Swiss Paradise. Rolf Lyssy
versprachen anzurufen, und ich hoffte insgeheim, sie würden es nicht tun. Andere nahmen mir das Versprechen ab, mich bei ihnen zu melden, und ich wußte im selben Moment, daß ich ihren Wunsch nicht erfüllen würde. In der Zeit mit der Gipsmaske verkraftete ich darum paradoxerweise eine Begegnung leichter, denn die Unterhaltung drehte sich nur um mein sichtbares Problem, um Unfallhergang und Operation. Gutgemeinte Ratschläge waren unnötig, die Nase würde ja automatisch heilen, es war nur eine Frage der Zeit. Verletzungen am Körper sind sichtbar, greifbar, meßbar und damit erkenn- und behandelbar. Aber eine verletzte Seele? Es gab Momente, da hatte ich den absurden Wunsch, nur noch Körper zu sein, losgelöst von Geist und Seele, die mir eine unerträglich gewordene Realität vermittelten. Losgelöst von dem, was mich beinahe um den Verstand brachte, dem Wahrnehmen einer Umgebung, an der ich nicht teilnehmen konnte. Da war es doch besser, das Denken gleich abzuschalten, die Seele außer Betrieb zu setzen und den Körper seinem Schicksal zu überlassen. Vegetieren ohne Bewußtsein, warum nicht? Das konnte doch nicht schlimmer sein als das, was ich jetzt erlebte. Und mein Gedächtnis? Hätte ich dann überhaupt noch eines? Es ließ mich jetzt schon beinahe vollumfänglich im Stich. Nein, es war absurd, sich Unmögliches herbeizuwünschen. Ich konnte weder aus meiner Haut noch aus meinem Geist und schon gar nicht aus meiner Seele. Ich konnte mich nicht wegdividieren. Ich war ich, und was immer geschehen würde, ich mußte es durchstehen, durchleben. Ich mußte? Ja, ich mußte, solange in mir auch nur der kleinste Funke von Lebenswille glimmte. Die Alternative war, Maßnahmen zur endgültigen Verabschiedung zu treffen und dementsprechend zu handeln. Es war die einzige Alternative. Es gab nur entweder oder, und nichts dazwischen.
Nach zwei Wochen wurde der Gips entfernt. Der Professor hielt mir einen Spiegel vors Gesicht. Erleichtert stellte ich fest, daß sich die ursprüngliche Form meiner Nase eher zum Vorteil verändert hatte. Die angeborene Krümmung des Nasenrückens war nicht mehr so stark. Wenig fehlte, und meine markant jüdisch gebogene Nase hätte einem ebenso markant griechisch-römischen Profil Platz gemacht. Da hatte offensichtlich ein Chirurg bewiesen, daß er sein Handwerk virtuos beherrscht. Ich war froh, keinen bleibenden Schaden davongetragen zu haben.
Wurde dadurch meine Stimmung besser? Schöpfte ich neue Hoffnung? Gab mir dieses Glück im Unglück neuen Auftrieb? Nein. Im Gegenteil, der sogenannte Grübelzwang, wie dieses unaufhörliche Rotieren der Gedanken bezeichnet wird, hatte an Intensität zugenommen. Und es war offensichtlich, daß die Medikamente, die ich bis jetzt bekommen hatte, keine Wirkung zeigten. Ich begann mich zu fragen, ob ich einen Versuch mit dem vielgepriesenen Johanniskraut wagen sollte. Doch Pfingsten kam dazwischen und der unerträgliche Gedanke, alleine in der großen Wohnung das verlängerte Wochenende zu verbringen, hatte mich in die Klinik gebracht.
5
Die Ergotherapeutin gab sich alle Mühe, mich von der Notwendigkeit ihrer Behandlung zu überzeugen. Sie saß mir gegenüber in meinem Zimmer und redete auf mich ein. In Gedanken war ich ganz woanders. Die Eingangsuntersuchung zwei Tage zuvor hatte gezeigt, daß ich gegenüber meinem normalen Gewicht sechs Kilo leichter geworden war. Davon abgesehen war ich nach Auskunft des Klinikarztes offensichtlich gesund. Das Abklopfen der verschiedenen Reflexzonen, das Tasten nach versteckten Schwellungen der Lymphknoten, das Überprüfen von Blutdruck, der Beweglichkeit der Gelenke, Lungenfunktion und die Kontrolle, ob ein Leistenbruch vorhanden sein könnte – in meinem Alter nicht außergewöhnlich – zeigten nichts Anormales. Mein Körper schien intakt zu sein. Aber sechs Kilo weniger, das bedeutete Untergewicht. War ja auch kein Wunder. In den letzten drei Monaten hatte ich nicht mehr richtig gegessen. Zum Kochen hatte ich keine Lust gehabt. Seit Ausbruch der Depression schien ich mein ganzes Kochwissen praktisch vergessen zu haben. War das ein weiteres Zeichen für einen Gedächtnisschaden? Längst konnte ich nur mit Mühe rekonstruieren, was ich am Tag zuvor gemacht hatte. Das waren die Momente, in denen ich mir sagte, ist ja im Grunde egal, bald werde ich mich definitiv verabschieden und dann spielt es keine Rolle mehr, ob meine Erinnerung noch funktioniert oder nicht.
