Swiss Paradise. Rolf Lyssy

Swiss Paradise - Rolf Lyssy


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daran schuld, daß es zu keiner Besserung kam? Das wäre doch auch denkbar. Bis jetzt hatten die Medikamente jedenfalls keine Wirkung gezeigt. Und wie war das mit der Psyche? Würde da die Selbstheilung auch funktionieren? Ich wollte es wissen und setzte das Antidepressivum noch am gleichen Tag ab. Ich hoffte sehr, die Wärme und die Sonne Kaliforniens allein würden heilend wirken. Irrtum. Beim Abschied von Sabina und Xavier dachte ich, ich würde sie nie wiedersehen. Der Gedanke verursachte mir Übelkeit.

      Ich machte einen Zwischenhalt von drei Tagen in New York, denn ich brachte es nicht übers Herz, den Kontinent zu verlassen, ohne Elia zu sehen. Als wir uns unter der Wohnungstüre umarmten, merkte ich, daß auch er nicht in bester Verfassung war. Ich kannte den Grund, er hatte am Telefon davon gesprochen. Die Ende Juli auslaufende Frist seiner Aufenthaltsbewilligung hing wie ein Damoklesschwert über ihm. Würde sein Antrag für das neue Visum, eine Vorstufe zur Greencard, von der Einwanderungsbehörde nicht bewilligt, so müßte er das Land definitiv verlassen. Seit seiner Studienzeit an der NYU hatte er jedes Jahr an der US-Greencard-Lotterie teilgenommen und gefiebert, aber das Glück war ihm nicht hold gewesen. So war er gezwungen, den beschwerlichen und teuren Weg zu einer definitiven Aufenthaltsbewilligung mit einem Anwalt zu gehen. Der Gedanke, alles aufgeben und unfreiwillig wieder in die Schweiz zurückkehren zu müssen, war für ihn unerträglich. In New York hatte er studiert, seinen Arbeits- und Freundeskreis aufgebaut und sich als freier Kameramann im Laufe der Jahre einen guten Namen geschaffen. Daß alles mit einem Federstrich zunichte gemacht werden könnte und er keine Möglichkeit hätte, einen negativen Entscheid der Behörde anzufechten, brachte ihn fast an den Rand der Verzweiflung. Und ich litt mit ihm.

      Es wurden die längsten drei Tage meines Lebens und sicher auch im Leben von Elia. Wir hatten kaum etwas zu reden miteinander. Nicht, weil wir uns nichts zu sagen gehabt hätten, nein, jeder von uns war seinen eigenen Ängsten, Verzweiflungen und sich im Kreis drehenden Gedanken derart ausgeliefert, daß wir verstummten. Die Gegenwart war so unerträglich, daß ich mich mit meinen Gedanken in die Vergangenheit flüchtete.

      Ich hatte in dieser Stadt auch Erfreuliches erlebt: im März 1976 die erfolgreiche Premiere meines Films Konfrontation in einem Kino in Manhattan und die darauffolgende beachtlich gute Kritik in der New York Times und, vierzehn Jahre später, im März 1990, die ebenso erfolgreiche Vorführung von Leo Sonnyboy am New York Film Festival. Jetzt aber war es nicht mehr die pulsierende, kurzweilige, aufregende Stadt, die mich immer wieder von neuem fasziniert hatte. Das New York, wie ich es aus den Filmen von Sidney Lumet, Martin Scorsese und ganz besonders Woody Allen kannte und liebte. Diesmal war Big Apple nur noch bedrohlich, abweisend und kalt. Als ob wir dagegen ankämpfen wollten, marschierten wir am ersten Tag wortlos Seite an Seite, Stunden um Stunden durch Straßen und Pärke, ungeachtet des launischen Aprilwetters, das uns zeitweise einen bissigen Wind ins Gesicht blies. Wenn schon unsere Gehirne zermartert wurden, die Beine ließen uns nicht im Stich. Wer Downtown Manhattan kennt, der kann sich die Distanz vom Astor Place hinunter zum Battery Park sicher vorstellen. Es kam mir vor, als ob wir um unser Leben laufen würden. Die Menschen in den Straßen interessierten uns nicht, eigentlich interessierte uns überhaupt nichts mehr. Wir wußten, daß wir einander nicht helfen konnten, daß niemand uns helfen konnte. Wir waren uns ganz nah und gleichzeitig weit voneinander entfernt. Wäre ich dazu in der Lage gewesen, ich hätte nur noch geweint.

      Am zweiten Tag regnete es. An einen längeren Marsch war nicht zu denken. Wir studierten die Kinoinserate. Welcher Film würde sich wohl für unsere Stimmung am ehesten eignen? Eigentlich keiner. Meiner Depression und seiner Ungewissheit war auch die Neugier zum Opfer gefallen. An der Second Avenue, wenige Minuten von Elias Wohnung entfernt, lief Titanic. Ein Film, der uns in keiner Weise interessierte. Aber jetzt, in dieser Situation, war es für uns die einzige Alternative. Für knapp drei Stunden im dunklen Saal sitzen und sich irgendwelchen filmtechnischen Kapriolen, sentimentalen Gefühlsduseleien und dramaturgischen Unwahrscheinlichkeiten aussetzen – das war im Vergleich zur Nässe und Kälte draußen immer noch die bessere Lösung.

