Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Eike Geisel

Die Wiedergutwerdung der Deutschen - Eike  Geisel


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der unerträgliche Gedanke an den Rauch aus den Schornsteinen durch die nostalgische Hinwendung zur pittoresken Endlagerstätte ersetzt wird.

      Die euphorische Wiederentdeckung der jüdischen Totenwelt, die mit der Begeisterung für die »Jüdischen Lebenswelten« einhergeht, zeugt indes nur von der allen dämmernden Erkenntnis, dass es für ein Eingedenken, welches diese Bezeichnung verdiente, längst zu spät ist. Denn das vorsätzliche Vergessen der Ermordeten – ein Kalkül der Nazis, das erst nach deren militärischer Niederlage richtig aufging – hat auch schon die Überlebenden aufgesogen. Wie die Postsendung an einen unbekannt verzogenen Empfänger, so wurde die von der ganzen Gesellschaft nach 1945 einvernehmlich formulierte Botschaft, mit der die Ermordeten zu Nichts, zu Phantomen erklärt wurden, an den Absender retourniert: und mit einem Mal standen die Deutschen als betrogene Betrüger da, selber nur Überhang auf Abruf. Diese selbstproduzierte Nichtigkeit konnten sich die Zeitgenossen offenbar nur dadurch erklären, dass sie sich nun ihrerseits zu Opfern machten, wahlweise der Siegermächte, der Bombe, der Verseuchung oder Überfremdung. Selbst die deutsche Wiedervereinigung, die wie jede echte deutsche Volksbewegung die Verwüstung jüdischer Friedhöfe einschloss, hat nicht die von allen erhoffte Erlösung aus dieser Nichtigkeit gebracht, sondern nur Frustration und Katzenjammer.

      Der Wunsch, die Verdrängten mögen nicht wiederkehren, liegt dem thanatologischen Enthusiasmus zugrunde, mit dem die Grabpfleger von heute an ein Werk gehen, das doch bloß ihre eigene Seele pflegen soll, aber sie kommen zu spät. Denn die Selbstangleichung der Lebenden an die Nichtswürdigkeit, die den Ermordeten in der Erinnerung zugedacht war, ist bereits vollzogen. Und weil es auch im Leben schon nicht mehr auf sie ankommt, ziehen deshalb immer mehr Menschen in Deutschland die Bestattung im anonymen Großgrab vor. Rund achtzig Prozent der Bevölkerung sterben ohnehin in Krankenhäusern, Alters- und Pflegeheimen, und deren kostengünstige Fortsetzung ist das Massengrab: einfach, billig und pflegeleicht.

      Die individuelle Grabstätte auf einem jüdischen Friedhof hingegen ist nach jüdischer Tradition unaufhebbar. Dieser Umstand zieht nicht nur den heimlichen Neid all derer auf sich, an die sich schon zu Lebzeiten niemand erinnert, sondern regelmäßig auch die Zerstörungswut jener, denen jedes jüdische Grabmal ein Stein des Anstoßes ist, weil es auf die deutsche Barbarei hinweist. Insofern sind die Verwüstungen jüdischer Friedhöfe, wie Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« schrieben, keine Ausschreitung des Antisemitismus, sondern dieser selbst. Er hat seine Opfer überlebt, denen nicht vergeben wird, dass sie ermordet wurden. Und noch ehe im Golfkrieg eine irakische Rakete auf Israel niedergegangen war, konnte man sich von der deutschen Treffsicherheit auf jüdischen Friedhöfen überzeugen. Hätten die alternativen Freilandhistoriker vor Jahren den jüdischen Friedhof gleich zum Abenteuerspielplatz gemacht, anstatt sich gegenseitig mit Webtechniken, Mundarten und Volksliedern zu quälen, dann hätten sie vielleicht schon damals eine Antwort auf die auch nach der Wiedervereinigung noch unbeantwortete deutsche Hauptfrage erhalten, was denn Heimat sei. »Zu den lächerlichen Unwahrheiten, die die Juden über sich verbreiten lassen, gehört ja die Rede vom Wandervolk«, schrieb Arnold Zweig 1936 in der Weltbühne in einem Nachruf auf Tucholsky. »Ließe man sie einmal in Ruhe, sie gingen nicht mehr vom Fleck. Wo die Gräber ihrer Vorfahren sind, da spüren sie ihre Wurzeln.« Jahrzehnte, ehe Ernst Bloch mit dem einzigen Satz, den alle gelesen haben, dem Schlusssatz seines »Prinzip Hoffnung«, der deutschen Heimatbewegung zuraunen sollte, dass der Ort ihrer Sehnsucht allen in die Kindheit scheine, aber noch niemand dort gewesen sei, hatte Zweig, der von einem ähnlichen Verlangen umgetrieben wurde, unfreiwillig eine radikale Definition von Heimat formuliert: es gibt sie allein sechs Fuß unter der Erde.

