Swiss Paradise. Rolf Lyssy
wie das Kind in Brechts Kaukasischem Kreidekreis, das von den zwei Müttern beinahe auseinandergerissen wird. Was mir aber, so absurd es klingen mag, am meisten zu schaffen machte, waren tonnenschwere Schuldgefühle gegenüber meinen Freunden. Mich für oder gegen einen Klinikaufenthalt zu entscheiden, empfand ich den einen oder den anderen gegenüber als unloyal. Dies alleine zeigte schon, wie sich mein Gefühlshaushalt völlig jenseits eines normalen Empfindens bewegte. Aber wie immer ich mich entscheiden würde, ohne mir selber ein Bild von der Situation in der Klinik gemacht zu haben, glaubte ich nicht fähig zu sein, überhaupt zu einem Schluß zu kommen. Und so hatte mich Oberarzt Dr. B., von Dr. K. über meinen Zustand informiert, durch die Station geführt, mir die Zimmer und Aufenthaltsräume gezeigt und mit ernster Miene zu verstehen gegeben, daß ich unter einer sehr schweren Depression litt. Er empfehle mir, so rasch als möglich in die Klinik einzutreten. Ich wunderte mich. Wie konnte er wissen, daß ich eine schwere Depression hatte? Ich wußte, daß ihn mein Arzt über meinen Zustand aufgeklärt hatte, aber er hatte doch kaum mit mir gesprochen. Sah man mir das an? Sah er in mich hinein? War er wirklich der kompetente Seelenarzt, den man mir empfohlen hatte? Vielleicht würde er mir helfen können. Seinem Mienenspiel war deutlich anzusehen, wie ungern er mich wieder gehen ließ. Doch prompt machten sich erneut Widerstände in mir bemerkbar. Was würde er mit mir alles anstellen? Ich war ja schon lange nicht mehr in der Lage zu argumentieren. Ich wußte, ich konnte seinem Willen und seiner Erfahrung nichts entgegensetzen. Ich würde ihm ausgeliefert sein, und meine Widerstände verwandelten sich in Angst. Ich verabschiedete mich von Dr. B. und versprach ihm, daß ich mit Dr. K. über einen möglichen Klinikaufenthalt nochmals reden würde. In meinem Innern aber dachte ich, daß es unter keinen Umständen in Frage kam. Jetzt nicht und auch später nicht. Nie. Nicht für mich.
2
Begonnen hatte alles drei Monate zuvor, Mitte Februar 1998. Eines Tages schoß ein Kugelblitz mit ungeheurer Gewalt durch meinen Kopf und durchtrennte mit einem Schlag alle Kommunikationswege im Gehirn. Zerstückelt, zerrissen, verbrannt, lahmgelegt – die dramatische Folge einer fatalen Fehlgeburt. Ich hatte einsehen müssen, daß die auf den Sommer des gleichen Jahres geplante Produktion meines neuen Spielfilms, einer Komödie mit dem Titel »Swiss Paradise«, nicht zustande kommen würde. Es gab verschiedene Gründe: Zum einen war es dem Produzenten nicht gelungen, die Finanzierung sicherzustellen, zum andern entdeckte ich bei der letzten Drehbuchüberarbeitung derart gravierende Mängel, die mir früher nie aufgefallen waren, so daß an eine Realisierung des Films zum vorgesehenen Termin nicht mehr zu denken war.
Über drei Jahre hatte ich mich in dieses Projekt geradezu verbissen, wollte mit dem Kopf durch die Wand, auch aus Gewohnheit, weil man in diesem Land, will man einen Film realisieren, gezwungen wird, diesen Weg zu gehen: straight through the wall. Nur diesmal war es anders. Alle Mühen, alle Hoffnungen waren vergeblich gewesen: Das Buch, an dem ich mit Christa M., Autorin und Filmemacherin aus Berlin, und Georg J., Cutter und Regieassistent dreier meiner früheren Spielfilme, geschrieben hatte, war in dieser Form unbrauchbar. Ich ahnte, nein, ich hatte tief in mir die Gewißheit, daß der Film das Licht der Leinwand wohl nie erblicken würde. Trotzdem machte ich mit Christoph S., dem vorgesehenen Produktionsleiter, in der ersten Märzwoche eine Rekognoszierungsreise nach New Glarus, America’s Little Switzerland, wie sich der Ort im US-Bundesstaat Wisconsin nennt. In diesem idyllischen amerikanischen ›Schweizerdorf‹ sollte der Film spielen. Dadurch, daß ich nicht alleine reiste, wurde ich zwar etwas abgelenkt, blieb aber innerlich hin- und hergerissen zwischen der Gewißheit, daß der Film nicht zustande kommen würde, und einer illusorischen Hoffnung, daß es vielleicht doch noch klappen könnte, obwohl aus meiner Sicht nichts mehr dafür sprach. Absolut gar nichts.
Eine Woche wollten wir in New Glarus bleiben. Anschließend sollte Christoph nach Hause zurückfliegen, während ich noch einige Tage bei meinem Sohn Elia, der in New York lebt und arbeitet, verbringen wollte. Als ich am Tag nach unserer Ankunft mit Christoph durch den Ort spazierte, um ihm mögliche Drehortezu zeigen, sank meine Stimmung auf einen absoluten Tiefpunkt. Plötzlich schien alles so sinnlos. Ich glaubte an nichts mehr und fühlte nichts mehr. Ich hatte nur den einen Wunsch, so rasch als möglich wieder abzureisen. Gleichzeitig war mir bewußt, daß ich das Christoph nicht antun konnte und dem Besitzer des Hotels, das eine wichtige Rolle im Film haben sollte, schon gar nicht, denn dieser bemühte sich, uns den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Ich hatte nicht den Mut, ihnen zu gestehen, daß ich nicht mehr an das Projekt glaubte. Ihr Engagement und ihr Optimismus konnten meine unaufhaltsame verzweifelte Fahrt ins Nirgendwohin nicht aufhalten.
