Gaias Vermächtnis. Hans-Rudolf Zulliger
Nachhaltigkeit
»Wir sind hier, um Zeugen der Kreation zu sein und sie zu unterstützen.« Annie Dillard
Als ich um 1962 das erste Mal alleine unter den gigantischen Redwood-Bäumen Nordamerikas kampierte, war ich mir sicher, dass meine Vorfahren Waldmenschen gewesen sein mussten. Im Wald, umgeben von stattlichen Bäumen, fühlte ich mich schon in meiner Jugend während der vielen Jahre bei den Pfadfindern und den zahlreichen Teilnahmen an Orientierungsläufen besonders wohl. Vor gut zehn Jahren führte mich eine Reise im Sommer 2008 in den Nordosten der ehemaligen DDR, nach Eberswalde. Nach dem Abendessen, so gegen 21 Uhr, war es noch fast taghell, und ich hatte Lust, die Gegend zu erkunden. Gemütlich schlenderte ich in Richtung Waldgarten, eine Waldforschungsstätte, die von der Holzfachhochschule Eberswalde betreut wurde. Der Pfad war von hohen Bäumen umsäumt, und es reizte mich, den uralten Waldbestand zu erforschen. Mein Gastgeber hatte mich vorher darauf aufmerksam gemacht, dass ich mich, in einem der größten Wälder Europas, nur etwa 10 km von der polnischen Grenze entfernt befand.
Nach etwa einer Viertelstunde erreichte ich eine kleine Lichtung mit kreisförmig angeordneten Gehegen, in denen verschiedene Waldtiere wie Füchse, Dachse, aber auch Eulen und Pfauen zu sehen waren. Nach einem kurzen Halt, um die Tiere zu beobachten, setzte ich meine Wanderung fort, die immer tiefer in den Wald führte. In kleinen Senkungen neben dem Pfad lag Wasser, was auch die lästigen Mücken erklärte. Aufmerksam verfolgte ich Weggabelungen und prägte mir die Formen der Wassertümpel entlang des Weges ein. Als ich zu einer Kreuzung mit drei Wegweisern kam und es einzudunkeln begann, dachte ich an den Rückweg, denn die Ortsnamen auf den Wegweisern waren mir gänzlich unbekannt. Vergebens suchte ich Eberswalde, den Ort, von dem aus ich meine Waldwanderung begonnen hatte. In England, so fiel mir ein, sind an Kreuzungen oft nur drei der vier Richtungen markiert, man sollte ja eigentlich wissen, wo man herkam. Eberswalde musste folglich in der Richtung liegen, aus der ich gekommen war, also kehrte ich um.
Anfangs schien mir der Weg vertraut, doch nach etlichen Abzweigungen wurde ich immer unsicherer. Die »vertrauten« Wege und Wasserlachen sahen alle ähnlich und doch anders aus. Vielleicht hatte ich eine Abzweigung verpasst, ich ging also nochmals ein Stück zurück, doch vergeblich: Ich hatte mich heillos verirrt. Ein unangenehmes Gefühl verriet mir, dass ich Angst hatte, denn ich steckte in ernsten Schwierigkeiten. Kein Mensch wusste, dass ich in diesem Wald war. Man würde mich erst spät am nächsten Tag vermissen. Mein altes Handy lag zu Hause, ich hätte allerdings ohnehin keinen Empfang gehabt. Was sollte ich tun? Ich beschloss, meinen Standort und meine Laufrichtung in periodischen Abständen mit Astholzpfeilen zu markieren.
Inzwischen war es fast dunkel, und ich irrte immer noch ohne irgendwelche Anzeichen von Zivilisation oder Wegweisern durch den düsteren Wald. Plötzlich ein Schrei, kurz darauf ertönte ein zweiter; ein Pfau! Ermutigt eilte ich in die Richtung des Rufs und war bald bei den Käfigen des kleinen Zoos angelangt. Ich bedankte mich beim Pfau für seine Hilfe, der unbeeindruckt im Käfig umherstolzierte. Schließlich fand ich den Weg zurück, allerdings nicht ohne einige weitere Umwege. Wie konnte ich nur so unbedacht und fahrlässig handeln? War es Überheblichkeit und Arroganz, da ich annahm, dass mir im Wald nichts passieren könnte? Oder war es Gedankenlosigkeit? Sicher war nur, dass ein Pfau mich gerettet hatte.
Rückblickend erkenne ich Gemeinsamkeiten im Umgang mit Nachhaltigkeit. Viele von uns nehmen an, dass unser Verhalten kaum zu schlimmen Folgen führen könnte oder wir achten schlicht nicht auf die potenziellen Gefahren. Dies passt mit der vermuteten Überheblichkeit gut zusammen. Es ist nicht schwer, sich in unserer komplexen Welt zu »verirren«, denn der Weg zur Nachhaltigkeit erfordert breites Wissen, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, das Richtige zu tun. Häufig sind wir damit jedoch überfordert. Zudem ist es notwendig, dass uns die Natur, wie mich der Pfau, hin und wieder an ihre lebenserhaltende Fähigkeit mahnt.
Wie erfahren wir Nachhaltigkeit?
Nachhaltigkeit wird heute in unzähligen Büchern, Artikeln, im Internet, in sozialen Medien, Programmen, Firmenstrategien, Lehrgängen, Filmen und Stiftungen beschrieben und diskutiert. Alle Worte, auch »Nachhaltigkeit«, sind Symbole die irgendetwas darstellen oder beschreiben. Ein Wort ist jedoch erst dann für die Kommunikation nützlich, wenn es möglichst ähnliche Bilder in den Köpfen der Partner hervorruft.
