Swiss Paradise. Rolf Lyssy

Swiss Paradise - Rolf Lyssy


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aus der Schieflage herausgeraten. Ich hätte mir doch etwas mehr Sachlichkeit und weniger Häme und Schadenfreude gewünscht. Ich wußte ja selbst, daß nicht alles gelungen war, daß sogar sehr vieles nicht gelungen war. Und das beschäftigte mich mehr als die vernichtenden Urteile in der Presse. Brechts Witwe, Helene Weigel, mit Marti und Mertens eng befreundet, hatte drei Jahre zuvor den Kommentar zu unserem Film Ursula oder das unwerte Leben gesprochen. Für mich war es damals ein beeindruckendes Erlebnis gewesen, die große alte Dame des deutschen Theaters kennenzulernen und mit ihr zusammenzuarbeiten. Meine ambivalenten Gefühle gegenüber Eugen brachte sie nach einer gemeinsamen Vorführung freundschaftlich und einfühlsam auf den kritischen Punkt. Man hat den Eindruck, sagte sie, als wir nach dem Kino den See entlangspazierten, als ob der Film von zwei verschiedenen Autoren gestaltet worden sei. Wie recht sie hatte. Ohne zu wissen, unter welchen Voraussetzungen wir gearbeitet hatten, äußerte sie zweifellos das Richtige und Entscheidende. Marti, der seine früheren Regieambitionen in bezug auf Spielfilme bedauerlicherweise nie verwirklichen konnte, hatte als Produzent meines Spielfilms auch gestalterisch ein gewichtiges Wort mitgeredet. Das wäre kein Problem gewesen, wenn wir in Sachen Humor und Komik dieselbe Wellenlänge gehabt hätten. Wir hatten sie im Bereich der, sagen wir mal, angewandten Ironie auf höherer Ebene, aber auch dort nur eingeschränkt. So kam es zwischen Marti und mir zu Auseinandersetzungen, die mir immer größere Probleme bereiteten, besonders dann, wenn es um die Frage, was wann komisch ist, ging. Reni versuchte in solchen Momenten zu schlichten, was ihr in der vorgegebenen personellen mKonstellation nicht immer gelang. Ich war der Jüngere, stand am Anfang meiner beruflichen Laufbahn, konnte meine Unsicherheit nicht immer unter Kontrolle halten, hatte bei weitem nicht die Bildung und das Wissen meiner beiden Mentoren, wogegen Marti sein eigenes Geld einsetzte und ohne Zweifel ein großes Risiko einging. Er wollte mir helfen, auf seine Art, ich aber empfand es zunehmend als Bevormundung, mehr: als Angriff auf meine persönliche künstlerische Unabhängigkeit. In Tat und Wahrheit war es im übertragenen Sinn eine Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn. Marti war eine Vaterfigur für mich, als linker Intellektueller hatte er mir gesellschaftspolitische Prozesse ins Bewußtsein gebracht und mich mit der entsprechenden Literatur versorgt. Er lehrte mich zu hinterfragen und zu analysieren. In den viereinhalb Jahren unserer Zusammenarbeit ging ich bei ihm und Reni, pointiert ausgedrückt, durch die hohe Schule der kritischen Vernunft, die einerseits der humanistischen Tradition verpflichtet, anderseits in gewissen Bereichen allerdings stark ideologisch gefärbt war. Trotzdem rebellierte mein Bauch gegen Martis väterliche Autorität. Ich hatte mich nicht gegen ihn durchsetzen können, war gestalterische Konzessionen eingegangen, hatte meine ursprünglichen Vorstellungen den seinen angepaßt und mußte mir – neben aller Selbstkritik – am Ende auch eingestehen,daß der Film, für den ich verantwortlich zeichnete, nur zu Teilen von mir war. Helene Weigel hatte das herausgespürt, aber das war nur ein schwacher Trost. Mit Eugen mußte ich leben. Mir blieb nur die Hoffnung, daß, wenn dieser Erstling schon kein Geniestreich war, vielleicht der eine oder andere Film, den ich in meinem Leben noch realisieren wollte, doch meinen Vorstellungen nicht nur zu einigen Prozenten, sondern vollumfänglich entsprechen würde.

      Schon während der Arbeit an Eugen hatte ich die Idee, über die Geschichte von David Frankfurter, dem Attentäter von Davos, ein Drehbuch zu schreiben. Im Herbst 1968 endete meine Zusammenarbeit mit Walter Marti und Reni Mertens in aller Freundschaft und ich begann mit den Recherchen zu diesem Projekt. Es vergingen sechs Jahre, bis ich nach mehreren Anläufen und eher widerwillig vom Begutachtungsausschuß der eidgenössischen Filmkommission das dringend benötigte Förderungsgeld zugesprochen bekam. Die Kommissionsmitglieder trauten mir nicht zu, nach einer Komödie diesen anspruchsvollen dramatischen Stoff adäquat umsetzen zu können. Dank zusätzlicher finanzieller Hilfe von privater Seite konnte ich mit einem jungen hochmotivierten Team den Film Konfrontation zu guter Letzt realisieren. Keine Frage, es war für uns alle die Zeit des Aufbruchs, der Hoffnungen und vielversprechenden Pläne.

