Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück. Klaus Bittermann
nahm den Telefonhörer in die Hand.
»Weiß nicht«, sagte Sid.
»Gibt’s da glaub ich nicht«, sagte Nancy. »Trinken?«
»Champagner«, sagte Sid. Er war neugierig, wie Nancy auf diesen in seinen Augen absurden Vorschlag reagieren würde. Als Sechsjähriger durfte er mal Champagner trinken. Willy hatte gerade einen Kampf gewonnen und anschließend in seiner Stammkneipe »Zum Standesamt« »Schampus bis zum Abwinken« bestellt.
»Schmeckt wie Ahoi-Brause«, hatte sein Vater behauptet. Sid hatte genippt und das Gesicht verzogen. Zur Sicherheit. Und aus Gewohnheit. »Sei mal nicht so zimperlich«, hatte der bereits schwer betankte Willy gegrölt, sein Glas genommen und es über Sids Kopf ausgeschüttet. Es war also keine besonders schöne Erinnerung, die er mit dem Getränk verband.
»Gute Idee«, sagte Nancy.
Nancy bestellte ein Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln und Champagner. Sie ordnete weiter ihre Kleider und Sid rutschte immer tiefer in den Sessel. Das Bild, das sich bot – Mann sitzt im Sessel und sieht einer Frau dabei zu, wie sie Kleider in den Kleiderschrank räumt –, hätte ein Motiv für Edward Hopper abgeben können, aber plötzlich klopfte es und der Kellner brachte Unruhe in die beschauliche Szene. Als er das Zimmer verlassen hatte, jagte Sid den Korken des Dom Perignon an die Decke und trank in großen Schlucken das erste Glas aus. Er schenkte sich nach. Der Champagner schäumte über und Sid versuchte ihn vom Glasrand wegzuschlürfen. Auch das nächste und übernächste Glas trank er, als müsste er sich beeilen, weil der Traum gleich zu Ende sein würde. Die Flüssigkeit rann ihm über das Kinn.
»Lass mir was übrig«, sagte Nancy.
»Bestellen wir doch einfach eine neue Flasche«, sagte Sid. Nancy bestellte noch eine Flasche.
Sid fing an zu plappern und zu gestikulieren. Er fühlte sich großartig. Und der Champagner war es auch. Besser als Gras. Besser als schwarzer Afghane. Und besser als Bier sowieso.
Er stieß mit einer fahrigen Handbewegung Nancys Glas um. Ein heftiges Gefühl der Peinlichkeit überkam ihn. Betrunkene taten so etwas. Und das letzte, was er in diesem Leben wollte, war, vor Nancy als Alkoholiker dazustehen, der sich nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Nancy fuhr erschrocken auf: »Scheiße!«
Sid beugte sich über Nancy und wollte etwas tun. Am besten das Ganze wegwischen. In solchen Dingen war er unbeholfen. Sogar seine Mutter hatte immer gesagt, dass er selbst zum Aufhängen von Wäsche zu doof sei. Aber im angetrunkenen Zustand verlor das Missgeschick das Moment des Peinlichen. Er fand wieder in die vom Dom Perignon beschwingte Stimmung zurück.
Sid suchte sprudelnd, ja schäumend, nach immer neuen Worten, um sich zu entschuldigen, und legte bedauernd seine Hand auf Nancys Schulter, als wolle er sie beruhigen, obwohl er sie gar nicht beruhigen musste, denn Nancy war nach dem ersten Schrecken schon wieder bester Laune.
3
Sid dehnte sich und versuchte, das zauberhafte Gefühl des Glücks festzuhalten, das sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Willy Schlebrowski herein stapfte und schrie: »So, mein Lieber, mit dir hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Du denkst wohl, du kannst hier machen, was du willst?« Er hatte seine Boxhandschuhe an, deutete eine Links-rechts-Kombination an und tänzelte, auf groteske Weise Muhammad Ali imitierend, auf seinen Sohn zu. »Los, Hände vors Gesicht, du Waschlappen, oder willst du meine Handschuhe küssen?« Sid schreckte hoch.
Verwirrt versuchte er sich zu orientieren, irgendetwas Bekanntes zu entdecken, das er einordnen konnte. Aber da war nichts. Er lag in einem riesigen Bett. Nebenan hörte er Wasser plätschern.
Die Erinnerung an den Abend mit dem vielen Champagner kroch zurück an die Oberfläche seines getrübten Bewusstseins. Dann wieder der absurde Auftritt seines Vaters. War er denn nicht die ganze Nacht wach gewesen? Er durfte einfach nicht mehr schlafen, dann hätte sein Vater auch keinen Zugriff auf ihn. Die Angst, die ihn einen Moment im Klammergriff hatte, löste sich auf wie eine Rauchschwade, in die der Wind hineinfuhr, und Erleichterung überkam ihm und hüllte ihn ein wie das warme Wasser in der Wanne, in dem er freitags immer badete. Wie wenig Willy Schlebrowski ihm doch anhaben konnte. Dabei war es nur einen Tag her, als das größte Problem Sids Willy Schlebrowski hieß.
