Swiss Paradise. Rolf Lyssy

Swiss Paradise - Rolf Lyssy


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ich weiß nicht, vielleicht wäre dann schon geschehen, was ich mir immer öfter herbeiwünschte: einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.

      Jetzt lag ich in meinem Zimmer auf dem Bett und starrte zur Decke. Am liebsten hätte ich meinen Koffer wieder gepackt und wäre nach Hause zurückgekehrt, aber ich hatte mich schriftlich verpflichtet, mindestens für zehn Tage hierzubleiben. Ein Austritt war erst nach Absprache mit dem Arzt und der Klinikleitung möglich. So sind die Vorschriften. Ich überlegte, ob ich nicht einen günstigen Zeitpunkt benutzen sollte, um zu verschwinden, zum Beispiel in dem Moment, wenn das Pflegepersonal sich ins Stationszimmer zum Rapport zurückgezogen hatte. Aber dann dachte ich an Kurt G., einen meiner früheren Freunde und auch ein Filmemacher.

      In den siebziger und achtziger Jahren hatte er einige erfolgreiche Kinofilme und in den letzten Jahren ebenso erfolgreiche Fernsehdokumentationen realisiert. Einige Male äußerte er sich in Zeitungsartikeln kritisch und auch mit gerechtfertigten Argumenten über die hiesige Filmförderung. Aus welchen Gründen auch immer, er hatte seit mehreren Jahren verzweifelt gegen Resignation und die Angst vor Arbeitsunfähigkeit gekämpft. Ich traf ihn selten, da er sehr zurückgezogen lebte. Es kam mir so vor, als ob er die Einsamkeit suchte und vielleicht war in dieser Isolation ein tödliches Gift enthalten. Ein Gift, das ihn zerfraß. Wenn ich ihn sah, meistens eine kurze Begegnung auf der Straße, dann fiel mir zunehmend auf, wie er in sich selbst versunken war. Ich dachte, das nächste Mal, wenn er mir begegnet, werde ich ihn gar nicht mehr wahrnehmen. Kurt hatte sich knapp ein Jahr zuvor, während einem schweren Depressionsschub, ebenfalls freiwillig in die Klinik begeben, auf die gleiche Abteilung, wo ich mich jetzt befand. Und dann genau das gemacht, was ich am liebsten auch getan hätte. Wieder abhauen. Er verließ die Klinik am Morgen nach seinem Eintritt und kehrte nach Hause zurück. Tags darauf sprang er vor einen Zug in den Tod. Diese grauenhafte Geschichte ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte nicht den Mut, die Klinik zu verlassen, ich war voller Angst – Todesangst, daß es mir, wenn ich jetzt verschwinden würde, ebenso erginge.

      Kurt war nicht der erste Filmemacher, der sich auf diese Weise von der Welt verabschiedet hatte. Es gab einen weiteren Filmkollegen, der sich neun Monate vorher ebenfalls umgebracht hatte. Mit aufgeschnittenen Pulsadern fand man ihn in seiner Wohnung. Eine äußerst begabte Autorin und Regisseurin, die vor einigen Jahren einen von Kritik und Publikum hochgelobten Film realisiert hatte, war in einem unbewachten Moment aus dem Fenster einer psychiatrischen Klinik gesprungen, in der sie wegen einer schweren Depression behandelt wurde. Mir fiel plötzlich auf, daß Filmemacher besonders suizidgefährdet zu sein scheinen. Ich erinnerte mich an Drehbuchautoren, Regisseure und Kameramänner aus den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren. Mehrere hatte ich persönlich gekannt. Es waren Leute, die die helvetische Filmszene entscheidend mitgeprägt hatten. Einer schoß sich eine Kugel in den Kopf, zwei soffen sich buchstäblich zu Tode, einer vergammelte auf elende Weise in seinem Haus im Tessin, ein anderer erhängte sich in seinem Kleiderschrank. Mir schien, als ob es sich bei diesen Verzweiflungstaten nicht um Ausnahmen, sondern schon eher um die Regel handelte. Und es sah ganz danach aus, wie wenn ich der nächste sein würde. Es gab tatsächlich nichts mehr, woran ich mich halten konnte.

      »Swiss Paradise« war gestorben. Vielleicht, weil ich mich zu eigensinnig in das Projekt verbissen hatte. Ich wollte, über alle Widerstände hinweg, diesen Film realisieren, koste es, was es wolle, und hatte dabei einige Warnsignale sträflich mißachtet. Zum Beispiel die Kritik am Drehbuch, die ich nicht gelten lassen wollte, weil sie auch von Personen geäußert worden war, zu denen ich kein Vertrauen hatte. Entweder weil sie selber als Autor oder Regisseur nie einen Film realisiert hatten, oder weil sie gemessen an den Filmen, deren Drehbücher sie als gut befunden hatten, bewiesen, daß ihre Urteilsfähigkeit, salopp gesagt, nicht über alle Zweifel erhaben war. Seit Beginn meiner Laufbahn als Autor und Regisseur hatten sich aus der Lektüre meiner Drehbücher immer wieder Konflikte ergeben. Meistens mit Mitgliedern eines Gremiums, welches Produktionsgelder sprechen sollte. Die Bilder, die ich im Kopf hatte und die meinen Film prägen würden, waren oft andere als die Bilder, die sich diejenigen machten, die das Drehbuch beurteilten. Damit war der Konflikt, der einem manchmal ganz schön unter die Haut gehen konnte, vorprogrammiert, denn als Außenstehender ein Drehbuch zu bewerten, ist etwas vom Schwierigsten überhaupt. Doch vom Drehbuch hängt weitgehend die Qualität des geplanten Films ab. Aus einem schlechten Drehbuch hat noch niemand einen guten Film realisiert. Aber eben, wer entscheidet und wie entscheidet man, ob ein Drehbuch gut oder schlecht ist? In den großen Filmländern ist es meistens der Produzent. Ob der dann auch recht hat, ist eine andere Frage. Jedenfalls trägt er die Verantwortung und muß für seine Entscheide geradestehen. Aber er kann dies im Gespräch mit dem Autor tun, der damit die Gelegenheit hat, seine mögliche Schwäche – das Niederschreiben einer Geschichte – wettzumachen mit seiner Stärke – der Visualisierung einer Geschichte. Bei uns in der Schweiz hingegen entscheiden Kommissionsmitglieder, die keinen Kontakt zum Autor haben dürfen und sich hinter einem anonymen Gruppenurteil verstecken können. Logischerweise trägt bei diesem System keiner auch nur den Hauch einer Verantwortung. Und somit interessiert es diese sogenannten Experten auch gar nicht, ob sie richtig oder falsch entschieden haben.