      *

      Genau dreißig Jahre später, als Insasse der Psychiatrischen Universitätsklinik, sah ich keine Zukunft mehr. War das die Vorstufe zum Gang ins Jenseits? War ich bereits jeder Hoffnung beraubt? Hoffnung, dieses schwer zu beschreibende Gefühl, die das Fundament bildet für alles, was der Mensch in seinem Leben unternimmt, unabhängig von seiner Herkunft, seiner Bildung, seinem privaten und beruflichen Weg. In der Tat, ohne Hoffnung ist der Mensch prinzipiell nicht lebensfähig. Gibt es ein tieferes Gefühl als Hoffnung? Liebe? Sicher, es braucht beides, um zu überleben. Und wenn die Hoffnungslosigkeit einen liebesunfähig macht? Der Mensch lebt doch im guten wie im bösen, weil er hofft. Geht es ihm gut, so hofft er, daß es so bleibt. Geht es ihm schlecht, so hofft er, daß es ihm bald wieder besser geht. Und wenn er aktiv ist, handelt, entscheidet, Risiken eingeht und damit vorwärtsschreitet, dann immer auf der Basis von Hoffnung. Ernst Bloch hatte es gültig formuliert: »Hoffnung, dieser Erwartungs-Gegenaffekt gegen Angst und Furcht, ist deshalb die menschlichste aller Gemütsbewegungen und nur Menschen zugänglich…« Wenn der Mensch nicht mehr hoffen kann, aus was für Gründen auch immer, dann vegetiert er nur noch. Genau das traf jetzt auf mich zu. Ich vegetierte. Die Hoffnung war mir abhanden gekommen, in mir war nur ein großes schwarzes Loch.

      3

      Das erste Gespräch mit Dr. B. und dessen Assistentin Dr. N. verlief nicht besonders ergiebig. Beide wiederholten nachdrücklich, was ich nicht hören wollte. Ich reagierte verärgert und behauptete, ich würde keinesfalls an einer Depression leiden, ich hätte lediglich ein Problem, wenn auch ein schwerwiegendes: Der Film, den ich in diesem Jahre realisieren wollte, war gestorben. Und jetzt stand ich da, ohne Arbeit und ohne Geld. Meine ganzen Ersparnisse, das Regiehonorar für den Fernsehfilm Ein klarer Fall, den ich im Sommer 1994 inszeniert hatte, eingeschlossen, hatte ich für die Drehbucharbeit zu »Swiss Paradise« eingesetzt und aufgebraucht. Fahrlässig, blauäugig, stur: Ich war in eine schlimme Falle getappt. Wie ein Fischer, der einen dicken Fisch an der Angel hat und im Kampf um die fette Beute keinen Moment daran denkt, daß die Leine reißen und er alles verlieren könnte. Ich hatte eine elementare Regel in den Wind geschlagen, nämlich die, daß es beim Filmemachen zugeht wie in einer großen Lotterie, wo man die Chance zu gewinnen nur steigern kann, wenn man sich rechtzeitig und immer mit mehreren Losen eindeckt. Ich aber war überzeugt gewesen, mit zwei populären und zugkräftigen Hauptdarstellern, Viktor Giacobbo und Walo Lüönd, und einem exotisch-reizvollen Drehort in den USA den alles übertreffenden Joker in der Hand zu haben. Und jetzt saß ich vor den beiden Ärzten und wußte, der vielversprechende Joker hatte sich längst in eine peinliche Niete verwandelt.

      Dr. B. zeigte sich sehr verständnisvoll, wiederholte ungerührt seine Diagnose und fügte an, daß die Depression mit Sicherheit vorbeigehen würde, er könne nur nicht sagen, wann. Mit einigen Wochen müsse ich aber schon rechnen. Ich blieb stumm und in meinem Kopf jagten sich die Gedanken. Einige Wochen? Ich hatte mit einigen Tagen gerechnet, schlimmstenfalls zwei Wochen. Aber mehrere Wochen? Das konnte heißen, vier, fünf, sechs Wochen und mehr. Ein unerträglicher Gedanke. Länger als zwei Wochen in dieser Umgebung, mit den Irren… Das würde ich nicht aushalten, nie, unmöglich.

      Ich starrte schweigend vor mich hin. Dr. N. sprach eindringlich auf mich ein, daß ich mich umgehend melden solle, wenn mich wieder Suizidphantasien bedrängen würden. Ich nickte gedankenverloren und blieb weiterhin stumm. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich hatte zwei Tage zuvor, bei meinem Eintritt, auf ihre Frage, ob ich Selbstmordgedanken hätte, zu Protokoll gegeben, ja, ich dächte daran. Kann man einem das denn verdenken? Dr. B. informierte mich über die Therapieangebote.

      Neben den Gesprächstherapien, die zwei- bis dreimal in der Woche vorgesehen waren, gab es Ergotherapie, Bewegungstherapie, Musiktherapie und Physiotherapie. Die letzte interessierte mich am ehesten, Massage war immer gut. Die anderen Angebote konnten mir jedoch gestohlen bleiben. Speziell die Ergotherapie. Nur schon der Gedanke an irgendwelches Basteln, das ich schon in der Schule gehaßt hatte, rief in mir den blanken Horror hervor. War man hier wirklich der Ansicht, daß sich meine abgrundtiefe Verzweiflung in Luft auflösen würde, wenn ich mit irgendwelchem Werkzeug Karton, Papier oder Holz bearbeitete? Dr. B. schlug vor, daß ich mit der Therapeutin wenigstens reden sollte. Unverbindlich, ohne Zwang, nur um mehr über diese Therapie zu erfahren, mit der man nur die besten Erfahrungen mache. Okay, reden kostete nichts. Ich wußte jetzt schon, daß alle Mühe vergebens sein würde, aber ich wollte der Dame mindestens die Gelegenheit geben, mich über


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