Das offene Versteck. Robert de Taube
von der Vertreibung waren fast alle im Gebiet lebenden jüdischen Männer und Frauen. Ausgenommen blieben nur die in christlich-jüdischer „Mischehe“ lebenden jüdischen Partner sowie zunächst die Bewohner der beiden jüdischen Altenheime in Emden und Varel. Alle anderen wurden zu Einzelgesprächen direkt bei der Gestapo am Rathausplatz von Wilhelmshaven, wie Robert de Taube und seine Brüder, oder auf die Landratsämter und Rathäuser vorgeladen. Innerhalb weniger Wochen hatten sie sich unter Androhung der Verschleppung in ein Konzentrationslager eine neue Unterkunft in Großstädten außerhalb der Weser-Ems-Region zu suchen. Im Unterschied zu den im Herbst 1941 beginnenden Sammeldeportationen deutscher Juden nach Osteuropa konnten die Opfer hier noch selbst eine gewisse Auswahl des Vertreibungsziels treffen. In der Praxis beschränkte sich das allerdings meist auf den Unterschlupf in „Judenhäusern“ von Berlin oder Hamburg, den die örtlichen jüdischen Gemeindevertretungen zuwiesen. Da lediglich einzelne Zimmer bezogen werden konnten, blieb keine andere Wahl, als fast das gesamte verbliebene Hab und Gut zurückzulassen oder es bestenfalls unter Wert eiligst zu verkaufen.
Robert de Taube ging im März 1940 nach Berlin. Ende 1941 überstand er durch die Simulation eines Rückenleidens in dem katholischen St. Hildegard-Krankenhaus die erste Deportationswelle Berliner Juden nach Osteuropa. Danach hatte er 14 Monate Zwangsarbeit in einer Kreuzberger Fabrik zu leisten, weil den Nationalsozialisten wegen des Krieges die Arbeitskräfte auszugehen drohten. Im März 1943 entschied er sich nach der überfallartigen Deportation seines Bruders Ernst und dessen Ehefrau nach Auschwitz, die auch ihn getroffen hätte, wenn er nicht vorher gewarnt worden wäre, in den Untergrund zu gehen und irgendwie zu überleben. Nach schwierigen Anfängen auf der Straße und in kurzfristigen Unterschlupfen schuf sich Robert de Taube eine Art offenes Versteck, ein Netzwerk verschiedener Adressen und Tätigkeiten. Er fuhr als „August Schneider, Landschaftsgärtner aus Hamburg“ mit öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Papiere kreuz und quer durch Berlin und die Peripherie bis hin zur rund 50 Kilometer entfernten Spargelregion Beelitz. Er handelte mit Gemüse, Obst und Kleidungsstücken, arbeitete als Gärtner und Hausmeister und lebte nacheinander und manchmal gleichzeitig unter einem Dutzend Berliner Adressen. Ausgerechnet im noblen Villenviertel von Grunewald, bei der reichen Witwe Hanna Sotscheck-Cassirer, fand er seine beste Bastion. Als Gärtner machte er den vom namhaften Landschaftsarchitekten Georg Belá Pniower gestalteten Nachbargarten für die Erfordernisse der Kriegswirtschaft tauglich. Wegen seiner beruflichen Fähigkeiten und seines offensichtlichen Charmes hätte er im Zeichen des kriegsbedingten Männermangels in verschiedene Familien des ländlichen Umlands einheiraten können. Ohne nichtjüdische Unterstützer und ohne fast unglaublich großes Glück hätte er aber nicht überlebt. Mehrfach entkam er nur knapp den Häschern der SS und den Bomben der Alliierten, die die Reichshauptstadt in Schutt und Asche legten. Im September 1945 kam er nach einer einzigartigen Odyssee durch den Untergrund der untergetauchten Juden und parallel durch die arrivierte Berliner Gesellschaft und nationalsozialistische Bauernfamilien zurück nach Wilhelmshaven.
VIII. Nachkriegszeit und Tod
Mit der Befreiung Berlins durch die Rote Armee fand das Verstecken ein Ende, doch die Lebensgefahr blieb in der chaotischen Endphase des Krieges zunächst bestehen. Beim illegalen Übertritt von der Sowjetischen in die Britische Zone bei Marienborn schossen die Grenzsoldaten auf Robert de Taube. Er war unter Tausenden von anderen Deutschen, die von Ost nach West flohen, mit unterwegs, nur hatte seine Vertreibung schon Jahre zuvor stattgefunden, seinem Leben gegolten und war von seiner Heimat ausgegangen. Als er im September 1945 endlich in Wilhelmshaven ankam und seinen familiären Besitz wieder in Benutzung nehmen wollte, stieß er auf eine Militärregierung, die durch sein Anliegen zunächst überfordert war. Banken und Behörden warteten zögerlich ab. Robert de Taube musste feststellen, dass die Seilschaften der alten Nazis teilweise noch funktionierten. In dieser Phase halfen sein Schwager Dr. Robert Pohl und sein Vater von England aus mit zahlreichen Interventionen bei den zuständigen britischen Behörden. Ab Juni 1946 konnte er als von den Briten eingesetzter Treuhänder seine landwirtschaftliche Expertise wieder auf dem in der Kriegszeit heruntergewirtschafteten Horster Grashaus anwenden, hatte aber noch über ein Jahr lang ausführliche Berichte über seine Tätigkeit abzustatten. 1947 kehrten die Eltern aus dem Exil auf das Grashaus zurück, wo sie bis zu ihrem Tod 1948 bzw. 1949 lebten. 1949 sagte Robert de Taube als Zeuge beim Prozess gegen die Täter des Pogroms von 1938 aus. Die verschiedenen Erb-, Restitutions- und Wiedergutmachungsverfahren waren sehr komplex und aufwändig. Sie beschäftigten viele Anwälte und unterschiedliche Gerichte und zogen sich bis 1954 hin. Erst Mitte 1968 waren sie endgültig abgeschlossen. In all diesen Jahren war Robert de Taube häufig unterwegs zu den entsprechend anfallenden Terminen in Oldenburg, Bremen, Hannover und anderen Städten.
