Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Eike Geisel

Die Wiedergutwerdung der Deutschen - Eike  Geisel


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hofft, man werde ihn verwechseln: »Wir jüdischen Intellektuellen, die dem Märtyrertod unter Hitler entronnen sind, haben nur eine einzige Aufgabe«, zitiert er aus den »Notizen« als blicke er in einen Spiegel. Herausschaut aber das austauschbare Gesicht der A13-Kultur. Nicht dem Märtyrertod ist er entronnen, entkommen ist er der Frankfurter Szene, was ja auch eine glückliche Schicksalsfügung sein kann. Vor Jahren schrieb er im Westend über den Nahen Osten ein Buch mit dem Titel: »Keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser«, was nicht persönlich gemeint war: heute ist er Professor in Tel Aviv.

      In der Bundesrepublik sind zum Jubiläumsjahr der »Kristallnacht« alle fleißig am Graben, Recherchieren, Renovieren und Publizieren, um sich mit der wiedergefundenen Einzigartigkeit der deutschen Geschichte über die eigene Mittelmäßigkeit hinwegzutrösten. Ein halbes Jahrhundert nach der wirtschaftlichen Ausplünderung der Juden, die 1938 einen Höhepunkt erreicht hatte, sind die Vertriebenen und Ermordeten zum Material einer gemeinnützigen Wachstumsindustrie geworden: There is no business like Shoahbusiness.

      Die »Wiederjudmachung Deutschlands«, wie die Allgegenwart jüdischer Themen in den Medien von jenen bezeichnet wird, die in regelmäßigen Abständen den Deutschen erklären, dass Auschwitz kein Sanatoriumsaufenthalt für sie war, ist inzwischen zu einem flächende­ckenden Arbeitsbeschaffungsprogramm geworden. Keine Gemeinde ist mehr ohne Judenreferent, jeder Sender hat seinen Vernichtungsexperten – die Nazis hätten sich die Finger nach so viel Fachleuten geleckt. Durch deren vereinigte Anstrengung gibt es zwar in der Bundesrepublik nicht weniger Antisemiten, nur weniger Arbeitslose, aber es wird durch sie noch einmal bestätigt, was zur Erfahrung der letzten Jahrzehnte gehörte: dass Erinnerung in Deutschland die höchste Form des Vergessens darstellt. Ihr Modell ist, vom Ende des Hauptbeteiligten abgesehen, der Eichmann-Prozess.

      Nach seiner Festnahme in Argentinien wurde Eichmann aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben, er sei einverstanden, vor ein israelisches Gericht gestellt zu werden. Diese Erklärung unterzeichnete er erst, nachdem er deren Sprache seinem grammatikalisch verkorksten Amtsdeutsch anverwandelt und ihr eine kuriose Bitte hinzugefügt hatte: »Nachdem ich mich nicht an alle Einzelheiten mehr erinnere und auch manches verwechsle und durcheinanderbringe, bitte ich, mir dabei behilflich zu sein, durch Zurverfügungstellung, durch Unterlagen und Aussagen, die meinen Bemühungen, die Wahrheit zu suchen, behilflich zu sein.«

      Monatelang, Tag für Tag, erst im Gefängnis, dann im Gericht, bemühten sich die Prozessbeteiligten um den Angeklagten wie Pädagogen, die einem begriffsstutzigen Kind eine Vorstellung von dem zu geben suchen, was es angestellt hat. Doch die Mühe war vergeblich, Eichmann las die von ihm unterzeichneten Anordnungen, die ihm vorgehalten wurden, mit derselben Beflissenheit durch, mit der er sie einst ausgefertigt hatte. Er hatte gewissermaßen seinen Arbeitsplatz aus der Berliner Kurfürstenstraße in den Glaskasten im Jerusalemer Landgericht verlegt.

      Die Verlaufsform der deutschen Vergangenheitsbewältigung ähnelt auf frappante Weise jenem juristischen Schauspiel in Jerusalem. Wie der ewige Student saßen die Deutschen in einer Art Dauerrepetitorium und zeigten sich resistent gegen jede Aufklärung über die eigene Vergangenheit. Weil der Student nun im annähernd neunzigsten Semester sich befindet und immer noch bei jeder Prüfung durchfällt, werden anlässlich des Pogrom-Jubiläums wieder zahllose Sendungen, Veranstaltungen und Ausstellungen als Nachhilfeunterricht angeboten. Damit nun der Kandidat nicht sofort wieder alles vergißt und zwischenzeitlich – wie bei der Bundeswehr geschehen – nicht symbolisch ein paar Juden verbrennt, bietet das erste Fernsehprogramm im Anschluss daran einen Intensivkurs über die Endlösung an: einen Mehrteiler über die Massenvernichtung vom Nordkap bis zur Ägäis. Um die Lernmotivation des Studenten kümmert sich ein ganzes Rudel von bislang arbeitslosen Lehrern, die nun den neugeschaffenen Beruf des Betroffensheitsarbeiters ausüben nach der Devise: »Wenn Sie bisher Juden ausrotteten, dann müssen Sie jetzt Judenpfleger sein.«

