Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Eike Geisel

Die Wiedergutwerdung der Deutschen - Eike  Geisel


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mangelhaft war. Generationen von Schülern der Bundesrepublik gähnten an diesem Tag, wenn ihre Geschichtslehrer den Versuch unternahmen, ihnen die Generäle und Offiziere des 20. Juli pädagogisch schmackhaft zu machen. Man sollte sie schätzen lernen als eine Art Rote-Kreuz-Truppe, als Vorläufer eines Kirchentagspräsidiums oder als frühe Kinkel-Initiative, weil es – wie dem Außenminister heute, wenn Türken in Deutschland angezündet werden – den Verschwörern schon damals hauptsächlich um das Ansehen des Staates im Ausland gegangen war. In einem für die Nazi-Wehrmacht gedachten Auf­ruf der Verschwörer hieß es 1944: »Wir müssen handeln, weil – und das wiegt am schwersten – in Eurem Rücken Verbrechen begangen wurden, die den Ehrenschild des deutschen Volkes beflecken und seinen in der Welt erworbenen guten Ruf besudeln.« Doch dass die Naziarmee keine Verbrecherbande, sondern ein Verein zur Veranstaltung von Abenteuerreisen gewesen war, das glaubte allenfalls noch die Bundeswehr. Selbst ein CDU-Minister gelangte trotz der jährlichen patriotischen Pflichtübung einmal zu der kurzlebigen Einsicht, dass Auschwitz nur so lange funktionierte, wie die Wehrmacht dafür die logistischen Hilfsdienste leistete.

      Die Schüler begriffen nur, dass Aufstand in Deutschland eine ziemlich verschlafene Angelegenheit sein musste, wenn die endlosen Debatten und Denkschriften der Verschwörer ein »Aufstand des Gewissens« sein sollten. An diesem besonderen Tag wurde man als Jugendlicher regelmäßig mit Gewissenskonflikten von Leuten gelangweilt, die sich endlos damit abgequält hatten, ob sie Hochverrat üben, ihren Eid brechen oder Tyrannenmord begehen dürften. Sie hätten alle umstandslos geputscht, wenn der Führer es ihnen befohlen hätte. Aber leider lag kein Befehl dazu vor. Andererseits hatten sie keine sichtbaren Probleme damit gehabt, halb Europa in Schutt und Asche zu legen und Millionen von Menschen umbringen zu lassen. Sie hatten ein reines Gewissen, weil sie es nie benutzt hatten. Dass ausgewiesene Zerstörungs- und Vernichtungsexperten in genau dem Augenblick, als die Firma pleite ging und sie den Chef loswerden wollten, sich als absolute Dilettanten erwiesen, das konnte keinen nachhaltigen Eindruck bei jungen Leuten hinterlassen, die im Unterricht etwas über Julius Caesar, Ludwig XVI. oder den Zaren erfahren hatten. Sie mussten zu der Auffassung gelangen, dass die dramatische Hauptperson des Putschversuchs das Telefon war, denn die Protagonisten der Verschwörung kämpften hauptsächlich mit der Telefonanlage auf ihrer Büroetage im Oberkommando des Heeres. Ein Stockwerk tiefer war das Dritte Reich ungefährdet.

      Mit vielen anderen, die die Erinnerung an den 20. Juli für einen nationalpädagogischen Auftrag halten, bedauert die Mitherausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit, Gräfin Dönhoff, seit Jahren, »dass der 20. Juli 1944, der als moralisch-politische Tat weit herausragt aus der deutschen Geschichte, nie wirklich in das Bewusstsein eingegangen ist.« Mehr noch als heimische Gleichgültigkeit macht sie, die mit einigen der Verschwörer befreundet war und sich als Wahrerin des geistigen Erbes der Widerständler versteht, die westlichen Alliierten für das Desinteresse der Deutschen verantwortlich. Sie hat Engländern und Amerikanern bis heute nicht verziehen, dass diese die Militärs damals nicht als gleichberechtigtes Gegenüber, sondern als politische Bankrotteure betrachteten, weil die Offiziere von einem Großdeutschland, also vom Anschluss Öster­reichs und des Sudetenlands oder gar von der Rückgabe der Kolonien, träumten. »Im Ausland aber wurde die Existenz eines deutschen Widerstands von den Alliierten wider besseres Wissen geleugnet«, heißt es in ihrem Jubiläumsbuch »Um der Ehre willen«. Für ganz besonders ehrverletzend hält sie eine Erklärung Churchills, der im Sommer 1944 im Unterhaus gesagt hatte, bei den Vorgängen des 20. Juli 1944 handle es sich »um Ausrottungskämpfe unter den Würdenträgern des Dritten Reiches«. Mit Sicherheit irrte der britische Premier nicht darin, dass er von den Würdenträgern Deutschlands sprach. Am meisten freilich nimmt sie den Engländern noch heute übel, was schon die Verschwörergruppe 1944 mehr umgetrieben hatte als der organisierte Massenmord: »Vermutlich wollte Churchill nicht nur Hitler erledigen, sondern ein für allemal die Macht der Deutschen brechen.« Gräfin Dönhoff wird Trost bei dem Gedanken finden, dass wie zur Rache für jene vernünftige Absicht die Ehre der Verschwörer nun wiederhergestellt ist, indem deren Vorstellung von einem vereinten Europa unter deutscher Vorherrschaft endlich verwirklicht scheint.

