Swiss Paradise. Rolf Lyssy
mit Chemie eingedeckt wurde. Dreimal täglich, morgens, mittags, abends, eine Pille. Ich hatte mich dagegen gewehrt, gab aber schließlich den Widerstand auf. Den wissenschaftlich abgestützten Argumenten der erfahrenen Psychomediziner hatte ich wenig entgegenzusetzen. Sicher hätte ich mich weigern können, die Medikamente zu schlucken, kein Mensch konnte mich dazu zwingen. Aber Unsicherheit und Angst waren zu groß. Was würde mich erwarten, wenn ich die Therapie verweigerte? Eine noch schlimmere Höllenfahrt, an deren Ende die totale Verblödung wartete? Mittlerweile wußte ich, daß auch die Ärzte den einzuschlagenden Weg nicht präzise kannten. Therapie mit Psychopharmaka sei nichts anderes als trial and error, hatte mir Dr. K. wenige Tage zuvor gesagt, als ich mich wieder einmal über die ausbleibende Wirkung der Tabletten beklagte. Die Reihe der ausprobierten Produkte war zwischenzeitlich immer länger geworden: von den ›Notfallpillen‹ Xanax und Stilnox über das gängige Seropram zum allgemein bekannten und beliebten Fluctine bis zu den schweren Geschützen Anafranil, Tolvon und Nefadar.
Dr. B. mahnte mich, meinen inneren Widerstand gegen die Krankheit aufzugeben. Er mache sich große Sorgen, denn ich sei völlig verkrampft und versuche pausenlos, gegen meinen Zustand anzukämpfen, anstatt mich einfach gehenzulassen. Mich gehenlassen! Das hieß doch nichts anderes, als nur noch dasitzen und vor mich hin starren, so, wie ich das bei einigen Patienten auf der Abteilung gesehen hatte. Sie saßen im Korridor, im Gemeinschaftsraum oder auf der Terrasse, kaum ansprechbar, gefangen in sich selbst und in Gedanken, die nur sie verstanden. Wenn überhaupt. Bedauernswerte Kreaturen.
Eine Frau beschäftigte sich stundenlang nur mit ihren Fingernägeln. Immer wieder von neuem begutachtete sie mit Akribie jeden einzelnen Finger, starrte die Nägel beschwörend an, zerrte an den Nagelhäutchen, rieb sie mit einem Tuch sorgfältig ab und wenn sie alle kontrolliert hatte, fing sie wieder von vorne an. Zuerst die linke, dann die rechte Hand. Sie hatte sehr schöne Hände. Mir fiel dabei zu meinem Schrecken auf, daß ich seit einiger Zeit ebenfalls bei jeder sich bietenden Gelegenheit meine Fingernägel begutachtete. Was hatte das zu bedeuten? Gehört wiederholtes Betrachten der Fingernägel zu den Symptomen einer Depression? Es sah ganz so aus, als sei ich nicht mehr Herr über mich. Entglitt ich mir selber? Seit längerem fühlte ich mich zudem völlig hin- und hergerissen zwischen übertriebener Beachtung meines Körpers und totaler Gleichgültigkeit. Das wöchentliche Körpertraining hatte ich aufgegeben. Dafür irritierten mich kleinste Veränderungen, wie offene Stellen der Schleimhaut im Mund oder ein hartnäckiger Fußpilz. Das konnte alles nur eine Folge der Medikamente sein, davon war ich überzeugt. Es sah ganz so aus, als ob mein Körper immer weniger Abwehrstoffe mobilisierte. Hinzu kam eine Veränderung der Sehschärfe. Meine Brille, die ich tagsüber trug, mußte ich von einem Tag auf den andern mit der Brille, die ich üblicherweise nur am Schreibtisch benötigte, austauschen. In meinem Kopf hatte sich offensichtlich nicht nur mein Gehirn, sondern auch die Mechanik meiner Augenfunktionen verschoben. Das würde sich alles wieder einpendeln, wenn ich die Medikamente nicht mehr benötigte, hatte man mir zugesichert. Würde ich die jemals nicht mehr benötigen? Und wann würde das sein?
Dr. N. meinte, ich solle mich einfach entspannen, mir Zeit nehmen. Ich reagierte gereizt und sagte, ich könne doch nicht einfach den ganzen Tag dasitzen und zum Fenster rausschauen. Genau das solle ich tun, erwiderte sie. Schauen Sie zum Fenster hinaus, genießen Sie die Aussicht, einfach so. Genießen? Ich konnte doch schon längst nichts mehr genießen. Was sollte dieser absurde Ratschlag? Der Blick aus meinem Fenster auf die wunderschöne Gartenanlage, die Bäume dahinter, den Hügel mit dem Weideland für ein knappes Dutzend Schafe und, weiter entfernt, auf den See, von dem ein kleiner Teil zwischen den Bäumen zu sehen war, konnte nichts in meiner Seele bewirken. Die Vorstellung, mich dem schwarzen Loch in meinem Kopf auszuliefern, nur noch dazusitzen, gedankenlos, hirnlos, rief eine unbeschreibliche Angst in mir hervor. Ich würde mich an diesen Zustand gewöhnen, davon war ich überzeugt, und nie mehr zurückfinden in die sogenannte Normalität. Ich würde nur noch dahinvegetieren. Nein, das konnte, das wollte ich nicht. Offenbar war noch ein letzter Rest von Wille in mir vorhanden, dagegen anzukämpfen. Nur wogegen? Und Hoffnung? Nein, Hoffnung keine. Leider nicht.