      So hat alles seine schlechte und seine gute Seite. Auch Auschwitz. Damals hieß es täglich im Stürmer: »Die Juden sind unser Unglück.« Selbst die älteren Ausstellungsbesucher und Friedhofstouristen sehen heute, dass man sie mit diesem Slogan fast um die halbe Wahrheit betrogen hätte: »Für mich ist es immer wieder erstaunlich«, erzählte ein 62jähriger Rentner der taz, »wie viele Geistesmenschen aus dem Judentum hervorgegangen sind. Ich sag’s mal auf berlinisch: Irgendwas muss an der Rasse doch dran sein ... dass die Juden immer wieder ein – zunächst mal – positiver Bazillus sind, der in der Kultur etwas bewegt.« Er traf damit genau jenen »positiven Kontrapunkt«, den der Festspielleiter »gegen die Bilder der Zerstörung und des Todes« mit der Ausstellung setzen wollte.

      Bei einer Pressekonferenz wiesen die Veranstalter außerdem darauf hin, wie außerordentlich wichtig eine solche Ausstellung angesichts des wachsenden Rassismus sei. Und alle nickten, nur Woody Allen nicht, denn er war gar nicht dabei. Doch von ihm stammt der vernünftigste Kommentar zu den pädagogischen Absichten der »Jüdischen Lebenswelten«: »Ich bevorzuge Baseballschläger«.

      1992

       Die Banalität der Guten

       Dienstjubiläum 1989

      Wer als Angestellter eines Kaufhauses oder einer Sparkasse lange genug durchhält, wird für seine masochistische Standhaftigkeit mit einer Armbanduhr und einem Händedruck vom Chef belohnt. Bei der Ehrung langgedienter Filialleiter gibt es eine richtige Feierstunde mit Häppchen und Kulturprogramm. Der Aufsichtsrat erscheint, Lobreden auf den Jubilar werden gehalten, Präsentkörbe werden verteilt und man stößt auf das Wohl der Firma an.

      Ähnlich aufregend war Anfang April 1989 die Feier für Heinz Galinski, der sein 40jähriges Amtsjubiläum als Vor­sitzender der Jüdischen Gemeinde Berlins beging. Der wie für einen bunten Nachmittag der Ortskrankenkasse dekorierte Saal füllte sich mit den zumeist angejahrten Betriebsangehörigen, mit den Experten für christlich-jüdische Versöhnung, den Vertretern deutsch-israe­lischer Kameradschaftspflege, den Fachleuten für dialogisches Denken, professionellen Philosemiten, mit ökumenischen Organisatoren, mit nichtjüdischen Elternpaaren, deren Sprösslinge die jüdische Schule besuchen, weil es dort angeblich intelligenter zugeht, mit spirituellen Gesinnungstätern, mit verkniffenen Konvertiten, protes­tantischen Freizeitjudaisten und nicht zuletzt mit Politikern; mit einem Wort: wie bei anderen vergleichbaren Anlässen waren die Juden von erbarmungsloser deutscher Gutwilligkeit aller Schattierungen umzingelt.

      Mit Walter Momper an der Spitze war der neue Aufsichtsrat fast vollständig anwesend. Und nach den Querelen der vergangenen Tage strahlte dieses Gremium an­gesichts lebender Juden noch immer jene Harmonie aus, die sich bei der Besichtigung toter Juden zwischen ihnen eingestellt hatte.

      Wie erinnerlich ging den Berliner Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Alternativer Liste 1989 ein gemeinsamer Rundgang durch die Ausstellung »Aus Nachbarn wurden Juden« voraus. Zwar wurden, wie man weiß, aus Nachbarn zumeist Antisemiten, aber derlei Spitzfindigkeiten trübten weder den Genuss des historischen Vitaminstoßes, mit dem die beiden Parteien ihre Annäherung begossen, noch hinderte sie dieser Umstand daran, die Umkehrbarkeit des Ausstellungstitels am lebenden Objekt zu demonstrieren: aus Juden seien Nachbarn geworden, war deshalb das mehrfach variierte Motto der Jubelfeier. Und für die 40jährige Anpassung an die Hausordnung wurde Galinski mit einer Vertrauensstellung belohnt. Den Worten des Regierenden Bürgermeis­ters zufolge übernimmt der Gemeindevorsitzende, nachdem er jahrelang im Außendienst für das internationale Ansehen der Firma BRD tätig gewesen war, nun eine Tätigkeit im Innendienst, eine Art moralische Hauswartsstelle: »Er trägt dazu bei, dass wir die Lehren aus der Geschichte ziehen.« So profan wollte es der Berliner Bischof Kruse nicht sagen. Er nobilitierte Galinski zum himmlischen Scherenschleifer, womit er allerdings nur die mentale Schurbedürftigkeit seiner eigenen evangelischen Herde hervorhob: »Die jüdische Gemeinde ist ein Segen Gottes, um das Gewissen zu schärfen.« Für diesen Dienst christlicher Nächstenliebe durch einen Juden, der gelegentlich die Täter daran erinnerte, dass sie welche waren, hätte der Bischof den Gemeindevorsitzenden, wie er sagte, am liebsten mit einem »Bruder Galinski« belohnt.

      Vorbei ist die Zeit, so wurde bei dieser Veranstaltung deutlich, dass Galinski wie andere jüdische Funktionäre ihre Rolle als Hofjuden der nachfaschistischen Ära haupt­sächlich damit ausfüllen sollten, für die Bonität der Firma auf dem Weltmarkt zu bürgen oder zu Hause die Henker zu trösten.

      Die CDU-Politikerin Laurien stellte den im Namen ihrer Partei verlesenen Glückwunsch ausdrücklich »unter ein Motto des Talmud«


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