Willy Schlebrowski war ein Boxer, der auch schon mal auf Volksfesten aufgetreten war. Inzwischen arbeitete er in einer Mehlfabrik. Als Sid ihn aus Spaß Jahrmarktsboxer nannte, wurde Willy sauer. Sehr sauer, denn er hatte einmal ein Turnier gewonnen. Durch K.o. Und darauf war er sehr stolz. Die Boxhandschuhe hingen, so lange Sid denken konnte, dekorativ an der Wand. Sid und Wanda zur Mahnung, Willy Schlebrowski Respekt zu zollen und den Bogen nicht zu überspannen.
Willy Schlebrowski hatte Anfang der sechziger Jahre seine große Zeit. Er glaubte, ihm stehe eine große Karriere bevor, weil er in einigen Kämpfen seine Gegner so demoralisiert hatte, dass sie aufgaben, weil ein K.o nur eine Frage der Zeit war. Nach einem wichtigen Kampf gegen Hermann Botsnansky, den Willy nur knapp für sich entscheiden konnte, stand im Sportteil der Süddeutschen Zeitung ein kleiner Artikel, in dem es hieß:
Boxstil hat Willi Schlebowski keinen, es sei denn, man erkennt bei einem Kneipenschläger den Willen, seinen Gegner zu verdreschen, bereits als Technik an. Die Kontrahenten beeindruckt er durch wildes Draufgängertum.
Nicht mal seinen Namen hatte der Journalist richtig geschrieben. Willy wollte den Mann verprügeln und fuhr nach München, wusste dann aber nicht, wie er ihn finden konnte und landete schließlich in einer Kneipe, wo er Wanda kennenlernte, die hinter dem Tresen Bier zapfte. Seine Reise in die Großstadt war also nicht umsonst gewesen.
Danach war das Leben schön. Kennedy hatte gesagt »Ich bin ein Berliner«. Die Zukunft brachte Twiggy und Uschi Obermaier, falsche Wimpern und Pullunder. Es gab jede Menge Gründe zu feiern und zu trinken, und wenn nicht, suchte Willy sich welche. Das bekam ihm auf Dauer nicht gut. Im Leben nicht und im Ring erst recht nicht. Einen Grund zu feiern gab es nur noch selten, die Gründe zu trinken waren nun andere, die Abstürze wurden immer heftiger. Auch als sein Sohn geboren wurde, trank Willy Schlebrowski. Der Wurm machte ihn stolz und glücklich. Immer wieder warf er ihn hoch in die Luft und im Sommer lag er mit ihm zusammen auf der Wiese und kitzelte ihn mit einem Grashalm. Später hielt er ihm seinen Bauch hin, den Sid als Punchingball benutzen durfte, während Willy lachte. An diese glücklichen Stunden konnte sich Sid später nicht erinnern. Schon mit zwei allerdings begann Sid, langsam zum Ärgernis zu werden. Das Lachen wurde seltener, das alkoholisierte Hoch stürzte immer schneller in sich zusammen und Willys Ekel vor der Welt nahm zu. Er wurde zwischen Jähzorn, Verzweiflung und Selbstmitleid hin- und hergeworfen und geriet immer wieder in einen Zustand, in dem ihn niemand mehr erreichte und selbst Schmerzen ihn nicht an die Oberfläche des Lebens zurückholen konnten.
Mit jedem Tag entsprach Sid den Erwartungen seines Vaters weniger. Worin die Erwartungen bestanden, das war Willy Schlebrowski selbst nicht klar. Manchmal stellte er sich vor, Sid würde ein erfolgreicher Boxer und er sein Trainer und Manager, der endlich im Erfolg baden konnte, der ihm, wie er glaubte, in seiner aktiven Laufbahn vorenthalten worden war. Aber schon bald erwies sich dieser Wunsch als Traum, denn sein eigener Sohn war ihm ein Rätsel. Er war introvertiert und lustlos, und dann wieder erschreckte ihn Sids blinde Wut, weil er sich selbst in ihm erkannte. Außerdem war Sid sogar fürs Fliegengewicht zu schmächtig, und wenngleich er manchmal eine Rücksichtslosigkeit an den Tag legte, die nötig ist, um jemanden die Nase zu brechen, so musste Willy Schlebrowski sich eingestehen, dass er nicht wusste, wie diese sich steuern ließ. Und für dieses Wesen, das ihm umso fremder wurde, je ähnlicher es ihm war, hatte er seinen Beruf an den Nagel gehängt. Behauptete er.
Die Arbeit in einer Mehlfabrik war seine letzte Chance, in sein Leben noch so etwas wie Struktur zu kriegen. Jedenfalls aus der Sicht des Arbeitsamtes. Willy Schlebrowski war, glaubte man dem zuständigen Sachbearbeiter, ein »Problemfall«. Und diesem Problemfall war es zunehmend egal, was aus seinem Sohn wurde. Aber wohin der steinige Weg in Sids Zukunft auch immer führen würde, es konnte nicht schaden, ihm ab und zu »eine zu scheuern«, wie Willy sagte. Das war genau genommen