      Diese Neufassung der Sonderbehandlung war einer der letzten Befehle, den Eichmann von Himmler erhalten hatte und nur mangels Gelegenheit nicht ausführen konnte. Der Umschwung wäre dem erklärten Hobbyjudaisten nicht schwergefallen. Statt seiner bemühen sich nun andere darum, diese Direktive zu befolgen. Mit päda­gogischem Eifer sind sie darum bemüht, den Glaskasten in ein historisches Terrarium, in einen Erlebnisraum umzugestalten. Wenn einer schon nichts begreift, dann soll er wenigstens was zum Anfassen haben. »Ihre Neugier auf sinnliche Erlebnisse ist offensichtlich; die Phantasie möchte sich an der Retrospektive beteiligen«, schrieb W.F. Schoeller in der Süddeutschen Zeitung voller Sympathie für die Restverwerter, die angesichts der freigelegten Fundamente des jüdischen Gettos in Frankfurt ins Schwärmen gerieten. Weil es dort aber nur viel Steine und wenig Tod gibt, ist die Ausbeute an sinnlichen Erlebnissen mager. Von Arnulf Baring, dem Peter Alexander der deutschen Historiker, kam ein ganzes Bündel von Vorschlägen, diesen Erlebnishunger zu stillen, darunter die Anregung, in die sinnliche Wahrnehmung der Vergangenheit auch ein Schnupperstudium mit »Zyklon B« einzubeziehen. Das neueste Stimulanz zur Beflügelung des Lerneifers ist jedoch, nachdem die »Geschichte von unten« an ihre natürlichen Grenzen, ans Grundwasser, gestoßen ist, die »Geschichte von innen«. So bezeichnen Menschen, die die Geschichte lieben, aber ihresgleichen offenkundig nicht respektieren, ein Projekt, in welchem sie Überlebende in ihre »Geschichtswerkstatt« locken, um Hand an sie zu legen. Die einst Verfolgten und Gequälten sollen dort, möglichst naturgetreu, ihr Opferschicksal rekonstruieren. In einem Versuchsprotokoll heißt es: »Der Zeitzeuge berichtet nicht nur mündlich, sondern er durchlebt gemeinsam mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern noch einmal den geschichtlichen Vorfall. Bei allen Beteiligten, nicht nur bei S. selbst, führte dies zu tiefen und eindringlichen emotionalen Reaktionen. ›Betroffenheit‹ wurde vom Schlagwort zur Realität.«

      Zwei prominente Beutestücke, die den Jägern der verlorenen Einmaligkeit wieder in die Hände gefallen sind, liegen in Berlin: die ausgebuddelten Gestapo-Keller und die Wannsee-Villa, wo 1941 bei einem Arbeitsfrühstück die Richtlinien der Massenvernichtung beschlossen wurden.

      Diese Villa soll, wie das Gruseltroja an der Mauer, als eine Art Spukschloss am Wannsee künftig das Pflichtprogramm von Klassenfahrten nach Berlin ergänzen. Und die Historiker, die die deutsche Selbstfindung in der Professoralform und im Feuilleton versanden ließen, sollen hier wieder zur aktuellen Eingreiftruppe werden. In einer Art Neuauflage der Wannseekonferenz, die den Neid alternativer Freilandhistoriker auf sich zöge, könnten dann jene seit der TV-Sendung »Holocaust« unvermeidlichen Expertenrunden stattfinden. In der Atmosphäre des neuen Bekenntnisses zur Einzigartigkeit würde dann gewiß die immer noch brennende Streitfrage nach der maximalen Kapazität der Verbrennungsöfen zufriedenstellend geklärt.

      Damit ein solcher Ort jedoch richtig zum Übungsgelände für Identität und Nationalbewusstsein wird, dafür müssen dann die Kleinkünstler der Selbstwiedergutmachung sorgen – die Schriftsteller. Denn wo die Begriffe fehlen, da stellt sich eine Lesung ein. Und dafür, dass ihn vom Kanzler bis zum Regierenden Bürgermeister alle plagiieren, könnte sich Peter Schneider dann mit einer Lesung aus »Vati«2 revanchieren.

      1988

       Zweimal 9. November

       Oder: Die Juden sind unser Glück

       »Kinder, es lebe die Nachkriegszeit, denn bald wird sie wieder zur Vorkriegszeit.«

      Song aus dem Film »Wir Wunderkinder«

      Erinnert sich noch irgend jemand an den sogenannten Historikerstreit? An jene einschläfernde Debatte über die jüngere deutsche Geschichte, an jene bloß akademische Auseinandersetzung, die in Wirklichkeit längst entschieden war, ehe sie in der Professoralform nochmals verschied und aufwendig in Feuilletons und zwischen Buchdeckeln beerdigt wurde? Das Klagelied über »die Vergangenheit, die nicht vergehen will«, hat sich nach dem 9. November 1989 in einen Triumphgesang verwandelt, mit welchem der unbefleckte Wiedereintritt in die Weltgeschichte gefeiert wurde. Kaum war die Grenze innerhalb Berlins einen Spaltbreit geöffnet worden, da fielen im Bonner Parlament schon alle Schranken: die Fraktionen grölten die Nationalhymne. Das hatte es zum letzten Mal Anfang 1933 gegeben.

      Berlin ist der Ort, an welchem die deutsche Nachkriegsgeschichte für alle sichtbar zu Ende geht.


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