Ich kam mir vor wie auf einer Folterbank, gefesselt, hilflos Schuldgefühlen, Gewissensbissen und abgrundtiefen Ängsten ausgeliefert. Ich haderte mit mir, weil ich unfähig gewesen war, das Steuer dieses langjährigen, mühseligen, verfahrenen Filmprojekts rechtzeitig herumzureißen. Christoph konnte nicht wissen, wie es in mir aussah. Ohne in Einzelheiten zu gehen, versuchte ich ihm verständlich zu machen, daß ich nicht in der Lage sein würde, im Hinblick auf die Realisierung Entscheide zu fällen. Er nahm es relativ gelassen, sagte, daß er genug zu erledigen hätte, ohne daß ich mich daran beteiligen müßte. Das war zwar gut gemeint, änderte jedoch an meiner seelischen Verfassung nichts. Christoph erklärte sich außerdem bereit, mit mir das Drehbuch im Hinblick auf Verbesserungen nochmals durchzugehen, und ich willigte ein. Vielleicht, mit seiner Hilfe, die Schwachstellen eliminieren und dann doch…?
Das Hotel, in dem wir wohnten, bestand aus zwei sehr großen Chalets. In der Filmgeschichte waren die beiden Häuser sozusagen das Objekt der Begierde und die Handlung war folgende: Max Bodmer, der Kantonspolizist aus meinem Film Die Schweizermacher, erbt zur Hälfte von seiner im Alter von neunzig Jahren verstorbenen Tante das Hotel Landhaus in New Glarus. Als Dank für die gute Arbeit hat die Besitzerin die andere Hälfte ihrem Hotelmanager Norbert Hagmann vererbt. Hagmann war zehn Jahre zuvor aus der Schweiz nach New Glarus eingewandert. Nun lernt er eines Tages seinen Erbpartner Bodmer kennen, der mit einer Reisegruppe aus der Schweiz im Hotel abgestiegen ist, um sich zuerst einmal inkognito ein Bild zu machen. Verärgert stellt Bodmer fest, daß sich in diesem ›Schweizer‹ Hotel mehr indianische als schweizerische Einrichtungsgegenstände befinden. Zudem ist Hagmann, ein großer Indianerfan, mit einer Indianerin verlobt, deren Bruder in der Nähe von New Glarus ein Spielkasino führt. Hagmann sieht sich bald mit unerhörten Forderungen Bodmers konfrontiert. Und damit beginnt der ›Leidensweg‹ der beiden ungleichen Erben. Hier der bodenständige frustrierte Ex-Polizist und dort der aufgeschlossene, modern denkende Manager. Daß das auf die Dauer nicht gutgehen kann, versteht sich von selbst. Und als sich dann im Laufe der Handlung eine reiche amerikanische Witwe, mit einer offensichtlichen Schwäche für gestandene Schweizermänner, in Bodmer verliebt, läuft erst recht nicht mehr alles so, wie es einmal ursprünglich geplant war. Das war der Ausgangspunkt zu einer Komödie, bei der es mittlerweile nichts mehr zu lachen gab. Wir setzten uns zusammen, überlegten, diskutierten, schrieben auf und verwarfen wieder, noch einmal von vorne … Es half nichts. Das Handlungsgefüge der Geschichte und damit deren Glaubwürdigkeit waren nach meinem Empfinden auseinandergebrochen. Der Karren mit der Szenenfolge, den Figuren und ihren Dialogen war zu tief im Schlamm eingesunken, als daß er sich noch hätte herausziehen lassen. Ich sehnte das Ende der Woche herbei.
Am Samstag war es soweit. Christoph verabschiedete sich am Morgen und fuhr mit dem Mietwagen nach Chicago, von wo er gleichentags zurück in die Schweiz flog. Rechtzeitig, denn im Laufe des Nachmittags wurde das Land von einer riesigen Ladung Vorfrühlingsschnee zugedeckt.
Tags darauf kam Elia, der in der gleichen Woche in Milwaukee einen Werbespot für Miller’s Beer gedreht hatte. Am Abend saßen wir in der Pizzeria des Hotels und ich berichtete ihm ausführlich über die vergangenen Tage. Ich mußte davon reden, das war ich ihm schuldig, denn schließlich hatten wir geplant, daß er bei meinem Film hinter der Kamera stehen würde. Ich erzählte ihm von meiner Verzweiflung, vom sinnlosen Umherirren in New Glarus, von den vergeblichen Bemühungen, mit Christoph Verbesserungen am Buch anzubringen. Er sprach mir Mut zu und war überzeugt, daß es trotz aller momentanen Schwierigkeiten sicher noch Möglichkeiten gäbe, den Film zu retten. Ich wollte ihn nicht enttäuschen und widersprach ihm nicht. Ich hatte auch nicht die Kraft dazu. Ich fühlte mich leer. Im Kopf und im ganzen Körper.
Am andern Tag – der Winter hatte die Gegend weiterhin eisig im Griff – fuhr uns der Hotelbesitzer frühmorgens zum Flughafen von Madison.