Die Wiedergutwerdung der Deutschen. Eike Geisel
und seine »schneidende Stimme«, will sagen für die Marotten »dieses ständig Mahnenden, unverdrossen Warnenden«.
Gelegentlich auf Friedhöfen, insbesondere aber an Gedenkstätten für das vergangene Grauen, findet sich die Inschrift »Die Toten mahnen«. Doch abgesehen von der verlogenen Allgemeinheit dieser Behauptung, welche die Geschichte in ein wohnliches Massengrab für Mörder wie Ermordete verwandelt, sind Tote bloß tot. Sie können gar nichts mehr tun und niemandem etwas anhaben. Bei der gesellschaftlichen Hausaufgabenverteilung in Deutschland ist es der Beruf der Juden, es jenen Toten gleichzutun, zu mahnen. Sie sollen wissen, sie sind Tote auf Abruf. Sie haben nicht, sie sind überlebt.
Dass den Vernichtungslagern etwas Gutes abzugewinnen sei, diese nachkriegsdeutsche Kosten-Nutzenanalyse hat längst aufgehört, exklusives geistiges Eigentum alter und neuer Nazis zu sein. Wer immer betonte, man dürfe die »nationale Frage« nicht den Rechten überlassen, musste beim völkischen Mitbestimmungsbegehren notwendigerweise versuchen, den extremsten Ausdruck dieser nationalen Frage – Auschwitz – für sich auf erträgliche Weise zu reklamieren. Dabei gingen moralische Attitüde und politisches Kalkül jene Verbindung ein, die im neuen Bewährungshelferidiom mit der Standardformel »Gerade wir als Deutsche« ihrem rhetorischen Dauerausdruck fand. Mit dem regelmäßig an Israel wie an ausgewählte Überlebende gerichteten Ansinnen, die Juden nach Hitler hätten gefälligst die besseren Menschen zu sein, wurden die Konzentrationslager als Tötungsfabriken und Weiterbildungseinrichtungen ins alternative Geschichtsbild integriert.
Wie alles populär wird, was alternative Weltsicht in Umlauf bringt, weil deren Ideologen als Aufreißer des Massenbewusstseins und als Animateure des politischen Betriebs fungieren, so verbreitete sich auch der Gedanke von der pädagogischen Nützlichkeit der Konzentrationslager. Nicht immer wurde daraus ein Vorwurf an Uneinsichtige. Gelegentlich kam es zu einem Lob. Galinski etwa, so erfuhr man bei der Trauerfeier für den verstorbenen Gemeindevorsitzenden, war im Lager tatsächlich durch eine harte Schule, sozusagen durch die Vorschule der Demokratie gegangen, wie der Regierende Bürgermeister Diepgen zu sagen wußte: »Das Leid hat ihn nicht gebrochen, sondern ihm die Kraft gegeben, beim Aufbau einer neuen, demokratischen und freiheitlichen Ordnung mitzuwirken.«
Diese Sichtweise von Auschwitz als Fitnesscenter für künftige Demokraten war ein Plädoyer für die sofortige Deportation der gesamten deutschen Bevölkerung in Konzentrationslager. Ähnlich radikal musste ein Redakteur des Tagesspiegel gedacht haben, als er Galinskis oft wiederholte Äußerung – »Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu bestimmten Vorkommnissen den Mund zu halten« – mit der Anmerkung zitierte, kein Satz des Verstorbenen sei so richtig gewesen wie dieser. Und wie um diese volkspädagogische Schlussfolgerung aus der Massenvernichtung zu beweisen, machte der Tagesspiegel wenige Tage nach dieser Erläuterung den Mund weit auf und trug zu jenen bestimmten Vorkommnissen bei, angesichts derer nicht den Mund zu halten man offenbar erst ein Konzentrationslager überlebt haben muss.
Anfang September lautete eine Meldung im Lokalteil der Zeitung: »Ein in Polen geborener 44jähriger Postangestellter ..., der seit 1977 in Berlin wohnt, wurde ... zu einer Geldbuße von 2100 DM verurteilt, weil er sich durch falsche Angaben die deutsche Volkszugehörigkeit erschleichen wollte.« Das war ein Schritt in die richtige Richtung, gemacht von Redakteuren, die nicht das Lager, sondern die Tarifrunde hinter sich haben und deshalb einer demokratiefordernden Erfahrung ermangeln, deren kulturellen Höhepunkt das Feuilleton der Zeitung schon im Frühjahr 1992 mit »Die Stunde der Gasöfen ist die Stunde der Dichtung« beschrieben hatte. Der Weg dorthin ist gepflastert mit trockenen Meldungen. Die Stunde des Pogroms ist unpoetisch, es ist die Stunde des Ariernachweises.
Heinz Galinski war der im kugelsicheren Terrarium gut gehütete Gewissenswurm der Deutschen; er war der meistgehasste Bürger dieser Republik, der Itzig der Nachkriegszeit. Noch im Tode benötigte er Polizeischutz. Sein Bekanntheitsgrad war ein zuverlässiger Indikator für die Bestimmung des Debilitätskoeffizienten der Bevölkerung. Wer nichts wußte, wußte, wer Galinski war; wer nichts zu sagen hatte, dem fiel zu Galinski etwas ein. Und selbst Kinder, deren Idole und Monster schrille Phantasiegeschöpfe der Filmindustrie sind, standen den Erwachsenen an Realitätstüchtigkeit nicht nach: ein Berliner Schüler, dem zu Bismarck allenfalls der gleichnamige Hering einfiel, überraschte seinen Geschichtslehrer einmal mit der präzisen zeitgeschichtlichen Auskunft, Galinski würde am liebsten alle Deutschen nach Israel deportieren und dort in ein KZ stecken.
