäusern und mit Labels aus. Auguste von Westphalen hatte ihre Tochter infiziert. Dennoch war es nur eine vage Hoffnung, aber was sollte ihre Tochter sonst in Madrid tun?, fragte sie sich. Sie bat Ernst-Otto von Hohenstein, sich doch mal ein wenig im Corte Inglés umzusehen. Er stellte drei Mitarbeiter der Botschaft ab, die sich in der Mode­abteilung für junge Frauen auf die Lauer legten. Und sie mussten nicht lange warten. Nicht mal einen Tag, wie einer der Botschaftsangestellten Nancy fröhlich mitteilte.

      Sid war zwar noch nie abgehauen, schon gar nicht ins Ausland, und er hatte auch keinen Vater, der mit dem Gewehr auf ihn zielte, aber dafür einen, der ihn mit Boxhandschuhen in sein Metier einweihen wollte. Und bei jedem Treffer, den Willy Schlebrowski am Kopf seines zehnjährigen Jungen landete, sagte er »Hände hoch! Wann zum Teufel begreifst du das endlich!« Aber Sid begriff es nie, weil Willy einen Schlag in den Magen vortäuschte, um Sid in dem Moment, in dem er seine Deckung aufgab, mit der Rechten einen Schlag auf dem Kopf zu verpassen.

      Sid hasste das. Und er hasste seinen Vater. Er hielt trotzdem dicht. Nicht weil er seinen Vater schützen wollte, sondern weil es niemanden etwas anging. Und als er einmal eine Beule davongetragen hatte, wäre es noch idiotischer gewesen, es zu erzählen, weil er dann erst rich­tigen Ärger bekommen hätte, wenn es sich bis zu seinem Vater herumgesprochen hätte. Doch jetzt schienen diese bedrückenden Erinnerungen ihre Macht über ihn zu verlieren. Es kam ihm vor, als stammten seine Erzählungen aus einem Leben, das plötzlich weit weg war und jede Bedrohlichkeit verloren hatte.

      »Erinnert mich irgendwie an Charles Dickens«, sagte Nancy.

      Sid wusste nicht, wer Charles Dickens war, aber er mochte es nicht, dass jemand angeblich auch so was erlebt hatte. Er erzählte daraufhin eine kleine Episode, die Charles Dickens bestimmt nicht zu bieten hatte, nämlich wie Wanda sich einmal zwischen Willy und Sid geworfen und einen Volltreffer abbekommen hatte, der eigentlich für Sid bestimmt war. Einen klassischen Kinnhaken. Und wie Wanda zu Boden gegangen war und Willy bis zehn gezählt hatte, bevor er seiner halb bewusstlosen Frau auf die Beine half und sich dabei selbst kaum auf den Beinen halten konnte.

      Sid erzählte, dass Wanda nach dem K.o. angefangen hatte, sich merkwürdig zu verhalten. Sie beobachtete seither lieber Sternkonstellationen als zu kochen und war vom Einfluss des Mondes auf irgendwie alles überzeugt. Sogar auf den Haarwuchs und auf das Wachstum der Fingernägel.

      »Ist ja irre«, sagte Nancy.

      »Ja, sie sagte immer ›Fingernägel nur bei Vollmond schneiden. Merk dir das‹, und ich hab’s mir gemerkt. Konnte da gar nichts dagegen tun, aber ich hab mich nicht dran gehalten.«

      »Ausprobiert auch nicht?«, fragte Nancy.

      »Ja, schon mal, aber da war nichts besonderes zu sehen«, sagte Sid. Vor fünf Jahren habe sie dann Lametta auf ihre Schultern verteilt und sich mit Weihnachtskugeln behängt, sei in den Käfer gestiegen und davongefahren. Wanda sei sogar im Radio aufgetaucht. Im Verkehrsfunk als Warnung vor einem Geisterfahrer. Auch die Lokalpresse schrieb über den Vorfall und titelte »Christbaum hinterm Steuer«:

      Eine 51-jährige Geisterfahrerin, mit Christbaumschmuck behängt, war am Heiligen Abend rund 30 Kilometer lang auf der A9 von Trockau bis zur DDR-Grenze unterwegs.

      Polizisten stoppten die Fahrerin auf sehr unsanfte Art, nachdem die Frau zuvor mehrere Polizeisperren durchbrochen hatte. Ein Beamter warf einen sogenannten Nagelgurt vor ihr Auto. Die Metallstifte bohrten sich in die Reifen.

      Doch bei der anschließenden Kontrol­le trauten die Polizisten ihren Augen kaum: Die Fahrerin war mit allerlei Christbaumschmuck behängt. Außerdem hatte sie ihr Auto »zum Schutz vor Strahlenbeeinflussung« mit einer Tüllgardine drapiert.

      Wanda Schlebrowski tauchte in der Nachrichtenspalte noch als »Paradiesvogel« auf, der vehement »Polizeiwill­kür« krächzte, nur weil die Ordnungshüter sie mit dem Verdacht, sie könnte etwas getrunken haben, ins Röhrchen pusten ließen und sie zu einem Arzt brachten, um sie auf ihre Zurechnungsfähigkeit untersuchen zu lassen. Wanda musste am Ende der Prozedur ihre Fahrt mit einem Taxi fortsetzen.

      In der Kleinstadt wusste damals jeder, wer sich hinter der »51-jährigen Geisterfahrerin« verbarg. Das war nicht schwer herauszufinden, denn in der Zeitung war von den »Abenteuern der Hausfrau Wanda S.« die Rede. Da blieb wenig Raum für Missverständnisse. Wanda war das peinlich. Sie tat so, als hätte der Vorfall nie stattgefunden. Und Willy legte seinen Arm um Sids Schultern, zog ihn zu sich heran und sagte: »Das bleibt unter uns. Verstanden? Schwör’s!«

      Und Sid schwor.

      »Ach, deine Mutter war das!«, sagte Nancy. »Ist ja verschärft.«

      »Verschärft?« Sid drehte den Kopf zu ihr und sah ein geheimnisvolles Lächeln im Profil. Er versuchte, diese Momentaufnahme in seinem Gedächtnis wie ein Foto aufzubewahren, um es sich immer wieder ansehen zu können.

      Sid glaubte, auch etwas mehr Heroisches von sich erzählen zu müssen. Von Herrn Schulz, seinem Deutschlehrer, der SS-Schulz genannt wurde. Der war zwar nie bei der SS, sondern in der Hitler-Jugend. Aber Sid machte da keinen


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