Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Eike Geisel

Die Wiedergutwerdung der Deutschen - Eike  Geisel


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der aus der Mauer gehämmert wurde, fiel auch allen eine Zentnerlast vom Herzen: das letzte markante Erinnerungszeichen daran, dass die Deutschen den Zweiten Weltkrieg doch nicht gewonnen hatten, begann zu verschwinden. Die Teilung hatte dieses Land, wie man nun sehen konnte, nicht halbiert, sondern vor allem dessen Bereitschaft zur vorsätzlichen Amnesie verdoppelt. Und der Regierende Bürgermeister von Berlin brachte die mit Hämmern und Alkohol durchgeführte Selbstabsolu­tion auf die von allen Politikern übernommene Formel, dass dieser Tag ein historisches Datum sei. Die total entsorgten Gemüter und ihre freiwillig gleichgeschaltete Presse mussten erst wieder vom Ausland daran erinnert werden, dass dieses Datum längst ein historisches war. Doch inzwischen lief das »glücklichste Volk der Erde« (Momper) schon in T-Shirts herum, auf denen zu lesen war: »9. November – ich war dabei«. Die Veteranen werden sich über diese generationsübergreifende Wiedervereinigung gefreut haben.

      Das übermächtige kollektive Verlangen, den Prozess der nationalen Rehabilitierung der Deutschen als Deutsche endlich zum Abschluss zu bringen, kulminierte ein Jahr zuvor noch darin, dass 1988 Deutsche und Juden sich heftig versöhnten. Woran indes die damalige Zeremonie noch krankte, war nun behoben: nun fielen sich nur rein Deutsche in die Arme.

      Aus dem von einer Mauer umgebenen Gefängnis ihrer eigenen Geschichte befreit, machten sich die Prolet-Arier auf, um sich mit der Drohung »Wir sind das Volk« mit ihren bislang von einer starken Währung, Schweizer Schokolade und amerikanischer Kultur im Zaum gehaltenen Brüdern und Schwestern in einer Abstammungsgemeinschaft zu vereinigen.

      Die Wiedervereinigung mit der deutschen Geschichte ging dem nationalen Zusammenschluss voraus. Für die historische Versöhnung hatte man die Juden noch gebraucht. Mit der im November endgültig und unwiderruflich vollzogenen Verwandlung der beiden deutschen Staaten in die, wie sich rasch zeigen sollte, völkische Einheit Deutschland, waren hingegen die im letzten Jahr so ausgiebig gefeierten Juden als Seelentröster ganz entbehrlich geworden.

      Aus der schon immer an Israel, dem beliebtesten Tummelplatz deutscher Selbstentlastung, gewonnenen Einsicht, es sei niemand besser als die Deutschen, machte der Herausgeber des Spiegel Rudolf Augstein einen aktuellen kategorischen Imperativ: »Warum ein geteiltes Berlin, wo doch für Jerusalem trotz aller ethnischen- und Annexionsprobleme gelten wird: Zweigeteilt? Niemals«, schrieb er am 6. November 1989, als käme er aus einer jenseitigen Redaktionskonferenz Axel Springers zurück, der dies fast wörtlich vor über zwanzig Jahren geschrieben hatte. Um jedoch Verwechslungen mit dem vergleichsweise gemäßigten Chauvinismus der Bild-Zeitung auszuschließen, fügte Augstein noch folgenden Satz hinzu: »Dies falsche Gewicht wird die junge Generation, weil das nämlich nichts mit Auschwitz zu tun hat, nicht mehr mittragen.« Mit anderen Worten: es sollte niemand etwas tun dürfen, was den Deutschen untersagt ist, schon gar nicht die Juden.

      Andere Zeitungen ersparten sich den langen Umweg über Israel und wiesen mit je nach Klientel verschiedenen Andeutungen darauf hin, dass jener flüchtige Staatssekretär der DDR, der nicht so muffig und spießig gelebt hatte wie seine nun vom volksgemeinschaftlichen Sozialneid heimgesuchten Landsleute, dass jener Mann, der Devisen in die Schweiz geschafft hatte, Jude sei. Mit einem catch-word des stalinistischen Judenhasses rüstete die taz das Ressentiment ihrer antifaschistischen Leserschaft auf und teilte unter der Überschrift »Die Biografie eines Kosmopoliten« mit, dass auch ein Mitarbeiter des Devisenhändlers nun völkisch identifiziert worden war. »Wir sind das Volk« skandierten unterdessen diejenigen, die bloß gern wie die geschassten Funktionäre im schäbigen Ne­ckermann-Luxus daheim wären. Und der DDR-Staats­sekre­tär Schalk-Golodkowski wußte, als er sich absetzte, dass man besser die Koffer packt, wenn in Deutschland sich die Bevölkerung in das Volk verwandelt. Er wollte nicht jenen in die Hände fallen, die über Nacht aus Mitläufern zu einer nach Ermittlungskommandos gegliederten Volksgemeinschaft geworden waren.