Jedenfalls war es eine Erleichterung, in der Klinik essen zu können. Montags wurde die neue Speisekarte aufgehängt und so konnte man sich über die Mittag- und Abendmenüs der Woche informieren. In einem mannshohen zweitürigen Metallkasten wurden die Tellergerichte von einem kräftigen großgewachsenen Schwarzen mit Rastafrisur jeweils mittags und abends auf die Station gefahren. Die Mahlzeiten waren meistens zufriedenstellend zubereitet, aber die Essenszeiten waren unmöglich. Um halb zwölf wurde das Mittagessen serviert und um halb sechs das Abendessen. Ich war es gewohnt, abends zwischen sieben und acht Uhr zu essen, mittags aß ich nie. Wegen meines Gewichtsproblems beschloß ich, auch am Mittag eine Mahlzeit zu mir zu nehmen. Panikartig stopfte ich jeweils das Essen in mich hinein, als ob es eine Rolle gespielt hätte, wie schwer ich bei meiner Himmelfahrt sein würde. Die Widersprüchlichkeit meines Verhaltens war mir nicht bewußt. Ich aß, um wieder zu Kräften zu kommen, um zu leben, und gleichzeitig war ich unglücklich, gefrustet, gestreßt, verkrampft, durch und durch sauer, wegen der unmöglichen Essenszeiten, manchmal wegen des Essens selbst, wegen der Umgebung, wegen der Tatsache, daß ich hilflos und ohnmächtig meinem Schicksal ausgeliefert war. In den ersten zwei, drei Wochen aß ich in meinem Zimmer, ich wollte niemanden sehen. Später gesellte ich mich im Eßraum zu den anderen Patienten, allerdings ohne viele Worte zu wechseln. Eigentlich keine. Dabei spielten sich pantomimische Szenen ab. Außer einem leisen »En Guete« und den Eßgeräuschen war nichts zu hören. Was mich nicht hinderte, meine Mitpatienten verstohlen zu beobachten. Mir gegenüber saß ein junger Mann, mit eingebundenen Händen und Armen, der seine Finger kaum bewegen und nur mit größter Mühe essen konnte. Er hatte Verbrennungen dritten Grades erlitten und die Haut an seinen Armen und Händen war transplantiert. Die Folge einer Explosion des Außenbordmotors auf einem Boot, hatte man mir gesagt. War das etwa ein mißlungener Suizidversuch gewesen? Vielleicht. Warum sonst war er hier auf dieser Abteilung für Himmelfahrtskandidaten? Ich wagte nicht zu fragen. Sein Gesicht hatte mehrere gravierende Verbrennungsnarben und die Ohrmuscheln waren teilweise plastisch nachmodelliert. Ich dankte insgeheim dem Schicksal für die unsichtbar verheilte Nasenverletzung. Lieber zehn Knochenbrüche als eine Verbrennung dritten Grades. Solche Schmerzen mußten unerträglich sein. Verbrennen würde ich mich nie.
Am Tisch nebenan saßen zwei Frauen, Zimmergenossinnen, und sprachen kein Wort miteinander. Jede stocherte apathisch im Essen herum. Die eine ließ den halbvollen Teller schließlich stehen und stierte wortlos vor sich hin. Ich fragte mich, ob ihr Verhalten wohl auf die Wirkung der Medikamente zurückzuführen war? Würde ich irgendwann auch mal so dahinvegetieren? Bekam sie die gleichen Tabletten wie ich? Und wenn ja, in welcher Dosis? Die Dosis macht das Gift, der Satz von Paracelsus fiel mir ein. War ich etwa schon vergiftet, ohne es zu wissen? Wenn ich im Stationszimmer jeweils morgens und abends meine Tabletten holte, lagen dort in den länglichen vierfach unterteilten (morgens/mittags/abends/nachts) Kunststoffschälchen die Portionen der Patienten. Die einen mußten weniger, andere mehr schlucken als ich. Das ging von einer bis zehn, zum Teil verschiedenen Pillen, pro Person, pro Tag. Ich lag mit vier im guten Mittelfeld. Aber vielleicht waren ja vier auch schon zuviel? Ich hatte mit Dr. B. bereits mehrmals über die Dosis gestritten, aber man kann sich nicht für Chemie entscheiden und dann verlangen, daß die Dosis so niedrig angesetzt wird, daß die Wirkung ausbleibt.
Die Ergotherapeutin erkannte, daß ich mit meinen Gedanken ganz woanders war, was sie aber nicht sonderlich beeindruckte. Sie wiederholte geduldig ihr Angebot. Zweimal in der Woche, morgens anderthalb Stunden zusammen arbeiten, ohne Zwang, ohne Druck, was immer mir zusagen würde. Mit Holz, Papier, Karton oder auch mit Gips, Ton oder Plastilin. Dabei könne ich jederzeit auch über meine Probleme reden. Ich weiß nicht, was sie noch alles hätte aufzählen können: Stoff, Gummi, Polyester, Metall, Wasser, Beton, Schleim oder Scheiße – es interessierte mich keinen Deut. Ich hatte null Bock, irgendwelche Materialien zu bearbeiten. Und zu reden hatte ich auch nichts mit ihr. Über was sollte ich denn reden? Sollte ich ihr meine Filmographie erzählen? Das würde sie mit Sicherheit zu Tode langweilen. Sollte ich ihr über Hoffnungen, Enttäuschungen, Verletzungen, Krisen in meinen früheren Beziehungen berichten? Über die Trennung von meiner Frau? Dann würde sie denken, aha, klassischer Fall einer Depression, deren Ursache offensichtlich in einer narzißtischen Kränkung liegt. Über dieses Thema hatte ich doch längst eingehend mit Dr. K. und dann, nach dem Eintritt in die Klinik, mit Dr. B. und seiner Assistentin Dr. N. gesprochen. Auch eine der Damen vom Pflegepersonal war höchst interessiert gewesen