      Seit der Wiedervereinigung und seit insbesondere auch die ehemaligen Friedensfreunde heftig nach dem ersten Großeinsatz der Armee rufen, ist das Bedürfnis gewachsen, auch an dieser Front die Geschichte zu entsorgen. Jetzt kommen wieder die psychologischen Ladenhüter des deutschen Landsers zu Ehren, der sich, je weniger er es selbst glaubte, desto heftiger immer einreden musste, dass er anständig geblieben sei. »Das ist die einzige Lebensform, in der man noch mit einigem Anstand existieren kann«, kolportiert zustimmend Gräfin Dönhoff die Auskunft des Mitverschwörers Schulenburg, der, ehe er 1941 mit einigem Anstand seinem Kriegstagebuch anvertraute, der Überfall auf die Sowjetunion sei ein »Auftrag des Schicksals«, 1932 in die NSDAP eingetreten war.

      Auch die Rechtsradikalen wollen bei dieser Generalüberholung nicht abseits stehen. Galten ihnen bislang die Verschwörer, die den Mut für das Attentat aufbrachten und mit dem Leben dafür bezahlten, alle samt und sonders als Verräter, so verleihen sie ihnen nun, im Einklang mit dem Bedürfnis nach einer gereinigten Nationalerinnerung posthum den Ehrentitel von »Reformnationalsozialisten«. Wolfgang Venohr, ehemals Chefredakteur des Fernsehkanals Stern TV, auf seine alten Tage vom jungen Hitler begeistert, erklärte angelegentlich seiner Rehabilitierungsschrift »Patrioten gegen Hitler«, warum der Widerstand eigentlich eine Notwehrmaßnahme war, mit welcher der Nationalsozialismus gerettet werden sollte. Über die in seinen Augen ehrenvollen Motive der Verschwörer, die nur Hitler vor Hitler schützen wollten, sagte Venohr: »Hitler hatte in ihren Augen sein eigenes Credo verraten, als er vom Nationalisten zum Imperialisten denaturierte. Die Grundidee des nationalen Sozialismus bekämpften die jungen Aktivisten des Widerstands mitnichten. [...] Man könnte sagen: Sie erstrebten einen na­tio­nalen deutschen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.«

      Wie auch immer begründet, würde die Publizistin Gräfin Dönhoff dagegen einwenden, »entscheidend war nur, ob der Betreffende für oder gegen Adolf Hitler war. Ob er dies als Monarchist, Sozialist oder aufgeklärter Konservativer war, das interessierte niemanden, jedenfalls nicht in der frühen Phase.« In der etwas späteren Phase wird man aber vielleicht nachfragen müssen, ob in diesem pluralistischen Panorama nicht eine Farbe fehlt. Wenn schon alle in einen Topf geworfen werden, dann sollte man den Antisemitismus als würzende Zutat nicht vergessen. Er hat dem Verschwörerkreis nämlich genau jenes Aroma verliehen, das Hannah Arendt 1963 in einem Brief an den Philosophen Karl Jaspers folgendermaßen beschrieben hat: »Was ich meine, ist, dass jeder, der politisch auftrat, auch wenn er dagegen war, auch wenn er im geheimen ein Attentat vorbereitete, in Wort und Tat von der Seuche angesteckt war. In diesem Sinn war die Demoralisation komplett.«

      Die Verschwörer des 20. Juli dürfen Reaktionäre oder Reformer, Nazis, Parafaschisten oder Christen gewesen sein, aber von ihrem antijüdischen Einverständnis soll nicht die Rede sein. Selbst der renommierte Historiker Hans Mommsen widersteht in seinem immer wieder aufgelegten und überarbeiteten Essay über »Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstands« erfolgreich der Versuchung, auch nur andeutungsweise diesen politischen Charakterzug der ganzen Verschwörung zu erwähnen. Einzig die akademische Garde, die der – einst jüdische – Ullstein-Verlag jüngst mit der Rettung der Nation durch den Sammelband »Für Deutschland« beauftragt hat, zeigt keine Scheu, die antisemitische Grundausstattung vieler Akteure des 20. Juli offenzulegen: »Dem Gedanken, die Juden aus ihrer teilweise beherrschenden Stellung im Zeitungs- und Theaterwesen zurückzudrängen, stimmten die Stauffenbergs zu.« Gelegentlich aber sind die Autoren selber ratlos angesichts der Weiterungen derartiger Kavaliersdelikte und »müssen zugeben, dass wir es nicht wissen«, warum General Carl-Heinrich von Stülpnagel ein Schreiben des Ober­kom­man­dos in Russland unterzeichnete, in welchem ein »vermehr­ter Kampf gegen das Judentum« gefordert wurde, oder dass er verlangte »bei Notwendigkeit raschen Zugriffs besonders [auf] die jüdischen Komsomolzen als Träger der Sabotage und Bandenbildung« zurückzugreifen.

      Derlei darf das offizielle Gedenken nicht belasten, denn die Offiziere des 20. Juli sollen ein moralisches Bindeglied der neuen Großmacht zu ihrer eigenen Vergangenheit sein. Traditionsbewusst, allerdings etwas vorlaut, hat sich dabei das Wachbataillon der Bundeswehr neulich hervorgetan, als einige seiner Angehörigen zur Ausführung eines in ihrem Inneren schlummernden Tagesbefehls schritten und »Juden raus«! grölten. Zur


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