      Wie es zum Selbstbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft gehört, die Deutschen seien das erste Opfer Hitlers und die Nachkriegsgesellschaft eine Vereinigung von Hinterbliebenen gewesen, so präsentierte sich die Bevölkerung der DDR vom untersten Volkspolizisten bis zum höchsten Parteifunktionär als allesamt von ein paar Schurken betrogene Idealisten. Und natürlich hatten alle von nichts gewusst. Mit diesen Auskünften war auch dem letzten Zweifler im Westen klar, nicht, dass hier jemand seine sofortige Entmündigung verlangte, sondern dass es sich bei dem Mob, der nun zur Parole »Deutschland einig Vaterland« überging, tatsächlich um die eigenen Brüder und Schwestern handeln musste. Und gerade dieser Nähe wegen werden sie sich, wenn die Familienfeier erst einmal vorüber ist, auch künftig nicht ausstehen können.

      Einer mit ganz ausgeprägtem Familiensinn in diesen bewegten Tagen war der Schriftsteller Martin Walser. Seit er an der Teilung Deutschlands litt, genas seine Literatur zusehends. Und die völlige Wiederherstellung seiner Gesundheit vermeldete er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einem schwärmerischen Lobgesang auf die Medizin: »Es gibt das Volk, das ist jetzt bewiesen.« Bewiesen war freilich nur, über welche Klarsicht die Nazis damals verfügten mit der Aufforderung: »Nun Volk steh auf und Sturm brich los!« Nun stand ein Begriff auf, und als die Sache losstürmte, wollten viele den Anschluss nicht verpassen. Auch die Grünen nicht. Ganz so, als sei dieser Begriff zwischenzeitlich nur eingemottet gewesen und habe etwas Staub angesetzt, holte ihn Joschka Fischer frischgebügelt aus der historischen Tiefendimension hervor: »Zum ersten Mal auch seit der blutigen Niederschlagung von 1848 hat der Begriff ›Volk‹ wieder einen guten, einen aufrechten Klang«, blochte er in der taz. Dieser »gute, aufrechte Klang« hallte wieder in den »Rote raus!«-Parolen der fundamentalistischen Montagsumzüge in Leipzig; er hallte wieder in den Schlägen, mit denen die vom Parteimitglied zum Volksgenossen aufgestiegenen Befehlsempfänger ihrer inneren Stimme nun Ausländer malträtierten; er hallte schließlich wieder im Geräusch umstürzender Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen – einer Morgengabe, auf welche noch keine deutsche Volksbewegung verzichten wollte.

      Dabei hätten die Deutschen doch Grund genug, gerade den Juden für den erfolgreichen Abschluss ihrer nationalen Selbstfindung dankbar zu sein. Noch im letzten Jahr hatten sie sich in zahlreichen Ausstellungen, im Radio und im Fernsehen, in Geschichtswerkstätten und in neu gegründeten jüdischen Museen über die Toten hergemacht. Je heftiger sie sich mit jüdischen Toten beschäftigten, desto lebendiger wurden sie selbst. Je gründlicher sie erforschten, was jüdisch sei, desto fundamentaler erfuhren sie sich als Deutsche; kurz: am 9. November 1989 wurde ein kollektives Bedürfnis befriedigt, das der manischen Beschäftigung mit den Juden logisch von An­beginn zugrunde lag. Seit alle wieder Deutsche sind, müsste es deshalb bei ihnen in unbefangener Umkehrung eines alten Grundsatzes nationaler Selbstvergewisserung heißen: »Die Juden sind unser Glück.« Denn was wäre ohne sie aus der Endlösung der deutschen Frage geworden?

      1989

       Biotop mit toten Juden

      Jede Untat hat auch ihre guten Seiten. Der Dieb stiehlt, damit wir das Privateigentum verteidigen, der Mörder mordet, damit wir das Gewaltmonopol des Staates anerkennen. Jedes Laster verweist auf die Tugend: ohne Verbrechen also keine Moral. In den Zustand dieser prästabilierten Harmonie von Gut und Böse ist mittlerweile auch die jüngere deutsche Geschichte aufgestiegen, nachdem allgemein anerkannt ist, »dass Deutschland der Welt viel mehr geschenkt hat als Auschwitz je kaputtmachen könnte« (Schönhuber). Schließlich: ohne Hitler kein Staat Israel, ohne die Vertreibung keine Exilforschung und ohne die Vernichtung der Juden keine Woche der Brüderlichkeit.

      Vor dem Hintergrund dieser neuen Ausgewogenheit, die von einem hauptamtlichen Geschichtsverwalter mit der ansprechenden Dienstbezeichnung »Leiter des Referats ›Gedenkstätten‹ in der Berliner Senatskanzlei« als »eine erwachsene Form nationaler Identitätssuche« bezeichnet wurde, ist der Enthusiasmus zu sehen, welchen gegenwärtig eine Ausstellung der Berliner Festspiele aus­löst: ohne deutschen Lebensraum keine »Jüdischen Lebenswelten«. Die gigantische Ausstellung im Gropius-Bau wird flankiert von einer Reihe weiterer Ausstellungen in der Akademie der Künste, auf dem jüdischen Friedhof Weißensee und im Haus der Wannseekonferenz. Und wer alle dazugehörigen Führungen, Konzerte, Theater- und Filmveranstaltungen, Vorträge und Lesungen besucht, wird dann bis Ende April wahrscheinlich den Zustand geistiger Verwirrung erreicht haben, den der Berliner Kultursenator schon im Januar bei der Eröffnung


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