Die Verwandten, die ohne Ausnahme im Ausland lebten, waren dankbar für die Rolle, die Robert de Taube zur Klärung der Verhältnisse vor Ort übernommen hatte, und besuchten ihn bei ihren Europareisen. Im Gegenzug unternahm Robert de Taube Reisen nach England und 1976 in die USA. 1972 starb seine Haushälterin und Lebensgefährtin Olga Broers. Aus Altersgründen und da niemand aus der Verwandtschaft nachrücken wollte, verkaufte er 1973 den Hof an die Familie Korte, die ihn heute noch bewirtschaftet, und zog nach Horsten. Am 26. August 1982 starb er im Krankenhaus von Sande. Die Trauerfeier fand im Evangelischen Gemeindehaus von Horsten statt, wo ein freier Redner sprach, da Robert de Taube keiner religiösen Gemeinde angehörte. Sein Grab fand er anschließend neben den Eltern auf dem jüdischen Friedhof Marienburg bei Gödens. Neben den Verwandten und Freunden nahm auch Fritz Levy, der 1950 aus dem Exil zurückgekehrt war, teil. Zwei Monate nach dem Tod seines langjährigen Bekannten nahm sich dieser letzte Jude Jevers das Leben. Hiermit ging die Epoche der deutschen Juden der Region zu Ende.
IX. Editorische Bemerkungen
Im Frühsommer des Jahres 1971 begab sich der in Syracuse, New York, lebende Elektroingenieur Walter John Pohl mit seiner Ehefrau Madeleine auf Europareise. Sie führte über England, wo seine Eltern und er in den 1930er Jahren Zuflucht vor den Nazis gefunden hatten, und die Niederlande zum Horster Grashaus. 1924 als Sohn von Robert de Taubes Schwester Recha und ihres zweiten Ehemanns Dr. Robert Pohl in Berlin geboren, kannte Pohl das Grashaus aus seiner Kindheit. Auf diesem riesigen Bauernhof mit Vieh, Mist und körperlicher Arbeit hatte er fast jährlich seine Sommerferien verbracht. Die ländliche Einöde, das urwüchsige Viehzeug und sein Geruch – auch der von Menschen, die ohne fließend Wasser auskommen mussten - standen im aufregenden Kontrast zu einem Leben in der Metropole Berlin in einer Familie, die zur deutsch-jüdischen Bildungselite zählte und in einer Wohnung mit modernstem Komfort lebte. Johns Vater arbeitete als Chefingenieur der AEG Turbinenwerke in Berlin mit vielen internationalen Kontakten. Zwischen Berlin und dem Grashaus stand die für ein Kind atemberaubende Fahrt mit von schnaufenden und funkensprühenden Dampfloks angetrieben Zügen und dem Blick aus dem letzten Wagen auf die in der Ferne verschwindenden Schienen. Walter John Pohl, jetzt Mitte Vierzig, und in leitender Stellung bei General Electric, hatte einen Kassettenrecorder, einen Fotoapparat und eine Schmalfilmkamera dabei. Er wollte damit nicht nur seine Jugend dokumentieren, sondern vor allem die unglaubliche, bisher nur in Fragmenten dem Familienkreis bekannte Geschichte vom Überleben Robert de Taubes.
Die Grundlage der Edition der Erinnerungen von Robert de Taube bildet das über zweistündige Interview, das Walter John Pohl am 30. Mai 1971, es war der Pfingstmontag, mit seinem Großonkel Robert de Taube auf dem Horster Grashaus führte. Die drei gut erhaltenen Audio-Kassetten wurden transkribiert, wenn notwendig ins Deutsche übersetzt und auf die Erzählungen von Robert de Taube reduziert. Eine weitere Stütze war ein sechsseitiges Typoskript von Robert de Taube selbst, datiert auf den 4. Oktober 1979, in dem er ausschließlich die Jahre ab 1953 darstellt und das sich im Besitz von Timothy Heyman befindet. Während das Tonbandprotokoll vollständig wiedergegeben wird, finden sich einige Passagen dieses Berichts aus Gründen der Erzählkohärenz nicht in der Edition wieder.
Personen-, Straßen- und Ortsnamen wurden, wann immer möglich, überprüft und sind in der korrekten Schreibweise wiedergegeben. Abweichungen von der Normgrammatik sind nur vorsichtig ausgeglichen worden, um nicht den oralen Fluss der Schilderungen zu beeinträchtigen.
X. Danksagungen