Gaias Vermächtnis. Hans-Rudolf Zulliger
Abfall erzeugt. Wir können die damit verursachten Schäden inzwischen dank neuen Technologien zwar mindern, aber im besten Falle können technische Entwicklungen Schädliches reduzieren oder in wenigen Fällen Schäden beheben. Das erste Gesetz von Nachhaltigkeit sollte demnach lauten, Schädliches zu unterlassen und im Zweifelsfalle gar nichts zu tun.
Der englische Begriff LOHAS, ebenfalls kaum verbreitet, gehört zu den jüngeren Definitionen der Nachhaltigkeit. LOHAS ist das Akronym für Lifestyles of Health and Sustainability. Es ist der Lebensstil von gesundheitsbewussten Menschen, die realisiert haben, dass Nachhaltigkeit die Grundlage von guter Gesundheit ist und das Wohlbefinden anhebt. Sicher ist diese Erkenntnis richtig, doch ist sie primär eigennützig und für eine Nachhaltigkeit für den ganzen Planeten nicht ausreichend.
Da die Gaia-Formel (basierend auf der gleichnamigen Hypothese) – Mitte der 1960er-Jahre von der Mikrobiologin Lynn Margulis und dem Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock postuliert und erstmals veröffentlicht – für viele vielleicht nicht so geläufig ist, möchte ich sie näher erläutern.3 Namenspatin ist die griechische Erdgöttin Gaia, eine Muttergottheit, die alles Lebende hegt und pflegt. Ihr werden mystische Fähigkeiten zugeschrieben, da sie aus dem frühen Chaos auf der Erde Ordnung geschaffen hat. Die Gaia-Hypothese beruht auf der Annahme, dass durch Selbstorganisation und enges Zusammenwirken von Lebewesen mit der Atmosphäre, dem Wasser und der Erde Vorgänge entstehen, die weder rein geologischer noch chemischer, noch biochemischer Natur sind. Margulis und Lovelock nannten sie »geophysiologische« Prozesse, denn sie sind sowohl von den klimatischen und lebenserhaltenden Bedingungen als auch von den Lebewesen selbst abhängig. Von Letzteren wurde unsere Atmosphäre maßgeblich mitgestaltet. Der Planet Erde wird als eine Art Lebensform verstanden – als sei er ein Organismus. Was sich fast banal anhört, hat jedoch revolutionäre Konsequenzen: Alles ist mit allem verbunden, jeder Teil ist von jedem anderen abhängig. Die Erde besteht somit nicht nur aus Einzelteilen, sondern sie ist ein Ganzes. Wir sind eine Welt. Wenn wir diese Weisheit wirklich verstehen würden, gäbe es weder Umweltzerstörung noch Diskriminierung und auch keine Kriege. Die Tragödie ist jedoch, dass diese Aussage im Grunde altes Menschheitswissen ist, das wir über Jahrhunderte ignoriert haben. Es stammt aus der östlichen Weisheitslehre, dem Taoismus und dem Buddhismus (»Pratitya Samudpada«). Margulis und Lovelock sowie weitere Forscher legten erstmals wissenschaftliche Belege dieser mystischen Erkenntnis vor.
Spannende Reise in die Welt der Nachhaltigkeit
1992 besuchte meine Frau einen berufsbegleitenden 12-monatigen Kurs des WWF über Umweltberatung.4 Sie brachte viel grundsätzliches, aber auch pragmatisches Wissen mit; kombiniert mit meiner Erfahrung in der Wirtschaft und meinen Kenntnissen von physikalischen Grundlagen führten wir angeregte Gespräche und ließen diese Themen in unseren Diskussionsgruppen einfließen, und wir setzten unsere Kenntnisse sukzessive in unserem eigenen Haushalt um. Mit meiner Hilfe richtete meine Frau einen Küchenabfallkompost ein, der uns bis heute zweimal jährlich mit hochwertigem Humus versorgt. Sie richtete ihr Augenmerk zudem auf den Inhalt von Reinigungsmitteln und kaufte vermehrt Bioprodukte ein. Inspiriert von ihren Erfahrungen begann auch ich mit der systematischen Umsetzung dieser Prinzipien in der Geschäftswelt.
Eines Tages stand vor dem Hauptgebäude unseres Unternehmens ein Fahrzeug einer Firma, die unsere Toiletten bakterienfrei halten sollte. Dieser Service kostete uns CHF 50 000 pro Jahr. Ich fragte meine Frau, ob denn das wirklich notwendig sei und ob diese Produkte biologisch abbaubar waren. Ihre Recherche überzeugte mich, dass diese Reinigung die Hygiene kaum verbesserte und die bakteriell aktiven Stoffe in dem Produkt erst nach mehreren Monaten abgebaut wurden. Der Gebäudeverantwortliche sträubte sich jedoch gegen die Kündigung dieses Unterhaltsservice mit dem Argument, dass dann der unangenehme Toilettengeruch die Benutzer verärgern würden. Er war aber mit meinem Vorschlag einverstanden, in einem Testlauf auf der Direktionsetage diese Desinfektions- und Duftmittel abzuschaffen. Keinerlei Beschwerden trafen ein, und wir konnten den Service ohne Bedenken kündigen. Stattdessen wiesen wir die internen Reinigungskräfte an, die Toilettenbrille, den Reinigungsbesen, die Spülarmatur, die Wasserhähne und die Türfallen jedes Mal besonders sorgfältig mit einem milden biologisch abbaubarem Mittel zu reinigen.
