Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Eike Geisel
Jahrzehnte, ehe sich so viele wieder familiär zusammenrotteten, legte der spätere Bundespräsident bereits jenen herzlichen Familiensinn an den Tag, den heute alle uneingeschränkt an ihm bewundern. Mit seiner Wahl hatte auch die deutsche Nachkriegsliteratur ihren ersten und einzigen politischen Erfolg vorzuweisen: Weizsäcker war die Antwort auf die Spätheimkehrerprosa Ende der siebziger Jahre, die Antwort auf ein von der sogenannten Väterliteratur formuliertes kollektives Bedürfnis. Deshalb kann man heute kaum mehr unterscheiden, ob der neueste Artikel Hochhuths vom Kanzler diktiert oder die letzte Kirchentagsrede des Bundespräsidenten von Walser verfasst wurde; deshalb gibt es heute keine Klassen mehr, sondern nur noch Väter, Söhne und Enkel.
Seinen Vater, bei dessen Verteidigung er im Nürnberger Prozess »aus tiefer Überzeugung« mithalf, würde Richard von Weizsäcker, wie er israelischen Journalisten erklärte, heute genauso unterstützen wie damals. Die vornehme Zurückhaltung des Bundespräsidenten, nicht die unmanierliche Wut, mit welcher der Stern-Redakteur Niklas Frank sich seines von den Alliierten gehängten Vaters annahm, wirkte stilbildend auf zahlreiche Bekenntnisse, die unter Titeln wie »Zweite Generation« oder »Kinder der Täter« zur neuen Betroffenheitsbelletristik zählen.
Alle diese Berichte illustrieren vornehmlich die Binsenweisheit, dass einer keine Nazieltern haben musste, um unter ihnen zu leiden – wie umgekehrt gilt, dass ein lieber fürsorglicher Familienvater die allerbesten Voraussetzungen mitbringt, auch ein guter Nazi zu werden. Die gestandenen und geständigen Mittvierziger, denen die eigenen Bälger mit unangenehmen Fragen nach dem gegenwärtigen Mitläufertum auf der Nase herumtanzen, entdecken nun, dass sie vor allen Dingen die lebenslänglichen Kinder ihrer Eltern sind. Nicht von ungefähr forderte deshalb eine Psychoanalytikerin, welche die Selbstdiagnose dieses Personenkreises als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ansah, die sofortige Umwandlung der Bundesrepublik in eine geschlossene Anstalt. Ihren Kollegen, so war im Spiegel zu lesen, warf sie vor, es versäumt zu haben, der »massenhaften Traumatisierung der Deutschen ins Auge zu sehen«.
Doch wie unheilbar gesund und in Sehnsucht nach Wiedervereinigung von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind sich verzehrend die angeblich traumatisierten erwachsenen Kleinen sind, geht aus den Aufzeichnungen einer Autorin über sich und andere »Kinder der Täter« hervor. Dörte von Westerhagen, die ihr Hobby, Familienarchäologie, in Therapiezirkeln und Interaktionsseminaren professionalisiert hat, schreibt: »In dem verzweifelten Bemühen, sich von negativen Elternbildern zu befreien und gleichzeitig doch noch zu bekommen, wonach man sich sehnte, Verständnis, Zugang zu guten Eltern, machten wir später den Eltern den Prozess, klagten sie in Wut und Hass an und wurden unsererseits zum Verfolger.« Weder sie selbst, noch eine der Personen, von denen sie berichtet, hat sich je an den Eltern vergriffen wegen deren Nazivergangenheit; es hat sich alles, abgesehen vom Vaterschänder Frank, zum Guten gewendet. Nur gelegentlich werden durchschnittliche Kinder von Rachegelüsten gepackt und begehen dort einen Mord, wo die meisten Kapitalverbrechen geschehen: zu Hause. Das gehört zu den Betriebskosten der familiären Sicherungsverwahrung. Zu diesen Kosten rechnet die Autorin auch die für den deutschen Hausgebrauch verschärfte Anwendung des fünften Gebots: »Es geht außerdem darum, die Liebe zu den Eltern, wie belastet sie immer waren, möglich zu machen (es) entsteht ansatzweise auch Dankbarkeit...«
Mittlerweile handelt es sich zumeist um posthume Familienfürsorge. Auch der Vater des Bundespräsidenten, der ehemalige Staatssekretär mit hohem SS-Rang, kommt nicht in die Lage, das vom Sohn erneuerte juristische Beistandsangebot anzunehmen. Erstens ist er tot, und zweitens interessieren sich, so wie die Dinge liegen, die deutschen Gerichte bestimmt nicht für ihn. Wahrscheinlich würde er als Widerstandskämpfer anerkannt und trotzdem eine Pension beziehen. Denn nach eigener Aussage war seine Mitgliedschaft in NSDAP und SS ein persönliches Opfer, um das Schlimmste zu verhindern, das er gerade durch seine Tätigkeit im Auswärtigen Amt damals anrichtete.
Auch der Bundespräsident will immer das Schlimmste verhindern. Er ist die personifizierte Begrenzung des Schadens, den alle um die Familienehre, will heißen um die Reputation der Bundesrepublik Besorgten, abwenden wollen und doch so zielsicher herbeiführen. Und am Ende kommt immer heraus, was angeblich keiner gewollt hat: zum Beispiel die neue Lust am historischen Schuldbekenntnis der Deutschen.