      Nach der Vorführung gingen wir noch was essen. Zu reden gab es nicht viel. Über die Schwächen des Films waren wir uns einig. Was die technischen Aspekte betraf, so war er zweifellos hervorragend gemacht, der Schiffsuntergang spielte sich über weite Strecken glaubwürdig ab. Weniger glaubwürdig waren jedoch die Figuren, die zu sehr an der Oberfläche blieben, trotz ihrer Gefühlsausbrüche wenig Mitgefühl erweckten und auf die Dauer langweilig wurden.

      Das konnte man in einem gewissen Sinn auch von mir sagen. Ich war langweilig und uninteressant für andere geworden. Mit einem Unterschied: Ich befand mich nicht als Passagier auf besagtem Schiff, das einen Eisberg gerammt hatte. Ich selber war das Schiff und im Begriff zu sinken. Hilflos dem einstürzenden Wasser ausgeliefert, unfähig, das einzige Rettungsboot auszusetzen, um wenigstens Elia zu helfen, der sich verzweifelt an die Reling klammerte und keine Chance sah, die ihn bedrohende Ausweisung aktiv abzuwenden. Ich bewunderte, wie er sich trotz seiner Angst gelassen seinem Schicksal stellte. Den darauffolgenden Tag verbrachten wir mit einem letzten Fußmarsch durch Manhattans Straßenschluchten und am späten Nachmittag fuhr uns ein Taxi zur Grand Central Station, von wo ich den Bus zum JFK-Flughafen nahm. Beim Abschied sprachen wir uns gegenseitig Mut zu. Es folgte eine kurze Umarmung, dann stieg ich ein. Der Chauffeur startete den Motor und fuhr ab. Traurig und mit schmerzender Seele blickte ich Elia durchs Fenster nach, wie er winkend und mit einem wehmütigen Lächeln in der Menge verschwand.

      Der Flug über den Atlantik unterschied sich von den vorangegangenen Flügen in keiner Weise. Der Wunsch, die Maschine möge ins Meer stürzen, erfüllte sich auch diesmal nicht. Ich saß wie paralysiert in meinem Sitz, unfähig, mich abzulenken. Dank einer Schlaftablette war ich wenigstens in der Lage, etwas zu dösen. Die Ungewißheit, wie es mit mir weitergehen würde, zermarterte mein Hirn, und die Gewißheit, daß die Reise in bezug auf das Drehbuch nicht das von mir erhoffte Resultat gebracht hatte, ließ die Marter zur Folter werden.

      *

      Dr. K. zeigte sich besorgt, als ich mich zurückmeldete. Ich sagte ihm, daß ich das Medikament in Los Angeles abgesetzt hätte und mich seither nicht schlechter fühlte. Er war der Meinung, daß es auf Grund meines Zustands unverantwortlich wäre, die Therapie ohne Medikation fortzusetzen und verschrieb mir ein neues Antidepressivum. Ich schöpfte ein wenig Zuversicht, hoffte, das neue Medikament würde besser wirken. Das Gegenteil war der Fall. Die letzten Reste meiner Urteils- und Entscheidungsfähigkeit wurden aus Kopf und Seele gespült. Am deutlichsten bekam ich es zu spüren, als ich mit Christa C., die als Scriptdoctor beste Referenzen mitbrachte, einen weiteren Anlauf nahm, das Drehbuch zu überarbeiten.

      Wir hatten den Termin in der ersten Maiwoche schon vor meiner Abreise bestimmt, und in irgendeinem hinteren Winkel meines Kopfes war da die leise Hoffnung, daß nach allen anderen gescheiterten Versuchen mit ihrer Hilfe aus dem Buch doch noch eine brauchbare Drehvorlage werden könnte. Wir saßen einander in meiner Wohnung gegenüber und Christa analysierte die Schwachstellen der Geschichte, gründlich und genau, ich konnte das Gesagte weitgehend nachvollziehen. Aus ihrer Kritik ergaben sich logische Fragen, die nur ich beantworten konnte. Es war meine Geschichte, es sollte mein Film werden und folglich lag bei mir die Verantwortung, hatte ich zu entscheiden. Spätestens in diesem Moment zeigte sich in aller Deutlichkeit, daß ich auf keine Art und Weise fähig war, auch nur einen einzigen brauchbaren gedanklichen Beitrag zu leisten. Ich fand keinen Zugang mehr zu dem, was ich einst selber geschrieben hatte. Ich war so verunsichert, daß ich kaum einen Satz fertig denken konnte. Es war einfach nichts mehr da. Die Figuren der Geschichte, mit denen ich einige Jahre gewissermaßen gelebt hatte, waren nur noch formlose, seelenlose Wesen. Sie interessierten mich nicht mehr. Wie sollte ich da Neues erfinden können. Christa zeigte sich verständnisvoll und geduldig, aber nach vier Stunden mühseliger Suche nach einer Lösung mußten wir uns beide eingestehen, daß es wohl am besten sei, die Übung ohne Resultat abzubrechen. Doch nein: Es gab ein Resultat, nämlich die Feststellung, daß ich definitiv arbeitsunfähig geworden war. Das heißt, ich war es schon seit langem, aber ich hatte es mir nicht eingestehen wollen. An diesem Montagmorgen im Mai jedoch wurde ich von der unerbittlichen Wahrheit eingeholt. Ich war nicht mehr zu gebrauchen und das bedeutete, es ging unaufhörlich abwärts. Ein Sturz ohne Ende. Wenn doch wenigstens irgendwann der Aufschlag käme, das ist doch so, muß doch so sein, schon rein physikalisch, was fällt, kommt irgendwann irgendwo an, wieso fiel ich dann immer noch weiter?


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