Der weitverbreitete Hass auf Galinski freilich war nicht Ausdruck dumpfer Verdrängung der mörderischen Vergangenheit, sondern eine Leistung des wachen Bewusstseins: mit der jüngeren deutschen Geschichte sollte nicht einfach Schluss sein, sondern diese sollte, indem es gegen Galinski ging, erst richtig zu ihrem Abschluss gebracht und – vollendet werden. Dass er noch da war, ging nicht mit rechten Dingen zu. Etwas war schiefgelaufen. Auch das Lamento über »die Vergangenheit, die nicht vergehen will«, war in Wahrheit nur eine Äußerung mürrischer Ungeduld: die Überlebenden, an ihrer Spitze Galinski, sollten endlich von der Bildfläche verschwinden. Denn sie sind die Toten, die nicht sterben wollen. Sie sind die Gespenster der Vergangenheit in der deutschen Gegenwart; sie sind die Untoten der Lager; sie sind die Geister, die ausgetrieben werden müssen, wenn sie sich nicht an die jährliche Geisterstunde halten.
Der Rädelsführer dieser Spukgestalten ist verschwunden, und plötzlich vermissen ihn alle. »Seine Stimme ist erloschen ... Eine Stimme, die den Deutschen fehlen wird, allen Deutschen«, hieß es in der Zeit. Mit dieser Verlustmeldung war Heinz Galinski endlich zuhause, richtig eingebürgert und unwiderruflich gemeinschaftsfähig: als moralisches Heinzelmännchen.
1992
Countdown im Feuilleton
I.
So wenig die Deutschen den Juden Auschwitz verzeihen, so sehr tragen sie auch den ehemaligen Alliierten nach, dass damit 1945 Schluss war. Die Befreiung, die sie Amerikanern und Russen nicht vergeben und nun auch den Engländern übel nehmen, war ja auch nur eine für die Insassen von Lagern und Gefängnissen gewesen. Die anderen, die diese betrieben oder die Welt in Schutt und Asche legten, wurden militärisch besiegt; sie wurden gegen ihr Einverständnis und mit Gewalt allenfalls davon befreit, ihren Massenmord bis zur Selbstvernichtung fortzusetzen. Nur durch ihre Niederlage blieben sie am Leben.
Für diesen nachgerade sträflich kurzen Eingriff in ihr Selbstbestimmungsrecht rächen sich seitdem die Deutschen. Nicht einmal die Tatsache, dass sie ein halbes Jahrhundert später als Gewinner dastehen, dass sich das Verbrechen auf lange Sicht doch ausgezahlt hat, kann ihre Rachsucht besänftigen. Der Sieg über den Bolschewismus ist ihnen in den Schoß gefallen: der Gegner kapitulierte vor Devisen, nicht vor Divisionen. Das Land ist wiedervereinigt, und was ihm damals im Osten abgetrennt worden war, haben sich die Bundesbürger in doppeltem Umfang in Westeuropa zusammengekauft. Außerdem liegt Schlesien wie Ostpreußen jetzt nicht als Irredenta, sondern als Immobilie vor der Haustür. Die bis zur Wiederherstellung der vollen Souveränität als Besatzungsmacht ungelittenen Amerikaner räumen das Land, der Dollar geht in die Knie und das britische Pfund ist angeknackst. Doch all dies reicht nicht aus, die mühsam gezähmte Wut in Gelassenheit aufzulösen, jenen bösen Groll, der gerade immer dann besonders stark wird, wenn die ehemaligen Sieger schwach werden. Den Deutschen genügt es nicht, Modell für Europa zu stehen, sie wollen einen Platz an der Sonne. Sie wollen im Licht stehen und tappen immer nur wieder in dem Schatten herum, den sie selber werfen. Sie wollen über den Gewinn hinaus einen Extraprofit erzielen, der nicht aus der Kapital-, sondern aus der Geschichtsverwertung resultieren soll. Sie wollen das heilige Sakrament der Absolution.
Auf diesen ganz besonderen Surplus, der nicht bilanzierbar ist, verschwendete ein normaler Geschäftsmann keinen Gedanken. Aber deutsche Unternehmer, in der Geschichte der europäischen Bourgeoisie immer deren cleverste Abteilung, nämlich feige und erfolgreich zugleich, möchten mit der Mehrheit der Bevölkerung auf diesen Bonus zuallerletzt verzichten. Mit seiner Erklärung, dass angesichts der Wiedervereinigung wirtschaftliche Überlegungen hinter der Politik zurückzutreten hätten, sprach sich 1990 Mercedes-Chef Edzard Reuter freilich nicht für eine Unterordnung des Kapitals unter den Staat aus, er plädierte damit auch nicht für die Abdankung des Privateigentums, sondern er ratifizierte das Ende der »Berechenbarkeit der deutschen