      Ich stellte fest, daß die jahrelangen nervenaufreibenden, zeitraubenden, zermürbenden und verletzenden Auseinandersetzungen mit dem schweizerischen Filmszenenfilz, das heißt mit Kommissionen, Fernsehredaktoren, mit all den Leuten, darunter fatalerweise auch Kolleginnen und Kollegen, die das hinterfragungswürdige Filmförderungssystem in Gang hielten, Spuren bei mir hinterlassen hatten. Ich war, und das wurde mir in dieser Deutlichkeit erst jetzt bewußt, schon seit ein paar Jahren immer wieder kraft-, mut- und lustlos gewesen. Abgestellt, im wahrsten Sinn des Wortes. Ganz nahe bei dieser giftigen Würgeschlange genannt Resignation, die zum tödlichen Biß erst dann ansetzt, wenn sie sich, von den Füßen bis hinauf zum Hals, um den ganzen Körper gewunden hat. Ich spürte immer deutlicher, wie sie sich bereits um meine Brust gerollt hatte. Aber ich wollte es nicht wahrhaben, aus Angst nicht, obwohl mein Gang zunehmend schwerer und schleppender geworden war. Wohin nur hatten sich meine großen Hoffnungen aus den siebziger und frühen achtziger Jahren verflüchtigt?

      Die Lust von damals, Filme für ein interessiertes und möglichst großes Publikum zu realisieren, ließ sich mit Nachdenken und Einreden nicht wieder herbeizaubern. Hatte ich die (unaufhaltsame?) Entleerung meiner Batterien zuwenig beachtet? Im Frühjahr 1967 standen sie doch noch unter Hochspannung, vollgeladen mit Träumen, Ideen und Visionen. Der, wie es damals hieß, junge Schweizerfilm hatte sich seine Sporen mit aufsehenerregenden Dokumentarfilmen von Henry Brandt (Quand nous étions petits enfants), Alexander J. Seiler (Siamo italiani), Walter Marti und Reni Mertens (Ursula oder das unwerte Leben), und Alain Tanner (Les apprentis) überzeugend abverdient. Obwohl um eine halbe Generation jünger, fühlte ich mich diesen Filmautoren nahe. Immerhin hatte ich meine Gesellenprüfung bei Marti/Mertens glanzvoll bestanden. Sie hatten mir bei Ursula oder das unwerte Leben die Kameraarbeit anvertraut und mit ihnen zusammen montierte ich die beeindruckende Geschichte der taubblinden Ursula und ihrer Lehrerin Mimi Scheiblauer, der revolutionären Wegbereiterin rhythmischer Pädagogik. Der Film wurde zu einem unerwarteten durchschlagenden Erfolg in den schweizerischen Kinos. Die zeitweise ganz schön unter die Haut gehende Arbeit über fast zwei Jahre hatte sich mehr als gelohnt. Für mich war es ein Lehrstück zur Frage: Gibt es überhaupt unwertes Leben? Ich lernte anhand der Kinder, die ich mit der Kamera beobachtete, die vielen Formen sogenannt körperlicher und geistiger Behinderung kennen und ich verstand bald mal, daß diese seelenvollen Geschöpfe uns ›Nichtbehinderten‹ unaufdringlich, dafür um so eindrücklicher bewußt machen, wo unsere eigenen Unzulänglichkeiten, Widersprüche, eben Behinderungen verborgen liegen.

      In den sechziger Jahren war die Zeit reif gewesen für einen Generationenwechsel im schweizerischen Filmschaffen. Der erfolgreiche alte Schweizerfilm der vierziger und fünfziger Jahre hatte das ›Zeitliche gesegnet‹. In Frankreich war der Ablösungsprozeß schon Ende der fünfziger Jahre durch die jungen Pariser Filmrebellen der Nouvelle Vague in Gang gesetzt worden. Ihre revolutionäre neue Filmsprache zeigte Auswirkungen rund um den Globus. Auch bei uns, obwohl es noch vereinzelte, zum Teil bemühende Versuche gab, an die Tradition früherer Erfolge anzuknüpfen. Das Publikum fand an den aufrührerischen und provozierenden Filmen amerikanischer, englischer, aber auch tschechischer, jugoslawischer und natürlich französischer Provenienz mehr Gefallen. Es war auch die Zeit der Episodenfilme, speziell aus Italien


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