Horkheimer diagnostizierte 1960 das »kleinlaut und formell gewordene Schuldgetue«, welches nur die Funktion habe, sich »zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen«. Nach den tapsigen Auftritten des Kanzlers in Israel, in Bitburg und Bergen-Belsen hat sich kleinlaute Verdrücktheit in die stolze und vollmundig selbst von Helmut Kohl verkündete Einmaligkeit der deutschen Verbrechen verwandelt. Vor der als Historikerstreit bekannt gewordenen Ausrede, der Massenmord sei eine Doublette gewesen, rangiert nun die Verteidigung des Urheberrechts, der Anspruch auf Originalität: Auschwitz bleibt deutsch. Als Verbrechen zwar, aber doch auch als unvergleichliche Spitzenleistung.
Mit dieser Erklärung hat sich der Kanzler die offizielle Eintrittskarte zur »Zentralen Gedenkveranstaltung« am 9. November 1988 in der Frankfurter Synagoge erworben. Nachdem er sich bislang nur blamiert und immer bloß der Bundespräsident gute Zensuren ausgestellt bekommen hat, möchte er sich nun öffentlich bestätigen lassen, dass einige seiner besten Juden die Freunde der Deutschen seien.
Der inoffizielle Passierschein, mit dem der Kanzler zur Feierveranstaltung der neuen deutsch-jüdischen Symbiose durchgelassen wird, sieht hingegen anders aus – nämlich wie ein Bankauszug des verstorbenen Zentralratsvorsitzenden der Juden. Im Feudalismus wurden die Hofjuden physisch bedroht, damit sie den Finanzhaushalt des bankrotten Fürsten in Ordnung brächten; die Hofjuden, die sich die Bundesrepublik hält, werden finanziell unter Druck gesetzt, damit sie den angegriffenen Seelenhaushalt der Gesellschaft ausgleichen. Ihr oberster Funktionär hatte nämlich etwas getan, wovon abgestuft die ganze Bevölkerung seit der Nazizeit profitiert, und war in die Rolle des Vernichtungsgewinnlers geschlüpft, was deshalb als besonders skandalös galt, weil es ihn, wenn die Deutschen noch genügend Zeit gehabt hätten, eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen. Als Werner Nachmanns1 Unterschleif bekannt wurde, meldeten sich sofort besorgte Politiker und warnten davor, das Vergehen dieses Nachahmungstäters antisemitisch auszuschlachten. Damit waren sie bereits zum Symptom der Krankheit geworden, die sie verhindern wollten.
Und so kommt Kohl nach Frankfurt. Weil er will, was alle wollen, nämlich die ganze deutsche Geschichte, ist die Kritik verstummt. Die Kritiker haben sich in bekennende Historiker verwandelt. Mit der Konkursmasse aus einer neuerlichen Pleite, nämlich mit den Trümmerstücken des friedensbewegten Patriotismus, beteiligen sie sich fleißig am Wiederaufbau der Nationalgeschichte. Sie wollen auch nichts anderes als Deutschland, nur Deutschland anders. »Die deutsche Geschichte – dreigeteilt niemals!« ruft es aus dem Kanzleramt, und aus dem Westberliner Arbeitszimmer Peter Schneiders schallt es zurück: »Es muss endlich ein Ende haben mit dem gekrümmten Gang. Die deutsche Geschichte ist länger als zwölf Jahre ...«
Einige Jahrzehnte vor Auschwitz hatte sein Dichterkollege Börries Freiherr von Münchhausen, der in keinem Schullesebuch fehlt, eine stimmige poetische Metapher für die deutsche Traditionsbildung gefunden – die Lederhose: »Ja – Geschlechter kommen, Geschlechter gehen, / hirschlederne Reithosen bleiben bestehen.«
Mit der nationalen Wiedergutwerdung der Deutschen, die am 9. November 1988 in der Frankfurter Synagoge jüdisch abgesegnet wurde und die Verwandlung der Bundesrepublik in Deutschland abschließen soll, werden andererseits die Juden aus dem runderneuerten Kollektiv, vor dem sie schon heute mit bewaffneter Polizei geschützt werden müssen, ausgeschlossen. Manchmal explodiert schon heute ein Sprengsatz in einem Gemeindezentrum; aber abgesehen davon ist, wie Politiker immer wieder versichern, das Verhältnis von Deutschen und Juden ganz normal.
Als Antwort auf die Mutation von deutschen Linken in linke Deutsche haben sich jüdische Linke in linke Juden verwandelt. Zu welch vergleichbar komischen Resultaten diese Veränderung geführt hat, liest man gelegentlich in der taz, wenn ohne Arg über jüdisch-christliche Andachtsrituale von Linken berichtet wird, die sich vorzugsweise in evangelischen Akademien treffen, um sich nach dem gemeinsamen Kiddusch ans heitere Beruferaten »Was bin ich?« zu machen.
Diese Frage beantwortet in einer eigens zu diesem Zwecke gegründeten Zeitschrift namens Babylon Dan Diner