Ich fühlte mich kraftlos, müde und verzweifelt. Dr. B. und Dr. N. verabschiedeten sich. Ich blieb apathisch im Zimmer zurück, ging zum Fenster und blickte hinaus. Eine dicke, ältere Frau schlurfte durch den Garten und reklamierte laut vor sich hin. Sie verschwand aus meinem Blickfeld. Ich konnte ihr nicht folgen, denn dazu hätte ich das Fenster öffnen müssen. Aber der eine Flügel war fest verschlossen und der andere in Kippstellung fixiert. Lebenserhaltende Maßnahmen. Ich war wütend über diese Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit. War ich nicht schon genug Gefangener meiner selbst? Jetzt hatte ich das Gefühl, auch noch Gefangener der Klinik zu sein, obwohl die Zimmertüre nicht abgeschlossen war und ich jederzeit ein- und ausgehen konnte. Wie lange würde ich das wohl noch aushalten? Dieses Abgeschnittensein von allem, ein Ausgestoßener, wertlos, hilflos. Von mir aus hätte man die Verriegelung entfernen können. Doch keinem der Patienten war zu trauen, auch wenn sie sich noch so normal verhielten. Dazu gehörte nun auch ich. Patient Lyssy, Abteilung F2, Besuchszeit von 12.00 Uhr bis 20.00 Uhr täglich, auch am Wochenende. Ich legte mich aufs Bett und starrte zur Decke.
4
Dr. B. hatte mir zugestanden, daß ich die Station tagsüber jederzeit verlassen könne, allerdings mußte ich dem Pflegepersonal mitteilen, wann ich wieder zurücksein würde. Er empfahl mir jedoch, nur nach Hause zu gehen, wenn ich Dringendes zu erledigen hätte. Hatte ich. Das Dringende bestand, außer dem Leeren des Briefkastens, im Abhören des Telephonbeantworters.
Freunde erkundigten sich besorgt nach meinem Befinden. Die einen versprachen wieder anzurufen, die anderen baten um Rückruf. Und genau das machte mir zu schaffen. Seit Beginn der Krise bemühten sich Freunde, jeder auf seine Art, zu helfen, mir Ratschläge zu geben, Trost zuzusprechen, Mut zu machen. Erfolglos. Ich war desensibilisiert für jede Art von Zuspruch, hatte keine Kraft und keinen Willen, um irgendwie zu reagieren. Und das allerschlimmste: Ich realisierte ihre Besorgtheit und manchmal auch ihre tiefe Hilflosigkeit, wenn sie merkten, daß ihre Versuche zu helfen nicht fruchteten. Daraus resultierte ein quälendes Schuldgefühl, das sich vom Kopf bis in die äußersten Nervenenden meiner Glieder ausbreitete. Ich fühlte mich schuldig, weil ich meine Freunde enttäuschte. So sagte mir Verena G., eine enge, langjährige Freundin, nach einem gemeinsamen Abendessen verzweifelt, sie wolle mich wieder so erleben wie früher, und sie meinte damit, lebensfroh, humorvoll, mitfühlend, mitteilsam. Und in ihrer Stimme lag fast auch so etwas wie unterdrückte Wut. Nicht gegen mich gerichtet, sondern gegen das Unfaßbare, das mich eisern umklammert hielt. Ich blieb ihr die Antwort schuldig. Was sollte ich denn sagen? Daß wohl nichts daraus würde? Daß ich nie mehr der sein würde, der ich mal war? Der Schmerz und die Angst, die solche Gedanken in mir auslösten, waren unbeschreiblich. Ich war wie gelähmt. Gelähmt, obwohl ich mich bewegen konnte, gelähmt im Kopf und in der Seele.
Jürg holte mich regelmäßig Sonntagnachmittags zu Hause ab und dann fuhren wir für ein, zwei Stunden in unser Stammcafé im Seefeldquartier. Manchmal war auch Adrian M., ein gemeinsamer Freund, mit dabei. Er hatte mir Dr. B. empfohlen. Ohne sein Drängen wäre ich kaum in die Klinik eingetreten. Das Vertrauen zu einem Freund ist von unschätzbarem Wert. Das spürte ich jetzt, in dieser abgrundtiefen Vertrauenskrise, die ein Teil der Depression war, ganz besonders. Ich war dankbar für das Zusammensein, mir aber gleichzeitig jede Sekunde bewußt, wie weit ich von allem, was mit Normalität, mit Alltag zu tun hatte, und dazu gehörte auch ein entspanntes Gespräch mit Freunden, entfernt war. Nur schon, bis ich mich zu einem Entscheid durchgerungen hatte, was ich zu trinken bestellen sollte: Espresso oder Cappuccino, nein, lieber Tee, ist gesünder, oder doch ein Mineralwasser, ja, ein Mineralwasser, das sprudelt so lebendig, halt, noch einmal nachdenken, vielleicht täten mir Vitamine gut, ein Orangensaft, aber den hatte ich doch schon am Morgen… oder eine heiße Schokolade…? Hätte Jürg nicht einfach kurzentschlossen für uns beide je einen Milchkaffee bestellt, ich wäre in meiner unbeschreiblichen Verunsicherung buchstäblich eingegangen. Er nahm auf meinen Zustand, dessen Tragweite ihm als Psychoanalytiker mehr als geläufig war, keine falsche Rücksicht. Er berichtete unbeschwert von seinem Alltag, wie die Woche verlaufen war, wie er mit seinem neuen Buchmanuskript vorankam. Aber ich konnte nicht mithalten, hatte das Gefühl, das Gedächtnis verloren zu haben. Aus lauter Verlegenheit und Scham stammelte ich dann jeweils irgendwas vor mich hin. Einerseits war ich erleichtert,