Wo für den Begriff »Nachhaltigkeit« ein tieferes Verständnis fehlt, ist er je nach Weltsicht positiv oder negativ besetzt, zudem ist er abstrakt und vielschichtig. In vielen Teilen der globalen Bevölkerung ist er unbekannt und Assoziationen mit positiv besetzten Ausdrücken fehlen. Häufig wird darunter Verzicht verstanden, oder man verbindet den Ausdruck mit einer utopischen Forderung. Im Gegensatz dazu steht zum Beispiel »Innovation« meistens für wünschenswerte Eigenschaften. In den letzten Dekaden ist im Verständnis von Nachhaltigkeit allerdings ein Wandel eingetreten, und man hat den Begriff zunehmend auch positiv gedeutet. Dies lässt sich zum Beispiel den Geschäftsberichten vieler Firmen entnehmen, die zusätzlich »Nachhaltigkeitsberichte« publizieren. Man tut etwas Gutes und redet darüber.
Eine Motivation für nachhaltiges Wirtschaften kann die Steigerung des Aktienkurses sein. Der Zusammenhang zwischen nachhaltigem Management und dem Aktienkurs war Ende der 1980er-Jahre noch nicht genügend gut erforscht, um eine eindeutige Kausalität nachzuweisen. Es konnte durchaus sein, dass Manager, die eine Firma nachhaltig führten, im Durchschnitt einfach bessere Manager waren als die anderen und dass das gute Resultat nur wenig mit der Nachhaltigkeit des Wirtschaftens zu tun hatte. Aufgrund meiner Beobachtung mancher Firmen, die im Dow Jones Sustainability-Index (DJSI) seit 1999 aufgeführt worden sind, war ich jedoch der Ansicht, dass dies vielfach tatsächlich der Fall war, wenigstens über einen kürzeren Zeithorizont gesehen. Dieser Index wählt aus den 2500 Firmen des ganzen Dow Jones Weltindex diejenigen Firmen mit einer guten Nachhaltigkeitsleistung aus. Heute ist erwiesen, dass Aktien anerkannt nachhaltig geführter Unternehmen im Durchschnitt langfristig besser abschneiden. Eine weitere Motivation kann das Einsparen von Ressourcen sein. Dies kann ökonomisch und/oder ökologisch sinnvoll sein. Die Erfahrung zeigt, dass diese Einsparungen in den meisten Fällen ökonomisch begründet werden müssen und das ökologische Denken nur den Anstoß dazu gab.
Meines Erachtens gibt es »die« Nachhaltigkeit nicht. Es sind vielmehr Prozesse, Bestrebungen und Verhaltensweisen, die die Welt nachhaltiger gestalten. Es gibt auch keinen idealen Endzustand, denn die Entwicklungsgeschichte der Erde zeigt, dass sie sich immer wieder in sich verändernden, wandelnden Umständen befindet. Meine Versuche, Nachhaltigkeit in meinen vielen Vorträgen zu erklären, lösten wenig Begeisterung aus. Aus diesen Erfahrungen habe ich gelernt, den Begriff Nachhaltigkeit vor einem breiten Publikum möglichst zu vermeiden. Ich spreche von guter Gesundheit, intakter oder robuster Natur, Erhaltung der Artenvielfalt und des Ökosystems, Freude an der Natur oder auch von Lebensqualität. Dabei sind Familie und Freundschaften, gute Beziehungen zu anderen Menschen und eine faire Wirtschaft mit Chancengleichheit wichtige Voraussetzungen.
An einem heißen Junitag 2015 mähte ich zusammen mit einem Hilfsgärtner meine Blumenwiese. Der junge, kräftige Mann schwang fachmännisch meine alte, frisch geschärfte Sense, die fast lautlos durch das hohe Gras glitt. Ich hatte ihn angeheuert, weil ich die ohrenbetäubend lauten, stinkenden und mit Zweitaktmotoren angetriebenen, rotierenden Rasentrimmer als schädlich für die Umwelt betrachte. Sie wirbeln unnötig Staub auf, verpesten die Luft und töten Käfer und andere Kleintiere, und Zeit gewinnt man mit diesen Dreckschleudern auch nicht. Während der fleißige Mann mähte, legte ich das Gras mit allen Kräutern und Blumen an der Sonne zum Trocknen aus, damit die Samen sich lösen und auf den Boden fallen konnten – eine jahrtausendealte Methode, um Natur zu erhalten und sich entwickeln zu lassen. Jedes Frühjahr erfreue ich mich erneut an der Farbenpracht dieser Wiese; zahlreiche Schmetterlinge, Grillen, Vögel und viele Insekten finden dort ihre Nahrung und halten Schädlinge in Schach.
Inzwischen stieg die Temperatur auf etwa dreißig Grad. Wir unterbrachen die Arbeit und erholten uns bei einem kühlen, alkoholfreien Bier. Seit ich an diesem Buch arbeite, frage ich meine Gegenüber gelegentlich, was sie von Nachhaltigkeit halten. Dieser Moment schien mir dafür geeignet: »Was halten Sie von Nachhaltigkeit?« Der Gärtner sah mich fragend an und gestand: »Ich weiß nicht viel davon, finde aber, dass man alles etwas übertreibt.« Nach einer kurzen Pause fügte