Mit Dutzenden kleineren und größeren Maßnahmen gestalteten wir unser Leben sukzessive ökologischer. Zugleich setzten wir unsere Reise in das faszinierende Neuland von Nachhaltigkeit auch auf theoretischer Ebene fort.
Allgemeine Prinzipien der Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit soll verhindern, dass die systematische Zerstörung unserer Lebensgrundlage durch uns Menschen ungehindert fortschreitet. Nachhaltiges Verhalten basiert, gemäß dem Kurs meiner Frau, auf folgenden Prinzipien:
Das lebensspendende Ökosystem soll nicht zerstört werden.
Es gibt keinen Abfall, denn alles geht irgendwo hin. Alle Stoffkreisläufe müssen geschlossen werden, das heißt, am Ende des Lebenszyklus eines Produktes oder eines Prozesses müssen die Stoffe wiederverwendet werden können.
Wenn wir die Risiken unseres Tuns nicht abschätzen können, sollten wir dieses unterlassen (das Vorsorgeprinzip).
Die Konsequenzen eines Verstoßes gegen diese Regeln können das Überleben von uns Menschen als Spezies bedrohen. Unser maßloser Verbrauch von Pestiziden, der Verlust von Humus durch industrielle Landwirtschaft, Ausstoß von CO2, aber auch Diskriminierung, Machtansprüche und Geldgier gefährden unsere Zukunft. Wir müssen mit schwierigen und lebensfeindlichen Umständen wie Hungersnöten, Krankheiten und Kriegen um knappe Ressourcen rechnen. Unsere Vernunft spricht folglich für nachhaltiges Handeln, da dieser Weg längerfristig bessere Lebensqualität verspricht. Die Frage stellt sich jedoch: Weshalb leben wir nicht nach den Nachhaltigkeitsprinzipien und wie können wir die Menschen dazu bringen, diesen Pfad einzuschlagen? In solchen Fragen ist es immer nützlich, zuerst sein eigenes Verhalten kritisch zu betrachten. Wie führe ich einen nachhaltigen Haushalt, eine Firma und wie vernetzte ich mich mit anderen Gleichgesinnten? Wie bringe ich meine Haltung in das politische System ein? [Abb. 2]
1980 gründeten einige Freunde und ich in unserem damaligen Wohnort Meilen bei Zürich eine Energiekommission, um der Gemeinde und den Bürgern Entscheidungsgrundlagen für gebäudetechnische Verbesserungen zu bieten. Wir empfahlen verbesserte Isolation der Gebäudehülle, effizientere Heizsysteme, richtiges Lüften der Wohnungen. In jenen Jahren waren diese Vorschläge für viele noch neu und die damit erreichbaren Ersparnisse beträchtlich. In unserem Wohnhaus konnten wir mit bescheidenen Kosten den Ölverbrauch um 30% senken. Heute gibt es im Bauamt Meilen eine Energieberatungsstelle.
Etwa zur gleichen Zeit wurde ich vom Amt für Konjunkturfragen in die Kommission für Innovation, später bekannt als die Kommission für Technologie und Innovation, die KTI, gewählt. Durch meinen Interessenschwerpunkt in Energiefragen wurde ich 1997–2003 zum Präsident der Commission fédérale pour la recherche énergétique (CORE) berufen. In verschiedenen professionellen Verbänden hatte ich zudem genügend Gelegenheit, meine Nachhaltigkeitsanliegen einzubringen. Als Mitglied der Geschäftsleitung von Mettler und später als Geschäftsleiter und Mitinhaber der Firma Gretag Imaging war mein Einfluss, aber auch meine Verantwortung noch größer. Allmählich reifte mein Verständnis für die Möglichkeiten von konkreten Maßnahmen zu strategischen Zielen, die ich schließlich auch in unserer Firma umsetzen konnte.
1993 führte ich in unserem Unternehmen Nachhaltigkeitsprozesse ein.5 Gretag Imaging war damals ein führender Hersteller von Geräten und Systemen für fotografische Bildverarbeitung. Unsere sogenannten Minilabors für den Einstunden-Fotoservice waren eines der erfolgreichsten Produkte auf dem Markt. Eines der Hauptmotive für dieses Programm war, die Firmenabläufe effizienter zu gestalten, da der Ertrag der Firma ungenügend war. Zwischen 1993 und 1997 führte die Firma das sogenannte Prozess-Management ein, dessen Ziele in Abb. 7 aufgeführt sind. Die Umsetzung dieser Ziele basierte auf dem Qualitätssystem ISO 9001, in dem alle wichtigen Geschäftsprozesse dokumentiert werden mussten. Zudem war ich davon überzeugt,